Vorwort
Die folgende Geschichte ist in einem bildhaften, pathetischen Ton gehalten.
Manche Leserinnen und Leser mögen sich davon erschlagen oder überfordert fühlen, andere vielleicht gerade durch diese Überhöhung berührt werden.
Mir war es wichtig, die Sprache so kompromisslos zu belassen, weil sie den Ernst des Themas trägt.
Wer sich darauf einlassen möchte, ist herzlich eingeladen, mitzugehen – auch wenn es kein leichter Weg ist.
Prolog – Ich bin der Mond
Ich bin der Mond, ein Zeuge ohne Atem, ein Körper ohne Gnade. Ich kreise um dich, Erde, seit dein Feuer sich gelegt hat und dein erstes Grün den Himmel berührte. Ich habe dich wachsen sehen. Hast du es vergessen? Ich nicht. Ich vergesse nichts. Ich sah deine Meere steigen, deine Kontinente wandern, deine Wälder singen. Ich sah dich heilen – und ich sehe dich jetzt verfallen.
Sie nennen sich Menschen, du nennst sie Kinder, ich aber nenne sie Parasiten. Sie bohren in dein Fleisch, verbrennen dein Blut, verätzen deine Lungen. Sie ziehen Linien in dein Gesicht und nennen sie Länder. Sie werfen Bomben auf deinen Leib und nennen es Politik. Und du? Du hältst still.
Du, die Vulkane speien lässt und die Ozeane heben kann, du schweigst. Ich lache – nicht über sie, sie sind töricht, ja, sondern über dich, weil du es zulässt, weil du ihnen alles gibst und nichts forderst. Doch manchmal, wenn meine Umlaufbahn mich länger bei dir hält, frage ich mich, ob du das mit Absicht tust. Hast du den Menschen geschaffen, um dich selbst zu prüfen? Ist er ein Experiment, eine Krankheit, ein Spiegel? Willst du wissen, wie tief du fallen kannst, wenn du alles gibst – Verstand, Feuer, Sprache – aber kein Maß?
Wenn ja, dann gelingt es dir. Dein Parasit wächst, dein Blut verdunkelt sich, dein Gleichgewicht schwindet – und du schweigst weiter. Ich werde dich nicht wecken. Ich bin nur dein Umlauf, ein Auge im Dunkeln, ein Lachen in der Stille. Ich sehe dich taumeln, ich sehe dich brennen, und ich werde kreisen, bis du zerbrichst oder erwachst. Denn du, kleine Erde, bist die erste Welt, die sich selbst zerstört – und dabei auch noch lächelt.
Der ewige Rausch
Ich sehe dich, Erde, wie du trinkst – nicht aus Bechern, nicht aus Quellen, sondern aus den Atemzügen deiner Kinder. Sie geben dir ein Gift, unsichtbar, lau, bequem, und du nimmst es auf, Tag für Tag, Atemzug um Atemzug.
Deine Meere sind deine Leber, sie nehmen das Bittere auf und versuchen zu reinigen, bis sie schäumen. Deine Wälder sind deine Lungen, sie atmen das Unsichtbare ein, ziehen es tief in sich, bis sie husten und verstummen. Deine Böden saugen und speichern und schweigen, wie ein Körper, der zu lange getrunken hat und nicht mehr merkt, dass er längst vergiftet ist.
Ich lache nicht über sie, die trinken, und nicht über sie, die geben. Ich lache über dich, denn du hältst den Pegel, als wärst du eine Säuferin, die nicht mehr nüchtern werden will. Nie betrunken genug, um zu stürzen, aber nie klar genug, um zu handeln. Ein ewiger Schwips, ein Rausch, der nicht feiert, sondern zersetzt.
Ich habe es in deinen Kindern gesehen: zitternde Hände, zerfallende Organe, zerbrochene Klarheit. Und nun sehe ich es in dir. Du taumelst durch deine Jahreszeiten, dein Nervensystem zuckt – Stürme, Dürre, Flut. Du schwitzt in deinen Wintern, du frierst in deinem Sommer, und noch immer kommt kein Aufschrei.
Sag mir, Erde, ist das dein Wille, ist es dein Experiment? Willst du wissen, wie viel du aushältst, bis du dich selbst vergisst? Wenn ja, dann gelingt es dir. Dein Rausch ist vollkommen. Und ich, dein alter Zeuge, kreise über dir. Ich sehe, wie du taumelst, lächelnd, glimmend. Du bist die erste Welt, die sich selbst in eine Trinkerin verwandelt und glaubt, dass Gleichgewicht ein Zustand der Betäubung sei. Und ich werde lachen, so leise, so silbern, wie nur der Mond es kann – solange dein Glas nicht leer ist.
Das schwarze Blut
Ich sehe dich, Erde, und ich sehe deine Adern, dunkel, tief, gefüllt mit jenem schwarzen Saft, den deine Kinder gierig aus dir reißen. Sie nennen es Öl, ein Schatz, sagen sie, doch für mich ist es dein Blut. Es lag verborgen, Jahrmillionen lang, gepresst aus Altem, aus Gestorbenem, aus Geschichte. Du hast es gehütet wie Erinnerung, wie eine Narbe, die man nicht aufreißt.
Doch sie bohren, sie pumpen, sie reißen – und du hältst still. Kein Aufschrei, nur ein leises Zittern im Gestein. Sie ziehen dir den letzten Tropfen aus den Knochen, aus dem Becken, aus den Tiefen deines Gedächtnisses. Und dann – siehst du, was sie damit tun? Sie verbrennen es, sie spucken Rauch in deine Lungen, sie tränken deinen Himmel mit Ruß, sie lassen es tropfen ins Meer, wo es sich ausbreitet wie Schwärze, wie ein Mantel, der nicht wärmt, sondern erstickt.
