Dialektische Erläuterungen

Voland

Mitglied
Ich denke, ich bin nun doch einigen hier gewisse Erläuterungen schuldig.

Meine Kindheit habe ich in Angeln verbracht. Den Unbewanderteren unter meinen Lesern sei nur soviel verraten. Angeln zählte bis 1864 zum Dänischen Königreich und hat sich bis heute jütländischen Feinsinn und skandinavische Professionalität bewahrt.

Nach Ansicht des holsteinischen Heimatdichters Hadubrandt von Bramstedt zählt Angeln zu einer der lieblichsten und geistreichsten Gegenden des Deutschen Reiches. Er hat Angeln sogar in einem seiner Werke sehr trefflich als die „Toscana des Nordens“ besungen.

Auch nachdem die preussische Soldateska dieses Kleinod nordischer Sittlichkeit dem Deutschen Reich einverleibt hatte, hielten die Bewohner Angelns an ihren edlen Gewohnheiten fest.

So betört die exquisite anglitische Küche noch heute den Gaumen des Fremden.
Nicht nur der Adel, dem ich entspross, hält auf Etikette, auch das einfache Landvolk und der sturmerprobte Fischer zeigen feinkonturiertes Aussehen und Aussprache.

In meinem Vaterhaus waren der Benimmpapst Kampz-Borken und die Schönbrunner Kaffeetafel keine leeren Begriffe, sondern gelebte Wirklichkeit.
Ein weichgekochtes Ei mit dem Messer zu verletzen, war und ist bis heute ein unsittlicher Akt und wer es wagt beim obligatorischen Handkuss die männlichen Lippen den weiblichen Fingerknöchelchen in ganz unritterlicher Manier auf mehr als auf Streichholzlänge zu nähern, galt und gilt in unseren Breiten als Unhold.

Doch genug davon.

Ein hartes Schicksal verschlug mich im zarten Alter von 12 Jahren weg von dieser Kulturlandschaft hinaus in eine der rauhesten Gegenden des deutschen Sprachraums – nach Schwaben.

Auf einem Stuttgarter Gymnasium lernte ich die ganze Brutalität kennen, zu der die deutsche Zunge imstande ist.

In Schwaben wurde mir klar, warum der Franzose für uns Deutsche den Begriff „boches“ erfunden hat und warum meinem Vater bei unserem ersten Frankreichurlaub in Burgund die Reifen zerstochen wurden.

Mein erster Schultag in der Quarta, - in der „schwäbischen Antarktis“, wie ich Stuttgart später nannte -, ist mir noch heute mit all seinen widerlichen Einzelheiten in Erinnerung. Es war ein Montag. Ein buckliger Hüne riss die Tür auf und - es fällt mir nicht leicht, aber ich muss es so ausdrücken - t r a m p e l t e grusslos in den Raum, knallte die Tür hinter sich zu und meinte in grunzendem Tonfall, während er sich ächzend auf den Stuhl hinter dem Pult fallen liess:
„Wenn i euch so säh, no goht mers Mässer in dr Dasch uff“.
(Wenn ich euch so sehe, dann geht mir das Messer in der Hosentasche auf).

So etwas war ich nicht gewöhnt.

Ich hielt unseren Mathematiklehrer, - denn um niemand anderen handelte es sich - , zunächst für einen Ausländer oder den Hausmeister, beziehungsweise für beides. Mitte der sechziger Jahre tummelte sich ja bereits viel buntes Volk aus fernen Ländern auf den Baustellen und in der Gastronomie. Auch mir war das nicht entgangen. Ich tippte daher bei meinem neuen Mathematiklehrer, nachdem ich seine schwäbischen Urlaute vernommen hatte, aufgrund der Flut von Nasalen und Zischlauten, die sich vor mir ergossen, auf einen Agronomen aus der Provence oder vom Balkan.

