Die Alltagsphilosophin (Gedanken, die einen halt so beschäftigen)

Nathalee

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Die Alltagsphilosophin

Butter, Marmelade, Käse, Brot, Tee und Geschirr. Das sah sie vor sich. Jedenfalls würde sie es vor sich sehen, wenn sie ihre Augen aufhalten könnte. Aber wenn man nur knappe sechs Stunden geschlafen hatte, konnte diese einfache Funktion des Körpers schon Probleme bereiten. Jetzt bemerkte sie, dass sie noch etwas anderes sah: vögelnde Fliegen.
Sie wusste nicht, was ihr das sagen sollte, sie wusste auch nicht, warum sie diese Insekten so registrierte, denn eigentlich könnten sie ihr ja egal sein, aber sie nahm sie einfach war. Dort, direkt neben dem Brotkorb gingen diese facettenäugigen Viecher ihrer Beschäftigung nach, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Dannach trennten sie sich, um ein paar Augenblicke später wieder aufeinander zu treffen.

Im Radio brachten sie gerade einen Bericht über den Kosovo-Krieg, wieder hatten sich die Natobomber verflogen. Unwillkürlich musste sie grinsen.
Die Menschen zerstören sich selbst, während die Fliegen weiterhin für ihre Arterhaltung sorgten. Na, die hatten anscheinend keine weiteren Sorgen.

Sie schlang ihr Frühstück hinunter, schnappte sich ihre Schultasche und zog ihr Fahrrad aus dem Chaos der Garage, in der Hoffnung, keine Lackschäden am Auto ihres Vaters zu verursachen.
Sie schaffte es und trat seufzend in die Pedale. Jetzt ging der ganze Mist von vorne los. Sie hatte überhaupt keine Lust auf Schule, wie eigentlich jeden Tag, aber das zählte nicht. Schon bald fluchte sie: Regen! In dicken Tropfen platschte das Wasser auf ihre Klamotten.

Das musste ja so kommen.
Oder?
Vielleicht nicht.
Vielleicht war es ja Zufall.
Oder gab es doch ein Schicksal? Und wenn es ein Schicksal gab, waren dann auch solche ‚Kleinigkeiten‘ wie die Erscheinungszeiten der Regenschauer darin geregelt? Oder war das dann Zufall? Wurde vom Schicksal auch bestimmt, dass sie morgens am Frühstückstisch sich fortpflanzende Fliegen beobachtete?

Als sie an der Schule ankam, war sie pitschnass. Egal ob Zufall oder Schicksal – es war ekelhaft.

In der ersten Stunde stand Religionsunterricht auf dem Plan. Während die anderen die Bergpredigt lasen, schweiften ihre Gedanken ab. Bergpredigt – Glauben - Jesus – Gott. Gab es überhaupt einen Gott? Wenn ja, worin äußerte er sich? Sie hatte ihn noch nie gesehen oder seine vielzitierte Stimme gehört. Hatte eigentlich schonmal jemand bewiesen, dass er existierte? Wie sind die Menschen denn nur darauf gekommen? Im Prinzip doch nur, weil sie sich einiges nicht erklären konnten. Deswegen brauchten sie einen Urheber, z. B. für Naturkatastrophen oder so. Aber jetzt wurde ja alles wissenschaftlich erklärt.
Sie kam zu dem Schluss, dass dieser Gott nur darin existierte, dass die Menschen an ihn glaubten. Würden sie dass nicht tun, gäbe es ihn gar nicht. Das war ihre Meinung. Aber beweisen konnte sie die auch nicht.

Was konnte man überhaupt beweisen? Winkelsätze? Sie hatten jetzt gerade Mathematik. Winkelsätze konnte man offenbar beweisen. Aber halt! Für diese Beweise gab es auch Vorraussetzungen. Wer hatte die denn bewiesen? Und wie? Wer hatte überhaupt bestimmt, dass eine Strecke eine gerade Linie mit einem Anfangs- und einem Endpunkt ist? Oder was ein Punkt ist?

Ihr schwirrte der Kopf. Was konnte sie denn überhaupt glauben, wenn doch gar nichts eigentlich bewiesen war?

Cogito ergo sum. – Ich denke, also bin ich.
Sie erinnerte sich an diesen berühmten Ausspruch. Irgendein französischer Philosph hatte das mal gesagt. Descartes hieß der Typ. Er meinte damit, dass man alles erst mal anzweifeln sollte, nur eines nicht: Dass man existierte. Denn wenn man zweifeln kann, dann musste man doch sein, oder?
Ihr gefiel dieser Gedanke. Endlich eine Tatsache, derer sie sich sicher war. Cogito ergo sum. Sie hatten also inzwischen Latein. Es wurden zwar gerade die Vokabeln abgefragt, aber das interessierte sie nicht, angesichts der Fragen, die sie gerade beschäftigten. Die waren viel wichtiger, fand sie.
Cogito ergo sum. Es war also nur sicher, dass sie existierte. Aber was war, wenn sie nicht mehr existierte? Was kam nach dem Tod? Der Himmel, die Hölle? Wiedergeburt? Zu dumm, dass man das nicht herausfinden konnte, ohne zu sterben. Egal was nach dem Tod kam, sie hoffte jedenfalls, dass es kein Handball war. Sie hasste Handball. Und gerade das spielten sie gerade in Sport, den letzten zwei Schulstunden dieses Tages.
Als der Schulgong zum Ende schlug, schwang sie sich wieder auf ihr Fahrrad und schlug den Weg nach Hause ein.

Sie hatte Rückenwind und es hatte aufgehört zu regnen, eigentlich die besten Vorraussetzungen zum Fahrradfahren. Sie war nicht ganz bei der Sache, denn sie fragte sich gerade, ob sie noch ganz normal war, sie kannte nämlich keinen anderen in ihrem Alter, der sich mit solchen Fragen beschäftigte, und so bemerkte sie nicht den Kleinlaster, der von rechts kam und seine Vorfahrt nutzen wollte.
Sie versuchte, im letzten Moment auszuweichen, doch es gelang nicht. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen und schleuderte sie zu Boden. Sie spürte einen stechenden Schmerz zwischen den Rippen und hörte das trockene Knacken ihres Schädels, als er auf dem Teer aufschlug. In ihrem Kopf explodierte der Schmerz und breitete sich wie eine Flutwelle im ganzen Körper aus. Ein paar Sekunden lang war sie noch bei Bewusstsein. Sie spürte, dass sie jetzt ihren letzten Gedanken denken würde. Schade eigentlich. Aber es war ein Gedanke, der ein lächeln auf ihr Gesicht zauberte. "Gleich werde ich wenigstens auf eine Frage die Antwort wissen: Was kommt nach dem Tod?" Dann setzten ihre Vitalfunktionen aus und sie war nur noch ein lebloses, blutverschmiertes Etwas auf der Straße, das der Kleinlasterfahrer vergeblich nach einem Herzschlag abtastete.


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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