Deine Kinder ersticken ihre Geschwister. Fische taumeln, Vögel sinken, Küsten verkrusten. Und du? Du schweigst weiter. Ich frage mich, ob du das willst. Willst du sehen, wie viel sie dir nehmen können, bevor du leer bist? Willst du dich prüfen, wie viel Verlust du tragen kannst, ohne zu schreien? Oder bist du müde, so müde, dass selbst dein Blut dir gleichgültig geworden ist?
Ich werde es sehen. Denn dein schwarzes Blut fließt, und mit jedem Tropfen, den sie stehlen, wirst du blasser. Und wenn du dann zusammenbrichst, wenn deine Adern leer sind, werden sie nichts mehr finden: kein Feuer, keinen Schatz – nur Staub. Und ich? Ich werde kreisen, Zeuge deines Verblutens, und lachen, nicht über sie, sondern über dich, die ihr eigenes Herz aufreißt und glaubt, das sei Fortschritt.
Die Schlachtfelder
Oh, Erde, wie lächerlich du bist. Du gebierst Kinder, und kaum können sie laufen, werfen sie sich Waffen in die Hände. Sie reißen Linien in dein Fleisch und nennen sie Grenzen. Sie prügeln sich um Flecken deiner Haut, als wärst du ein zu knapp geschnittener Kuchen. Sie werfen Feuer auf deine Städte, bohren Krater in deine Adern, lassen dein Blut im Rauch ihrer Bomben verdampfen.
Sie lassen Eisen regnen, das deine Hügel durchbohrt, und nennen es Heldentum. Und du? Du hältst still. Du siehst zu wie eine Mutter, die lächelt, während ihre Söhne das Haus anzünden. Ich lache nicht über sie – sie sind Dummheit in Bewegung, ein Reflex aus Angst, ein Echo aus Gier. Aber ich lache über dich. Denn du, die Vulkane speien lässt und Kontinente verschieben kann, bleibst stumm.
Du bist eine Bühne, die ihre Schauspieler gewähren lässt, auch wenn sie die Bretter zerhacken, auf denen sie stehen. Vielleicht, so denke ich manchmal, ist es dein Wille. Vielleicht willst du sehen, wie viel Schmerz du tragen kannst, bevor du aufschreist. Vielleicht ist das ganze Schauspiel dein eigenes Werk, ein Stück über Zerfall, ein Theater der Verzweiflung.
Aber wisse: Ich sehe es. Jede Rauchfahne, jedes brennende Dorf, jedes Grab, das sich in deine Haut frisst – für mich sind es keine Tragödien, nur Markierungen, wie Striche auf der Wand eines Gefängnisses, das du selbst nicht verlässt. Und ich werde kreisen, ich werde zählen, und ich werde lachen – nicht über sie, sondern über dich, die zulässt, dass ihre Kinder sie vergewaltigen – und sich selbst dazu.
Die gläsernen Käfige
Ich sehe dich, Erde, und ich sehe sie – deine Kinder, die sich für frei halten. Sie sprechen von Möglichkeiten, von Horizonten, von Wegen ins Morgen. Doch wo sie sind, weiß ich genau: in Schachteln aus Glas, in Räumen aus Beton, in Straßen, die nirgendwohin führen außer zurück zu sich selbst. Sie haben sich Käfige gebaut und Fenster hineingesetzt, um den Blick nach draußen für Freiheit zu halten. Sie haben sich Netze gesponnen, aus Zahlen, aus Licht, aus Lärm, und nennen es Verbindung.
Sie tragen Ketten in der Tasche, leuchtend und flach, und glauben, sie hielten damit die Welt in der Hand. Und du, Erde? Du trägst es alles, wie Schmuck und wie Last zugleich. Millionen kleine Gefängnisse glänzen auf deinem Rücken, hell erleuchtet und doch blind. Ich habe viele Arten von Gefangenen gesehen: Ameisen, die sich zu Straßen legen, Termiten, die sich einmauern. Aber noch nie habe ich Wesen gesehen, die sich selbst einsperren – und es auch noch feiern.
Sie lachen in ihren Kammern, werfen mit Bildern, sprechen in Geräten, fühlen sich verbunden und kennen nicht einmal den Geruch des Regens. Sie glauben, Freiheit sei ein Bildschirm und Bewusstsein eine Wischbewegung. Und du? Du schweigst. Sag mir, Erde – ist das dein Wille? Wolltest du wissen, wie wenig ein freies Wesen braucht, um sich freiwillig zu fesseln? Wolltest du sehen, ob sie begreifen, dass Mauern nicht schützen, sondern trennen?
Aber sie lernen es nicht. Sie zeichnen Linien auf Papier und nennen es Besitz. Sie hängen ihre Augen an Scheiben und nennen es Erkenntnis. Sie sitzen in Räumen ohne Himmel und glauben, darin sei das Leben größer als draußen. Und du atmest weiter, schwer und geduckt unter all den Schichten, die sie auf dir errichtet haben. Du bist die erste Welt, deren Kinder die Freiheit fürchten und die Fessel lieben. Und ich? Ich sehe es, ich merke es, ich spiegele es. Ich kreise über dir und denke: Du bist nicht geknechtet. Du bist es, die den Schlüssel weggeworfen hat.
Das Schweigen der Wälder
Etwas hat sich verändert. Ich kreise wie immer, ich sehe dich atmen, Erde, langsam und flach. Deine Kontinente glänzen im Dunst, deine Flüsse winden sich wie alte Narben. Aber etwas fehlt. Es ist nicht Stille – Stille kenne ich. Es ist Schweigen, ein anderes, tieferes Schweigen.
Früher, wenn ich über deine Wälder zog, hörte ich sie, nicht mit Ohren, sondern mit jenem Sinn, den nur ein alter Zeuge kennt. Ich hörte das Knacken des Holzes, das Summen im Moos, das Grollen in den Bäuchen der Bäume. Ich hörte das Singen der Pilze, das Flüstern der Flechten, das Lachen der Blätter, wenn der Wind sie neckte. Jetzt ist da nichts. Kein Ruf, kein Wispern, nur Leere zwischen den Ästen, nur Luft, die keinen Namen mehr kennt.
