Die ‘amazing Kneipentour‘

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Hagen

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Die ‘amazing Kneipentour‘

Irgendwann, so in den Siebzigern, also lange Zeit bevor ich die Wunderbare Ulrike kennenlernte und der Coronairrsinn wie mit nasskaltem Tentakel nach uns allen griff und Joe Cocker am Ende seines jeweiligen Konzertes besoffen über die Bühne torkelte, wohnte ich in einer sogenannten Wohngemeinschaft zusammen mit Fräulein Rita und Herrn Dachtewitz. Wegen der beengten Räumlichkeiten, wir hatten nur zwei Zimmer mit Küche, Bad und Balkon, ‘wohnte‘ Fräulein Rita mal bei Herrn Dachtewitz und mal bei mir. Das klappte auch sehr gut in unsere dreier WG, zumal wir fast alles gemeinsam machten, außer aufs Klo und zu den jeweiligen Jobs gehen, Tapeten abreißen und Sex. Da war Fräulein Rita sehr eigen, wir waren abwechselnd dran und das klappte auch sehr gut, da wir mit unseren Jobs und diversen Nebenjobs derart ausgelastet waren, dass eine Freundin pro Mann entschieden zu viel war.
Das in Herrn Dachtewitz auch ein Philosoph steckte, erfuhr ich erst bei unserer ersten Kneipentour, zu der wir uns entschlossen, als wir unsere Wohnung renoviert hatten.
Na gut, es ging los wie jede Kneipentour mit Fräulein Rita, Herrn Dachtewitz und mir losgeht, einige Biere, etwas Billard, einige Runden am Flipper, wobei einige zufällig anwesende Trunkenbolde, die auf ein schnell gewonnenes Bier am Flipper gehofft hatten, ihre Überraschungen erlebten, denn auch Herr Dachtewitz ist der Kunst der Flippermeditation durchaus mächtig. Denn, so sprach Herr Dachtewitz dereinst anlässlich des Norbert Blüm Benefiz-Flipperfestivals, um die leeren Kassen des Rentengeldes zu sanieren, folgende Worte: "Wer das Schwert gegen den Flipper tauscht, handelt klug, denn durch das Schwert kamen mehr Menschen um, als durch den Flipper."
Unbestätigten Gerüchten zufolge, so Herr Dachtewitz, soll es im südlichen Tibet seit dem ein Kloster geben, das die Kunst der Flippermeditation lehrt und das Freispiel an dem ‘Großen Flipper‘, was auch immer das sein mag, anstrebt.
Man erwägt jedenfalls, Herrn Dachtewitz mit dem goldenen Bumper zu ehren.
Aber das sei nur nebenbei erwähnt, unsere Kneipentour ging weiter.
Als Herr Dachtewitz, Fräulein Rita und ich manch Fläschlein geleert hatten, avancierten wir zu den Fixpunkten dieser Welt, um die diese sich zu drehen begann. Alsdann kam der Moment, hehre Gedanken zu denken und eigene Philosophien zu äußern:
"Diese, unsere Erde ist", so hub Herr Dachtewitz an, "obwohl sie sich in sich und aus sich heraus durch sich scheinbar nicht bewegt, sondern durch Alkoholeinfluss fremdwirkenderweise in Bewegung gesetzt werden kann, nicht tot, sie kann sich nur nicht bewegen, weil sie an einem Haken hängt; - ja hängen muss, denn sonst würde sie sich aus sich und durch sich bewegen."
"Und wieso", fragte ich, "bewegt sie sich dann durch das in sich gekrümmte Einsteinsche Raum-Zeit-Kontinuum in relativer Zeitparallaxe? Und was ist mit der Gaia-Hypothese? Die Gaia-Hypothese besagt nämlich, dass die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden könne, da die Biosphäre – die Gesamtheit aller Organismen – Bedingungen schafft und erhält, die nicht nur Leben, sondern auch eine Evolution komplexerer Organismen ermöglichen. Die Erdoberfläche bildet demnach ein dynamisches System, das die gesamte Biosphäre stabilisiert."
"Weil sich der Haken bewegt", folgerte Herr Dachtewitz und leerte ein weiteres Fläschlein, "die Gaia-Hypothese spielt bei unseren philosophischen Gedankengängen nur eine untergeordnete Rolle. Nach der von mir begründeten Wissenschaftstheorie vollzieht sich der Erkenntnisfortschritt durch „trial and error“: Auf offene Fragen geben wir versuchsweise eine Antwort und unterziehen diese einer strengen Prüfung. Wenn sie diese nicht bestehen, verwerfen wir diese Antwort und versuchen, sie durch eine bessere zu ersetzen, denn wenn man eine Flasche Bier trinkt, bewegt sich das Bier ja auch in den Trinkenden hinein, was zu Folge hat, dass sich der Pegel in der Bierflasche in dem Maß senkt und sich dem Trinkenden bis zu dem Punkt nähert, bis die Flasche leer ist, wie sich der Alkoholpegel in dem Trinkenden in die Höhe bewegt – was ein Beweis dafür ist, dass ohne Bewegung nichts läuft, denn man muss die Flasche ja heben! Da letztendlich alles endlich ist, was nicht unendlich ist, ist auch dieses einsichtig. Denn irgendwann ist auch die größte Flasche Bier leer, weil es keine unendlich großen Flaschen gibt."
