Der Zug

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lietzensee

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Der Zug​

Nach dem Drängen und Stoßen sinke ich erschöpft in meinen Sitz. Er ist verdreckt, aber das ist egal. Ich habe es in den Zug geschafft. Langsam nehmen wir Fahrt auf. Der Bahnsteig scheint sich zu bewegen und die Zäune bleiben zurück, an denen die Menschen noch rütteln. Ich sehe durchs Fenster, dass die Sonne tief im Westen steht. Der Himmel wechselt die Farbe.
Wie beruhigend es ist, unter sich den Schlag der Schienen zu spüren. Er ist vertraut und gibt das Gefühl, voranzukommen. Ich versuche, mich zu entspannen. Der Waggon ist still, obwohl die Menschen sogar im Gang sitzen. Neben mir sitzt ein Kind auf dem Schoß seiner Mutter. Die Mutter hat ihre Augen geschlossen und das Kind blickt zu mir. Seine Augen sind groß und dunkel. Während wir uns anschauen, erinnere ich mich an die eigene Kindheit, das Staunen und Unheimliche, das in so einer Fahrt stecken muss.
„Will jemand etwas aus dem Bordbistro?“, ruft eine Männerstimme ins in den Waggon. Niemand lacht. Ich sitze und drücke meinen Koffer fest an mich. Juliane war nicht da gewesen, als ich an ihre Tür klopfte. Ich klopfte lange und kräftig. Mein Klopfen löste Farbsplitter vom Türblatt. Aber Juliane war nicht da gewesen. Das war eine knappe Stunde vor der Abfahrt und so weit vom Bahnhof entfernt, dass ich rennen musste, um den Zug noch zu erreichen. Zwischen Tür und Schwelle sah ich einen Spalt. Durch den schob ich ihre Fahrkarte hindurch. Die Fahrkarte hatte kein Datum, könnte also auch für die nächsten Züge verwendet werden. Ich blicke durch das Wagenfenster. Niemand weiß aber, ob es nächste Züge noch geben wird.
Der Zug fährt langsamer. Vor der untergehenden Sonne zeichnen sich die Umrisse von Häusern ab. Hinter diesen Häusern erheben sich plötzlich gewaltige Rücken. Sie setzten sich mechanisch in Bewegung und ich schlage mit der Hand auf die Sitzlehne, um den Blick des Kindes vom Fenster abzulenken. Ich bin so erleichtert, in diesem Zug zu sitzen, voranzukommen. Ich bin froh, zu fliehen. Das Chaos auf dem Bahnhof, der Gestank im Abteil, alles egal. Jedes Quietschen der Räder füllte mein Herz mit Hoffnung.
Kurz schließe ich meine Augen. Als ich wieder erwache, ist es vor dem Fenster dunkel. Wir sind an einem Bahnhof zum Stehen gekommen, aber der Bahnsteig ist leer. Nur ein Schaffner rennt mit einem Rucksack über die Gleise. Gegenüber fährt ein Zug aus der Gegenrichtung ein. Was soll das? Dieses Chaos fängt an, mich wütend zu machen. Nun steht unser Wagon einem anderen gegenüber, der in die falsche Richtung zeigt. Dort drüben haben sie nur Notbeleuchtung. Aber die Gesichter der Passagiere kann ich gut erkennen. Wir blicken uns durch zwei Scheiben an. Eine junge Frau starrt zu uns herüber. Das Kind neben mir stößt einen Schrei aus und plötzlich verstehe auch ich. Im Zug gegenüber haben sie Angst. Nicht davor, wo sie hinfahren und ich herkomme, sondern davor, wo sie herkommen und ich hinfahre.
 

petrasmiles

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Spooky! Aber glücklicherweise nicht 'Horror' oder 'Psycho' - die Texte dieser Rubrik lese ich eigentlich nicht. Meist merkt man es nach den ersten Zeilen und kann noch rechtzeitig das Weite suchen ;-)
Aber Dein Text führt das Abgründige mit feiner Klinge.
Gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

lietzensee

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Hallo Petra,
vielen Dank für deine Antwort und schön, dass ich in diese Rubrik locken konnte. Die feine Klinge ist ein großes Kompliment für mich! Es gibt viele Wege, Angst zu vermitteln. Für die deutsche Angst ist Horror ja auch nur eine von vielen englischen Übersetzungen.

Viele Grüße
lietzensee
 

WackyWorld

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Das langsame Scharfstellen des anfangs Weichgezeichneten, sehr atmosphärisch. Ich bin ein Gefühlsleser. Bei Humor muss ich lachen, bei Psycho / Horror / Grusel gibt es mehrere Gefühlsvarianten. Das Splatterig-Brutale mag ich nicht, das wohlig-Gruselige (alte Herrenhäuser mit Geistern) bleibt nie im Gedächtnis hängen, das Beklemmende dagegen schon. Genau das bringst du rüber. Deshalb von mir volle Punktzahl. Nebenbei mag ich deinen Stil. Du bist - wie ich - ein "Telegrammer". Kurze Sätze, einfach, nicht mit protzigen Schachtelsätzen, die Intellektualität zur Schau stellen sollen, nein, Klartext. Gefällt mir sehr gut. Und der letzte Satz ist ne Wucht. Pointierter geht es kaum.
 



 
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