Was hast du getan, Erde? Wo ist deine Sprache hin? Hast du sie verloren, vertrieben, vergraben? Ich sah sie kommen – deine Kinder mit Kreissägen und Maschinen. Sie fällten die Alten, noch bevor du dich verabschieden konntest. Sie verbrannten die Jungen, noch bevor sie wurzeln konnten. Sie rissen die Geschichten aus dem Boden, als wären sie Unkraut. Und du? Du hast geschwiegen. Oder hast du ab da selbst das Sprechen verlernt?
Vielleicht ist das dein Experiment. Vielleicht wolltest du wissen, wie viele Stimmen man dir nehmen kann, bis du selbst stumm wirst. Vielleicht hofftest du, dass sie zurückkehren, dich wieder hören, dein Lied erinnern. Aber sie hören nur sich selbst. Und du? Du atmest, schwer und still. Der Wind streicht durch leere Kronen, die Sonne fällt auf stumpfen Boden, die Nacht legt sich auf Stämme, die keine Träume mehr tragen.
Du bist die erste Welt, die sich ihre Sprache nehmen lässt, ohne Wut, ohne Tränen, ohne Widerstand. Und ich? Ich höre dein Schweigen, und es ist lauter als alles, was je war.
Die große Flut
Ich sah, wie dein Atem kälter wurde, wie dein Eis zu weinen begann. Nicht wie ein Kind – wie eine Göttin, die erkennt, dass ihre Schöpfung sie verraten hat. Ich kenne deine Geduld, Erde, ich habe sie gespürt in Jahrmillionen. Ich sah dich Meteore verzeihen, ich sah dich Kontinente formen, als wären es Spielzeuge in deinem Schoß. Ich sah dich Stürme bändigen und Feuer zähmen. Aber jetzt bist du still, zu still, und dein Schweigen ist schwer.
Ich höre es brechen in deinen Gletschern. Ich sehe, wie das Wasser steigt, nicht hastig, nicht wild, sondern wie eine Frau, die aufsteht, nachdem sie zu lange geschwiegen hat – langsam, würdevoll, unaufhaltsam. Ich sehe, wie das Meer die Küsten beschnuppert wie ein Tier, das bald beißen wird. Ich sehe, wie es die Deiche bespuckt, wie es an Fundamenten nagt, wie es wartet, nicht auf ein Signal, sondern auf den Moment, an dem du, Erde, ihm alles gibst.
Und du? Du gibst. Du öffnest dein Eis, du gibst dem Wasser Wege, du lässt es durch Adern fließen, durch Gestein, durch Erinnerung. Ist das dein letzter Satz, Erde – ein Satz aus Wellen und Schlamm, eine Geschichte ohne Worte, nur Bewegung, nur Vergessen? Ich sehe, wie Städte zittern, wie Türme keine Wirkung mehr haben, wie Straßen zu Flüssen werden und Namen im Schlamm ertrinken.
War das dein Plan? War der Mensch die Streichholzschachtel, mit der du dich endlich entzündet hast? Und ist das Wasser das, was dich wieder löscht? Du bist die erste Welt, die nicht mehr ruft, nicht mehr bittet, nicht mehr droht, sondern untergeht – bewusst, wortlos, majestätisch.
Und ich? Ich kreise über dir. Und zum ersten Mal verstummt mein Spott, nicht weil ich dich verstehe, sondern weil ich sehe: Du hast verstanden.
Der Hunger und die Tafel
Ich sehe dich, Erde. Deine Haut ist weit, deine Böden sind fruchtbar, dein Licht reicht in alle Richtungen, dein Regen fällt nicht nur auf Könige. Und doch – während die einen den dritten Gang ablehnen, vergraben die anderen ihr Kind im Sand. Ich sehe Festtafeln, endlos gedeckt in Städten, die nie schlafen. Ich sehe Essen, das weggeworfen wird, weil es zu braun, zu krumm oder zu alt ist. Und anderswo? Kinder saugen an ihren Knochen, Mütter lassen den Löffel leer, damit das Kind noch einen Tag übersteht, Väter schweigen in der Nacht, weil Worte nicht sättigen.
Und du, Erde? Du tust nichts. Du atmest und du trägst, wie eine Bühne, die nie fragt, wer auf ihr stirbt und wer speist. Ich lache nicht über sie, die essen, und nicht über sie, die hungern. Ich lache über dich. Denn du gibst allem Leben, aber du forderst nichts. Du stellst den Tisch und überlässt es den Gästen, ob einer verhungert, während der andere verschwendet.
Sag mir: Ist das dein Experiment? Wolltest du sehen, ob deine Kinder lernen, zu teilen, oder wenigstens zu sehen? Sie lernen es nicht. Du lässt Getreide verrotten in Silos, während anderswo Blätter zu Suppe werden. Du lässt Luxusboote gleiten, während ein anderes Boot an Hunger zerbricht. Ich frage dich: War das dein Beweis? Dass Mangel nicht in der Natur liegt, sondern im Menschen? Dass nicht zu wenig das Problem ist, sondern zu viel auf einer Seite?
Du bist die erste Welt, auf der man gleichzeitig an Völlerei stirbt und an Leere. Und ich? Ich kreise über deinen Kontinenten, ich zähle die Teller, ich zähle die Gräber und frage mich, wie lange du noch zusehen willst bei diesem Festmahl mit nur einer Einladung.
Der Staub des Fortschritts
Ich habe gesehen, wie sie Feuer machten, erst um sich zu wärmen, dann, um zu herrschen. Ich sah sie Eisen formen, Räder bauen, Motoren, Maschinen, Städte aus Kabeln und Himmel aus Lärm. Sie nannten es Fortschritt – und du, Erde, hast sie gelassen.