"Noch nicht", fügte ich hinzu und mein Gesicht nahm kurzzeitig einen träumerisch-verklärten Gesichtsausdruck an, wie Fräulein Rita mir später erzählte, "es wäre doch mal eine dankbare Aufgabe für die Industrie, sowas zu bauen."
"Das geht im Zeitalter des Umweltschutzes nicht", sagte Herr Dachtewitz und ließ meinen Wunschtraum damit jäh zerplatzen, "eine unendlich große Bierflasche passt in keinen Altglascontainer! Außerdem könnte es dann nur eine einzige Flasche geben, weil diese eine Flasche das gesamte Einsteinsche Raum-Zeit-Kontinuum ausfüllen würde und keinen Platz für diese, unsere Welt und ihren Haken ließe."
Ich grübelte sichtbar, "wenn es nur eine einzige unendlich große Bierflasche gäbe, könnte es auch nur eine Sorte Bier geben; - und das wäre wiederum furchtbar! – Folgerichtig müsste sich diese, unsere Welt eben in die Flasche hineinbegeben! Es gibt ja auch Buddelschiffe – wieso soll es keine Buddelwelten geben?"
"Außerdem wäre das Pfand für eine unendlich große Flasche auch unendlich hoch!", leistete Fräulein Rita einen Beitrag von bezwingender Logik und nicht minderer Dynamik zu diesem niveauvollen Gespräch.
"Aber der gekrümmte Raum", stellte auch ich nicht ohne eine gewisse Logik fest, "wäre durch die gekrümmte Oberfläche der Flasche erklärbar; - was wiederum die Frage eröffnet, ob sich diese, unsere Welt nicht schon in einer Flasche befindet."
"Wie aber", fragte Herr Dachtewitz, hob erst mahnend einen Finger und trank sodann eine weitere Flasche aus, "kommt eine krumme Welt durch einen geraden Flaschenhals? - Kommt mir nicht mit 'relativ gerade' und so! Ich weiß genau, dass Flaschenhälse gerade sind!“
„Ein sogenannter oder auch Korkenzieher“, bemerkte ich, „der keine einzige gerade Kante aufweist, passt doch sehr wohl in einen geraden Flaschenhals – oder?"
"Stimmt!", rief Herr Dachtewitz freudig erregt, "da habe ich einschlägige Erfahrungen."
"Ihr seid verrückt", sagte Fräulein Rita, "seid ihr euch eigentlich im Klaren darüber, dass ihr alle anerkannten Philosophen in Frage stellt?"
"Mir egal! – Hagen ist verrückt", sagte Herr Dachtewitz, "denn sonst wüsste er ja, dass es keine Möglichkeit gibt, in einer Flasche dauerhaft einen Haken anzubringen."
"Vielleicht ist der Haken ja an dem ‘Großen Flipper‘", grübelte ich, "denn wenn die Welt in der Flasche wäre, muss der ‘Große Flipper‘ ja auch in der Flasche sein – und Fräulein Rita ist eine 'in die Flasche Hereingekommene'!"
"Glaube ich nicht", sagte Fräulein Rita, "ich neige eher zu der Vermutung, dass unsere Welt des ‘Großen Flippers‘ Kugel ist, wenn sich der ‘Große Flipper‘ auch in der unendlich großen Flasche befindet ..."
"Dann haben die Götter aber", schloss Herr Dachtewitz den Fluss der hehren Gedanken ab und bestellte noch eine Runde, "den ‘Großen Flipper‘ voll getiltl"
Angesichts dessen, was sich derzeit so auf dieser Welt abgespielt hat, insbesondere wenn man verfolgt hat, was sich in den Niederlanden damals so abgespielt hat, ob Willem-Alexander Claus George Ferdinand, Prinz von Oranien-Nassau, Jonkheer van Amsberg bei seiner Amtseinführung bereits so betrunken war wie wir, oder nur Holländisch gesprochen hat, was nicht immer zu unterscheiden ist, setzten wir unsere Kneipentour fort – ohne philosophisches Gedankengut.
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Hagen,
das ist eine Hammerstory, die mich beim Lesen in "meine 70er Jahre" zurückversetzt hat: Die Kommune mit all ihren Freizügigkeiten und die endlosen philosophischen Exkursionen im Halb -und Dreiviertelrausch. Und das Ganze immer auf dem Fundament der Leichtigkeit und des Humors. Für mich ist deine Geschichte nicht nur fiction. Sie ist übrigens sehr "leichtfüßig" erzählt, und damit hast du den Ton getroffen, den sie verdient. Klasse Beitrag.
 