Eigentlich erwartete ich, dass dieser etwas ungeschliffene Hausmeister nun die Bestellung für die Pausenbrötchen und die Getränke aufnehmen würde, - schon kramte ich den Füller aus meinem Federmäppchen -, da musste ich mit Schrecken feststellen, dass es sich bei dem vermeintlichen Pedellen um ein Mitglied der lehrenden Zunft handelte, denn der Hüne war aufgestanden und schrieb nun mit seiner behaarten Rechten zwei Bruchrechnungen an die Tafel.

Als ihm beim Aufmalen der dritten Rechnung, die Kreide an der Tafel auseinanderbrach, kickte er das zu Boden gefallene Stück mit den Worten :
„Dieser Bröggelesdregg isch doch ein Riiiiesensch...“
längs durch den Gang zwischen unsere Tischreihen.

Sein letztes Wort war nicht misszuverstehen gewesen und ich war entsetzt. Dennoch erhob ich mich, - da kein anderer meiner Mitschüler Anstalten machte -, von meinem Platz, las das unglückliche Kreidestück auf und brachte es zu meinem Lehrer nach vorn.

Der schaute mich völlig verdutzt an und meinte nach einer mir endlos vorkommenden Weile:
„Bisch du der Reigschmeggte?“
(Bist du der Neue/Fremde?)

Ich verstand nichts und schwieg ratlos.

„Kerle, kosch du koi Doitsch oder hasch du koi Gosch zum Schwätze?“ brummte der Pädagoge.
(Junge, kannst du kein Deutsch oder hast du keinen Mund zum Reden?)

Als ich ihn weiterhin ratlos und fast schon verzweifelt ansah, gab er auf.
„Komm setz di wieder no“.
Die Geste mit der Hand verriet, dass er mich bat, mich wieder hinzusetzen.

Erleichtert kam ich seiner Aufforderung nach.
Er sah mich noch einmal aus der Ferne voller Mitleid an und meinte schliesslich:
„Armes Doitschland, und mit so oim solled mir dr nächschde Kriag gwinna“.
(Armes Deutschland und mit so jemandem sollen wir den nächsten Krieg gewinnen).

Auch diesen letzten Kommentar verstand ich nicht.

Doch mit dem Lauf der Zeit merkte ich, dass diese Bemerkung sein Standardsatz war, wenn einer seiner Schüler ihn in irgendeiner Hinsicht enttäuschte.

Als ich am Abend dieses meines ersten Schultags in feindlicher Umwelt zu meiner Tante nach Hause zurückkehrte, fühlte ich mich einsam wie nie zuvor. Dennoch bewahrte ich Haltung. Erst als ich zu Bett gegangen war, weinte ich lautlos drei bittere Tränen in mein Kissen.

Hätte ich gewusst, was noch alles auf mich zukommen sollte, wären es wohl schon in dieser ersten Nacht wahre Sturzbäche gewesen.
 

Alessa

Mitglied
Herrlich, der Text liest sich wunderbar.


Gruß
Alessandra - die noch immer hinter vorgehaltener Hand lächelt -
 

unbekannt2581

Verbotenes Mitglied
Jeder Badenser wird Dir für diesen Text die Hand küssen wollen.
Du hast vergessen den Kulturschock der "Hocketse" für einen karnevalgewohnten Rheinländer zu erwähnen.
Allerdings überlege ich mir gerade mit grossem Vergnügen, was wohl Herr Rommel oder gar Thaddäus Troll, alias Hans Mayer dazu zu sagen hätten. Mein Schwäbisch ist zu schlecht geworden, als dass ich es versuchen könnte.
Von Hesse, Uhland, Schiller wollen wir ja ga nicht sprechen.
Gerade beim letzteren "outet" ihn so mancher "scheinbar" unreine Reim als Schwaben.

Köstlich geschrieben.

Liebe Grüsse

Mike
 

Antaris

Mitglied
Horror

Hallo Du vom Schicksal Gebeutelter,

ins Schwabenland hat es Dich also verschlagen! Jetzt verstehe ich Deine Einstellung zu Dialekten *fg* und ich glaube Dir jedes Wort hier in diesem Thread. Schön, dass Du Deinen Humor behalten hast - und nun in Lupanien bist!

LG

Antaris
 



 
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