Ich sah sie aufsteigen in Raketen und Triebwerken, in Flammen, die den Himmel aufrissen, um ihn zu verlassen. Sie wollen fort von dir, sie sagen, du seist nicht mehr genug. Ich sehe sie durchs All zucken wie fliehende Funken. Sie suchen einen anderen Ort, bevor sie begreifen, was du bist. Sie träumen vom Mars, und ihre Meere sterben. Sie reden von Kolonien, während ihr Saatgut im Staub versinkt. Sie tragen Müll zum Mond, bevor sie ihre Strände säubern.
Ich lache nicht, nicht über sie, nicht einmal über dich. Ich frage mich nur: Ist das dein Wille? Wolltest du sehen, ob ein Wesen seine Mutter verlässt, bevor es begreift, was Heimat bedeutet? Du bist Ursprung, und sie nennen dich Last. Vielleicht hoffst du, dass sie dich eines Tages vermissen, dass sie umkehren, dass sie sehen, was du warst. Aber ich sage dir: Sie werden nichts finden. Kein zweites Blau, kein zweites Atmen, kein zweites Lied.
Und wenn sie dann zurückblicken – auf dich, auf das Staubkorn, das sie hinterließen – dann werden sie begreifen: Man flieht nicht aus einem Haus, das man selbst angezündet hat. Du bist die erste Welt, deren Kinder das All durchbohren, nicht aus Sehnsucht, sondern aus Schuld. Und ich? Ich sehe ihre Flugbahnen, ich sehe den Staub ihrer Ideen, und er schmeckt nach verbranntem Licht.
Die letzte Kerze
Ich sah dich leuchten, Erde, nicht im Licht der Sterne, sondern in einem anderen Licht, härter, greller, geboren aus Glut und nicht aus Gnade. Es begann harmlos, ein Feuer in einer Höhle, ein Tanz der Funken gegen das Dunkel. Dann kam das Wollen, dann kam das Mehr. Sie gruben tiefer, sie wollten dein Herz: Kohle, Gas, Öl. Sie warfen es in Öfen, die nie genug bekamen. Sie nannten es Fortschritt, du nanntest es nie.
Denn du schwiegst, während sie aus Wärme Macht machten und aus Licht Abhängigkeit. Du hast sie gewähren lassen, hast deine Schichten geöffnet, hast ihnen das Innere gegeben, als hättest du selbst das Verlangen, ausgebrannt zu werden. Ich sah Städte, die heller leuchteten als Sterne, Nächte, die keinen Himmel mehr kannten, Augen, die kein Dunkel mehr aushielten. Aber jetzt flackert es. Die Vorräte schwinden, die Leitungen zittern, die Maschinen laufen ins Leere.
Sie zünden Kerzen an – nicht aus Andacht, aus Angst. Ich frage dich, Erde: Ist das dein letztes Bild? Ein Planet, der sich selbst ausbrennt, damit es wenigstens hell ist, wenn er vergeht? Sie tanzen in diesem Licht, wie Motten, blind, besessen, bereit, darin zu sterben. Du bist die erste Welt, die ihr Feuer nicht hütet, sondern opfert – um nicht zu denken. Und ich? Ich sehe deine Glut verlöschen, nicht mit einem Schrei, nicht mit einem Sturm, sondern wie eine Kerze, die langsam stirbt, weil niemand nach dem Docht gesehen hat.
Epilog – Die Antwort
Du hast lange gesprochen, Bruder Mond. Du hast gekreist und gespottet, gezählt und gedeutet. Ich habe geschwiegen, nicht weil ich keine Stimme hatte, sondern weil ich wartete. Ich habe ihn zugelassen, den Menschen. Ich habe ihn geboren, genährt, gehalten – nicht aus Liebe, sondern aus Absicht. Denn ich hatte einen Pakt mit dem, der uns alle erschuf. Er nannte den Menschen Krone, ich aber sah den Dorn darunter. Er sprach von Ebenbild, ich aber sah den Spiegel. Also sagte ich: Lass mich ihn tragen. Lass mich ihn zulassen – nicht als Sohn, sondern als Frage.
Ich wollte wissen, was geschieht, wenn man einem Wesen alles gibt – Verstand, Feuer, Sprache, Hände – aber kein Maß. Und so ließ ich ihn. Ich ließ ihn trinken, bis meine Lungen schwarz wurden (der ewige Rausch). Ich ließ ihn bohren, bis mein Blut auf den Meeren lag (das schwarze Blut). Ich ließ ihn kämpfen, bis meine Haut durchsiebt war von Gräbern (die Schlachtfelder). Ich ließ ihn bauen, bis meine Täler zu Käfigen wurden (die gläsernen Käfige). Ich ließ ihn sägen, bis meine Wälder schwiegen wie Verstummte (das Schweigen der Wälder). Ich ließ ihn schmelzen, bis das Wasser kam (die große Flut). Ich ließ ihn teilen, bis der eine aß und der andere starb (der Hunger und die Tafel). Ich ließ ihn fliehen in Schalen aus Feuer, fort von dem, was er nie verstanden hatte (der Staub des Fortschritts). Ich ließ ihn brennen, bis selbst die letzte Kerze flackerte (die letzte Kerze).
Und nun, Bruder Mond, ist das Experiment beendet. Ich habe alles gesehen, ich habe alles getragen, ich habe dem Schöpfer gezeigt, was er geschaffen hat. Der Mensch ist keine Krone. Er ist ein Schnitt, ein Riss im Gleichgewicht. Er ist nicht größer als das Tier, nur gefährlicher. Er ist nicht tiefer als das Wurzelwerk, nur lauter. Er ist nicht weiter als der Wind, nur gieriger. Und doch: Ich hasse ihn nicht. Ich bin Erde. Ich richte nicht aus Wut, ich urteile aus Erfahrung.
Mein Urteil lautet: Der Mensch wird gehen. Nicht durch Krieg, nicht durch Strafe, sondern durch sich selbst. Ich werde ihn nicht töten, ich werde ihn vergessen. Und nach ihm wird Leben wachsen, leise, unbeobachtet, ohne Feuer, ohne Worte, ohne Krone.
Mond, ich höre deine Stimme zum ersten Mal – und zum ersten Mal lache ich nicht.