Klaus K.

Mitglied
Hagen,

hach, da werden Erinnerungen wach! Ich habe mich "gekrümmt"! Ja, wer Joe Cocker und Konsorten live gesehen hat, der weiß, dass das alles stimmt! 3,5 Zimmer Altbau, Toilette im Treppenhaus, große leere Küche mit zwei Kochplatten, dreimal pro Woche ins Hallenbad zum Duschen, zwei Männer mit ab-und-zu - Besuch, täglich studiert bis es endlich dunkel wurde...
Diskussionen ohne Ende, tolle Frauen, verpasste Chancen, gerade noch ausreichende universitäre Benotung, 1001 verschiedene Studentenjobs, der Sinn und Unsinn des Daseins wurde klar. Flippermeditation.
Großartig! Heute trinke ich abends oft Bourbon, aber nie zu viel, sonst krümmt sich der Raum.
Toller Text! Gruß, Klaus
 

Hagen

Mitglied
Verehrter Klaus,
lieber Bo-ehd,
zunächst einmal herzlichen Dank an euch Beide für die Beschäftigung mit meinem Text, Euer fulminantes Lob und die Sternchen. Es freut mich, dass Euch die Geschichte, die auf einer waren Begebenheit beruht, gefallen hat.

Nun denn, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleibt schön fröhlich, gesund und munter, guten Willens, moralisch einwandfrei, weiterhin positiv motiviert, denkt keine negativen Gedanken sondern an Euer Karma und seid stets heiteren Gemütes! Seid zufrieden mit dem was Euch beschieden, zudem stets von reiner Seele, tanzt keine Regentänze mehr, lügt niemals und erzählt keine dreckigen Witze, sondern bringt Euren Frauen regelmäßig Blumen mit!

Herzlichst
Yours Hagen
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Merke: Wenn ich mir die Menschheit so anschaue, verfestigt sich bei mir die Auffassung das der Intelligenzquotient (fast) aller Menschen eine Konstante ist; - lediglich die Bevölkerungszahl wächst!
 
Wunderbar!
Ein Text, der mich glatt 50 Jahre jünger fühlen lässt! Und das ganz ohne die Nebenwirkungen des juvenilen Schwachsinns, der allmählich durch den Altersstarrsinn ersetzt wird.

(Nebenbei: Ich hoffe doch sehr, dass es ein Carambolage-Billiard war.)

Heutzutage möchte ich allerdings eher vermuten, dass die Welt nicht in einer Flasche, sondern im Eimer ist, jedenfalls die uns bekannte.
Und was ist mit der "Merke:"-Anmerkung Deines letzte Beitrags? Meinst Du die Intelligenzmenge pro Menschheit? Ist vielleicht wie mit der Kreative Masse im Fernsehen: Diese an sich anfangs schon recht bescheidene Größe verteilt sich numehr auch auf unzählige Kanäle.

Höchst amüsiert und dafür freundlich dankend:
Binsenbrecher
 

Hagen

Mitglied
Geschätzter Binsenbrecher,
zunächst einmal herzlichen Dank für Dein Lob und die vielen Sternchen
Das Leben ist nicht anders; - wer weiß wofür es gut war?
Sodann teile ich Dir mit, dass es sich um Poolbillard gehandelt hat. Ähnlich dem 7-Fußtisch der in unserem Billardsalon steht, welcher der ScheinBAR angeschlossen ist. Die ScheinBAR ist ein nie endendes Projekt, an dem die Wunderbare Ulrike, meine Herzensdame, (sie kann dübeln, tapezieren, und man merke auf, mit ihrem Anhänger rückwärts fahren!) und ich permanent arbeiten, ab und zu sitzen, nach der einen oder anderen Runde Billard, und als Nightcup den einen oder anderen von mir kreierten Cocktail, mittlerweile ist Cocktails kreieren auch eins meiner Hobbys, genießen.
Weiterhin ist der Roman Mit der Wunderbaren Ulrike an der ScheinBAR bereits in Arbeit. Fragmente daraus sind in der Leselupe nachzulesen.
Nun denn, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleibt schön fröhlich, gesund und munter, guten Willens, moralisch einwandfrei, weiterhin positiv motiviert, denke keine negativen Gedanken und sei stets heiteren Gemütes! Sei zudem stets von reiner Seele, tanze keine Regentänze mehr, lüg’ niemals und erzählt keine dreckigen Witze!

Herzlichst
Yours Hagen
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Bedenke: Wenn du das Licht am Ende des Tunnels erkennst und diesem zustrebst,
wirst du, nachdem eine Rückkehr unmöglich ist, erkennen dass es sich um das Licht eines sich schnell nährenden D-Zugs handelt!

Merke: In Eisenbahntunnels sind keine Notfallbuchten vorgesehen!
 



 
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