Die folgende Geschichte ist in einem bildhaften, pathetischen Ton gehalten.
Manche Leserinnen und Leser mögen sich davon erschlagen oder überfordert fühlen, andere vielleicht gerade durch diese Überhöhung berührt werden.
Mir war es wichtig, die Sprache so kompromisslos zu belassen, weil sie den Ernst des Themas trägt.
Wer sich darauf einlassen möchte, ist herzlich eingeladen, mitzugehen – auch wenn es kein leichter Weg ist.
Prolog – Ich bin der Mond
Ich bin der Mond, ein Zeuge ohne Atem, ein Körper ohne Gnade. Ich kreise um dich, Erde, seit dein Feuer sich gelegt hat und dein erstes Grün den Himmel berührte. Ich habe dich wachsen sehen. Hast du es vergessen? Ich nicht. Ich vergesse nichts. Ich sah deine Meere steigen, deine Kontinente wandern, deine Wälder singen. Ich sah dich heilen – und ich sehe dich jetzt verfallen.
Sie nennen sich Menschen, du nennst sie Kinder, ich aber nenne sie Parasiten. Sie bohren in dein Fleisch, verbrennen dein Blut, verätzen deine Lungen. Sie ziehen Linien in dein Gesicht und nennen sie Länder. Sie werfen Bomben auf deinen Leib und nennen es Politik. Und du? Du hältst still.
Du, die Vulkane speien lässt und die Ozeane heben kann, du schweigst. Ich lache – nicht über sie, sie sind töricht, ja, sondern über dich, weil du es zulässt, weil du ihnen alles gibst und nichts forderst. Doch manchmal, wenn meine Umlaufbahn mich länger bei dir hält, frage ich mich, ob du das mit Absicht tust. Hast du den Menschen geschaffen, um dich selbst zu prüfen? Ist er ein Experiment, eine Krankheit, ein Spiegel? Willst du wissen, wie tief du fallen kannst, wenn du alles gibst – Verstand, Feuer, Sprache – aber kein Maß?
Wenn ja, dann gelingt es dir. Dein Parasit wächst, dein Blut verdunkelt sich, dein Gleichgewicht schwindet – und du schweigst weiter. Ich werde dich nicht wecken. Ich bin nur dein Umlauf, ein Auge im Dunkeln, ein Lachen in der Stille. Ich sehe dich taumeln, ich sehe dich brennen, und ich werde kreisen, bis du zerbrichst oder erwachst. Denn du, kleine Erde, bist die erste Welt, die sich selbst zerstört – und dabei auch noch lächelt.
Der ewige Rausch
Ich sehe dich, Erde, wie du trinkst – nicht aus Bechern, nicht aus Quellen, sondern aus den Atemzügen deiner Kinder. Sie geben dir ein Gift, unsichtbar, lau, bequem, und du nimmst es auf, Tag für Tag, Atemzug um Atemzug.
Deine Meere sind deine Leber, sie nehmen das Bittere auf und versuchen zu reinigen, bis sie schäumen. Deine Wälder sind deine Lungen, sie atmen das Unsichtbare ein, ziehen es tief in sich, bis sie husten und verstummen. Deine Böden saugen und speichern und schweigen, wie ein Körper, der zu lange getrunken hat und nicht mehr merkt, dass er längst vergiftet ist.
Ich lache nicht über sie, die trinken, und nicht über sie, die geben. Ich lache über dich, denn du hältst den Pegel, als wärst du eine Säuferin, die nicht mehr nüchtern werden will. Nie betrunken genug, um zu stürzen, aber nie klar genug, um zu handeln. Ein ewiger Schwips, ein Rausch, der nicht feiert, sondern zersetzt.
Ich habe es in deinen Kindern gesehen: zitternde Hände, zerfallende Organe, zerbrochene Klarheit. Und nun sehe ich es in dir. Du taumelst durch deine Jahreszeiten, dein Nervensystem zuckt – Stürme, Dürre, Flut. Du schwitzt in deinen Wintern, du frierst in deinem Sommer, und noch immer kommt kein Aufschrei.
Sag mir, Erde, ist das dein Wille, ist es dein Experiment? Willst du wissen, wie viel du aushältst, bis du dich selbst vergisst? Wenn ja, dann gelingt es dir. Dein Rausch ist vollkommen. Und ich, dein alter Zeuge, kreise über dir. Ich sehe, wie du taumelst, lächelnd, glimmend. Du bist die erste Welt, die sich selbst in eine Trinkerin verwandelt und glaubt, dass Gleichgewicht ein Zustand der Betäubung sei. Und ich werde lachen, so leise, so silbern, wie nur der Mond es kann – solange dein Glas nicht leer ist.
Das schwarze Blut
Ich sehe dich, Erde, und ich sehe deine Adern, dunkel, tief, gefüllt mit jenem schwarzen Saft, den deine Kinder gierig aus dir reißen. Sie nennen es Öl, ein Schatz, sagen sie, doch für mich ist es dein Blut. Es lag verborgen, Jahrmillionen lang, gepresst aus Altem, aus Gestorbenem, aus Geschichte. Du hast es gehütet wie Erinnerung, wie eine Narbe, die man nicht aufreißt.
Doch sie bohren, sie pumpen, sie reißen – und du hältst still. Kein Aufschrei, nur ein leises Zittern im Gestein. Sie ziehen dir den letzten Tropfen aus den Knochen, aus dem Becken, aus den Tiefen deines Gedächtnisses. Und dann – siehst du, was sie damit tun? Sie verbrennen es, sie spucken Rauch in deine Lungen, sie tränken deinen Himmel mit Ruß, sie lassen es tropfen ins Meer, wo es sich ausbreitet wie Schwärze, wie ein Mantel, der nicht wärmt, sondern erstickt.
Deine Kinder ersticken ihre Geschwister. Fische taumeln, Vögel sinken, Küsten verkrusten. Und du? Du schweigst weiter. Ich frage mich, ob du das willst. Willst du sehen, wie viel sie dir nehmen können, bevor du leer bist? Willst du dich prüfen, wie viel Verlust du tragen kannst, ohne zu schreien? Oder bist du müde, so müde, dass selbst dein Blut dir gleichgültig geworden ist?
Ich werde es sehen. Denn dein schwarzes Blut fließt, und mit jedem Tropfen, den sie stehlen, wirst du blasser. Und wenn du dann zusammenbrichst, wenn deine Adern leer sind, werden sie nichts mehr finden: kein Feuer, keinen Schatz – nur Staub. Und ich? Ich werde kreisen, Zeuge deines Verblutens, und lachen, nicht über sie, sondern über dich, die ihr eigenes Herz aufreißt und glaubt, das sei Fortschritt.
Die Schlachtfelder
Oh, Erde, wie lächerlich du bist. Du gebierst Kinder, und kaum können sie laufen, werfen sie sich Waffen in die Hände. Sie reißen Linien in dein Fleisch und nennen sie Grenzen. Sie prügeln sich um Flecken deiner Haut, als wärst du ein zu knapp geschnittener Kuchen. Sie werfen Feuer auf deine Städte, bohren Krater in deine Adern, lassen dein Blut im Rauch ihrer Bomben verdampfen.
Sie lassen Eisen regnen, das deine Hügel durchbohrt, und nennen es Heldentum. Und du? Du hältst still. Du siehst zu wie eine Mutter, die lächelt, während ihre Söhne das Haus anzünden. Ich lache nicht über sie – sie sind Dummheit in Bewegung, ein Reflex aus Angst, ein Echo aus Gier. Aber ich lache über dich. Denn du, die Vulkane speien lässt und Kontinente verschieben kann, bleibst stumm.
Du bist eine Bühne, die ihre Schauspieler gewähren lässt, auch wenn sie die Bretter zerhacken, auf denen sie stehen. Vielleicht, so denke ich manchmal, ist es dein Wille. Vielleicht willst du sehen, wie viel Schmerz du tragen kannst, bevor du aufschreist. Vielleicht ist das ganze Schauspiel dein eigenes Werk, ein Stück über Zerfall, ein Theater der Verzweiflung.
Aber wisse: Ich sehe es. Jede Rauchfahne, jedes brennende Dorf, jedes Grab, das sich in deine Haut frisst – für mich sind es keine Tragödien, nur Markierungen, wie Striche auf der Wand eines Gefängnisses, das du selbst nicht verlässt. Und ich werde kreisen, ich werde zählen, und ich werde lachen – nicht über sie, sondern über dich, die zulässt, dass ihre Kinder sie vergewaltigen – und sich selbst dazu.
Die gläsernen Käfige
Ich sehe dich, Erde, und ich sehe sie – deine Kinder, die sich für frei halten. Sie sprechen von Möglichkeiten, von Horizonten, von Wegen ins Morgen. Doch wo sie sind, weiß ich genau: in Schachteln aus Glas, in Räumen aus Beton, in Straßen, die nirgendwohin führen außer zurück zu sich selbst. Sie haben sich Käfige gebaut und Fenster hineingesetzt, um den Blick nach draußen für Freiheit zu halten. Sie haben sich Netze gesponnen, aus Zahlen, aus Licht, aus Lärm, und nennen es Verbindung.
Sie tragen Ketten in der Tasche, leuchtend und flach, und glauben, sie hielten damit die Welt in der Hand. Und du, Erde? Du trägst es alles, wie Schmuck und wie Last zugleich. Millionen kleine Gefängnisse glänzen auf deinem Rücken, hell erleuchtet und doch blind. Ich habe viele Arten von Gefangenen gesehen: Ameisen, die sich zu Straßen legen, Termiten, die sich einmauern. Aber noch nie habe ich Wesen gesehen, die sich selbst einsperren – und es auch noch feiern.
Sie lachen in ihren Kammern, werfen mit Bildern, sprechen in Geräten, fühlen sich verbunden und kennen nicht einmal den Geruch des Regens. Sie glauben, Freiheit sei ein Bildschirm und Bewusstsein eine Wischbewegung. Und du? Du schweigst. Sag mir, Erde – ist das dein Wille? Wolltest du wissen, wie wenig ein freies Wesen braucht, um sich freiwillig zu fesseln? Wolltest du sehen, ob sie begreifen, dass Mauern nicht schützen, sondern trennen?
Aber sie lernen es nicht. Sie zeichnen Linien auf Papier und nennen es Besitz. Sie hängen ihre Augen an Scheiben und nennen es Erkenntnis. Sie sitzen in Räumen ohne Himmel und glauben, darin sei das Leben größer als draußen. Und du atmest weiter, schwer und geduckt unter all den Schichten, die sie auf dir errichtet haben. Du bist die erste Welt, deren Kinder die Freiheit fürchten und die Fessel lieben. Und ich? Ich sehe es, ich merke es, ich spiegele es. Ich kreise über dir und denke: Du bist nicht geknechtet. Du bist es, die den Schlüssel weggeworfen hat.
Das Schweigen der Wälder
Etwas hat sich verändert. Ich kreise wie immer, ich sehe dich atmen, Erde, langsam und flach. Deine Kontinente glänzen im Dunst, deine Flüsse winden sich wie alte Narben. Aber etwas fehlt. Es ist nicht Stille – Stille kenne ich. Es ist Schweigen, ein anderes, tieferes Schweigen.
Früher, wenn ich über deine Wälder zog, hörte ich sie, nicht mit Ohren, sondern mit jenem Sinn, den nur ein alter Zeuge kennt. Ich hörte das Knacken des Holzes, das Summen im Moos, das Grollen in den Bäuchen der Bäume. Ich hörte das Singen der Pilze, das Flüstern der Flechten, das Lachen der Blätter, wenn der Wind sie neckte. Jetzt ist da nichts. Kein Ruf, kein Wispern, nur Leere zwischen den Ästen, nur Luft, die keinen Namen mehr kennt.
Was hast du getan, Erde? Wo ist deine Sprache hin? Hast du sie verloren, vertrieben, vergraben? Ich sah sie kommen – deine Kinder mit Kreissägen und Maschinen. Sie fällten die Alten, noch bevor du dich verabschieden konntest. Sie verbrannten die Jungen, noch bevor sie wurzeln konnten. Sie rissen die Geschichten aus dem Boden, als wären sie Unkraut. Und du? Du hast geschwiegen. Oder hast du ab da selbst das Sprechen verlernt?
Vielleicht ist das dein Experiment. Vielleicht wolltest du wissen, wie viele Stimmen man dir nehmen kann, bis du selbst stumm wirst. Vielleicht hofftest du, dass sie zurückkehren, dich wieder hören, dein Lied erinnern. Aber sie hören nur sich selbst. Und du? Du atmest, schwer und still. Der Wind streicht durch leere Kronen, die Sonne fällt auf stumpfen Boden, die Nacht legt sich auf Stämme, die keine Träume mehr tragen.
Du bist die erste Welt, die sich ihre Sprache nehmen lässt, ohne Wut, ohne Tränen, ohne Widerstand. Und ich? Ich höre dein Schweigen, und es ist lauter als alles, was je war.
Die große Flut
Ich sah, wie dein Atem kälter wurde, wie dein Eis zu weinen begann. Nicht wie ein Kind – wie eine Göttin, die erkennt, dass ihre Schöpfung sie verraten hat. Ich kenne deine Geduld, Erde, ich habe sie gespürt in Jahrmillionen. Ich sah dich Meteore verzeihen, ich sah dich Kontinente formen, als wären es Spielzeuge in deinem Schoß. Ich sah dich Stürme bändigen und Feuer zähmen. Aber jetzt bist du still, zu still, und dein Schweigen ist schwer.
Ich höre es brechen in deinen Gletschern. Ich sehe, wie das Wasser steigt, nicht hastig, nicht wild, sondern wie eine Frau, die aufsteht, nachdem sie zu lange geschwiegen hat – langsam, würdevoll, unaufhaltsam. Ich sehe, wie das Meer die Küsten beschnuppert wie ein Tier, das bald beißen wird. Ich sehe, wie es die Deiche bespuckt, wie es an Fundamenten nagt, wie es wartet, nicht auf ein Signal, sondern auf den Moment, an dem du, Erde, ihm alles gibst.
Und du? Du gibst. Du öffnest dein Eis, du gibst dem Wasser Wege, du lässt es durch Adern fließen, durch Gestein, durch Erinnerung. Ist das dein letzter Satz, Erde – ein Satz aus Wellen und Schlamm, eine Geschichte ohne Worte, nur Bewegung, nur Vergessen? Ich sehe, wie Städte zittern, wie Türme keine Wirkung mehr haben, wie Straßen zu Flüssen werden und Namen im Schlamm ertrinken.
War das dein Plan? War der Mensch die Streichholzschachtel, mit der du dich endlich entzündet hast? Und ist das Wasser das, was dich wieder löscht? Du bist die erste Welt, die nicht mehr ruft, nicht mehr bittet, nicht mehr droht, sondern untergeht – bewusst, wortlos, majestätisch.
Und ich? Ich kreise über dir. Und zum ersten Mal verstummt mein Spott, nicht weil ich dich verstehe, sondern weil ich sehe: Du hast verstanden.
Der Hunger und die Tafel
Ich sehe dich, Erde. Deine Haut ist weit, deine Böden sind fruchtbar, dein Licht reicht in alle Richtungen, dein Regen fällt nicht nur auf Könige. Und doch – während die einen den dritten Gang ablehnen, vergraben die anderen ihr Kind im Sand. Ich sehe Festtafeln, endlos gedeckt in Städten, die nie schlafen. Ich sehe Essen, das weggeworfen wird, weil es zu braun, zu krumm oder zu alt ist. Und anderswo? Kinder saugen an ihren Knochen, Mütter lassen den Löffel leer, damit das Kind noch einen Tag übersteht, Väter schweigen in der Nacht, weil Worte nicht sättigen.
Und du, Erde? Du tust nichts. Du atmest und du trägst, wie eine Bühne, die nie fragt, wer auf ihr stirbt und wer speist. Ich lache nicht über sie, die essen, und nicht über sie, die hungern. Ich lache über dich. Denn du gibst allem Leben, aber du forderst nichts. Du stellst den Tisch und überlässt es den Gästen, ob einer verhungert, während der andere verschwendet.
Sag mir: Ist das dein Experiment? Wolltest du sehen, ob deine Kinder lernen, zu teilen, oder wenigstens zu sehen? Sie lernen es nicht. Du lässt Getreide verrotten in Silos, während anderswo Blätter zu Suppe werden. Du lässt Luxusboote gleiten, während ein anderes Boot an Hunger zerbricht. Ich frage dich: War das dein Beweis? Dass Mangel nicht in der Natur liegt, sondern im Menschen? Dass nicht zu wenig das Problem ist, sondern zu viel auf einer Seite?
Du bist die erste Welt, auf der man gleichzeitig an Völlerei stirbt und an Leere. Und ich? Ich kreise über deinen Kontinenten, ich zähle die Teller, ich zähle die Gräber und frage mich, wie lange du noch zusehen willst bei diesem Festmahl mit nur einer Einladung.
Der Staub des Fortschritts
Ich habe gesehen, wie sie Feuer machten, erst um sich zu wärmen, dann, um zu herrschen. Ich sah sie Eisen formen, Räder bauen, Motoren, Maschinen, Städte aus Kabeln und Himmel aus Lärm. Sie nannten es Fortschritt – und du, Erde, hast sie gelassen.
Ich sah sie aufsteigen in Raketen und Triebwerken, in Flammen, die den Himmel aufrissen, um ihn zu verlassen. Sie wollen fort von dir, sie sagen, du seist nicht mehr genug. Ich sehe sie durchs All zucken wie fliehende Funken. Sie suchen einen anderen Ort, bevor sie begreifen, was du bist. Sie träumen vom Mars, und ihre Meere sterben. Sie reden von Kolonien, während ihr Saatgut im Staub versinkt. Sie tragen Müll zum Mond, bevor sie ihre Strände säubern.
Ich lache nicht, nicht über sie, nicht einmal über dich. Ich frage mich nur: Ist das dein Wille? Wolltest du sehen, ob ein Wesen seine Mutter verlässt, bevor es begreift, was Heimat bedeutet? Du bist Ursprung, und sie nennen dich Last. Vielleicht hoffst du, dass sie dich eines Tages vermissen, dass sie umkehren, dass sie sehen, was du warst. Aber ich sage dir: Sie werden nichts finden. Kein zweites Blau, kein zweites Atmen, kein zweites Lied.
Und wenn sie dann zurückblicken – auf dich, auf das Staubkorn, das sie hinterließen – dann werden sie begreifen: Man flieht nicht aus einem Haus, das man selbst angezündet hat. Du bist die erste Welt, deren Kinder das All durchbohren, nicht aus Sehnsucht, sondern aus Schuld. Und ich? Ich sehe ihre Flugbahnen, ich sehe den Staub ihrer Ideen, und er schmeckt nach verbranntem Licht.
Die letzte Kerze
Ich sah dich leuchten, Erde, nicht im Licht der Sterne, sondern in einem anderen Licht, härter, greller, geboren aus Glut und nicht aus Gnade. Es begann harmlos, ein Feuer in einer Höhle, ein Tanz der Funken gegen das Dunkel. Dann kam das Wollen, dann kam das Mehr. Sie gruben tiefer, sie wollten dein Herz: Kohle, Gas, Öl. Sie warfen es in Öfen, die nie genug bekamen. Sie nannten es Fortschritt, du nanntest es nie.
Denn du schwiegst, während sie aus Wärme Macht machten und aus Licht Abhängigkeit. Du hast sie gewähren lassen, hast deine Schichten geöffnet, hast ihnen das Innere gegeben, als hättest du selbst das Verlangen, ausgebrannt zu werden. Ich sah Städte, die heller leuchteten als Sterne, Nächte, die keinen Himmel mehr kannten, Augen, die kein Dunkel mehr aushielten. Aber jetzt flackert es. Die Vorräte schwinden, die Leitungen zittern, die Maschinen laufen ins Leere.
Sie zünden Kerzen an – nicht aus Andacht, aus Angst. Ich frage dich, Erde: Ist das dein letztes Bild? Ein Planet, der sich selbst ausbrennt, damit es wenigstens hell ist, wenn er vergeht? Sie tanzen in diesem Licht, wie Motten, blind, besessen, bereit, darin zu sterben. Du bist die erste Welt, die ihr Feuer nicht hütet, sondern opfert – um nicht zu denken. Und ich? Ich sehe deine Glut verlöschen, nicht mit einem Schrei, nicht mit einem Sturm, sondern wie eine Kerze, die langsam stirbt, weil niemand nach dem Docht gesehen hat.
Epilog – Die Antwort
Du hast lange gesprochen, Bruder Mond. Du hast gekreist und gespottet, gezählt und gedeutet. Ich habe geschwiegen, nicht weil ich keine Stimme hatte, sondern weil ich wartete. Ich habe ihn zugelassen, den Menschen. Ich habe ihn geboren, genährt, gehalten – nicht aus Liebe, sondern aus Absicht. Denn ich hatte einen Pakt mit dem, der uns alle erschuf. Er nannte den Menschen Krone, ich aber sah den Dorn darunter. Er sprach von Ebenbild, ich aber sah den Spiegel. Also sagte ich: Lass mich ihn tragen. Lass mich ihn zulassen – nicht als Sohn, sondern als Frage.
Ich wollte wissen, was geschieht, wenn man einem Wesen alles gibt – Verstand, Feuer, Sprache, Hände – aber kein Maß. Und so ließ ich ihn. Ich ließ ihn trinken, bis meine Lungen schwarz wurden (der ewige Rausch). Ich ließ ihn bohren, bis mein Blut auf den Meeren lag (das schwarze Blut). Ich ließ ihn kämpfen, bis meine Haut durchsiebt war von Gräbern (die Schlachtfelder). Ich ließ ihn bauen, bis meine Täler zu Käfigen wurden (die gläsernen Käfige). Ich ließ ihn sägen, bis meine Wälder schwiegen wie Verstummte (das Schweigen der Wälder). Ich ließ ihn schmelzen, bis das Wasser kam (die große Flut). Ich ließ ihn teilen, bis der eine aß und der andere starb (der Hunger und die Tafel). Ich ließ ihn fliehen in Schalen aus Feuer, fort von dem, was er nie verstanden hatte (der Staub des Fortschritts). Ich ließ ihn brennen, bis selbst die letzte Kerze flackerte (die letzte Kerze).
Und nun, Bruder Mond, ist das Experiment beendet. Ich habe alles gesehen, ich habe alles getragen, ich habe dem Schöpfer gezeigt, was er geschaffen hat. Der Mensch ist keine Krone. Er ist ein Schnitt, ein Riss im Gleichgewicht. Er ist nicht größer als das Tier, nur gefährlicher. Er ist nicht tiefer als das Wurzelwerk, nur lauter. Er ist nicht weiter als der Wind, nur gieriger. Und doch: Ich hasse ihn nicht. Ich bin Erde. Ich richte nicht aus Wut, ich urteile aus Erfahrung.
Mein Urteil lautet: Der Mensch wird gehen. Nicht durch Krieg, nicht durch Strafe, sondern durch sich selbst. Ich werde ihn nicht töten, ich werde ihn vergessen. Und nach ihm wird Leben wachsen, leise, unbeobachtet, ohne Feuer, ohne Worte, ohne Krone.
Mond, ich höre deine Stimme zum ersten Mal – und zum ersten Mal lache ich nicht.