Die Asphaltfee und der Keiler

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Solange die Asphaltfee sich erinnern konnte, war alles grau, hartkantig und kalt , wenn sie alleine durch die Großstadtschluchten ihres Reviers wanderte.

Leere Fensteraugenhöhlen starrten teilnahmslos und starr in Reih und Glied auf sie herab. Gehetzte Fußgänger, die ihren Weg kreuzten, sahen durch sie hindurch, in Gedanken versunken, als wäre sie gar nicht da. Sie war es gewohnt und fühlte sich in der Vertrautheit der Anonymität wohl.
Meistens zumindest.
Nur manchmal war da dieses leise Sehnen. Wie eine Erinnerung, die ihr stets entschlüpfte, bevor sie ihrer ganz habhaft werden konnte.

Als sie dem Keiler begegnete, lag ein Frühlingserwachen in der Luft, das sich bis in die Tiefen der Betonwälder gedrängt hatte.
Schon den ganzen Tag waren ihre Sinne hellwach - bereit für ein Erblühen, auch wenn sie noch nicht wusste, was da zu sprießen begonnen hatte.

Plötzlich stand er einfach vor ihr.
An der Kreuzung im Morgenlicht einer Sonne, die nur an schmalen Stellen ihren Weg durch die tiefen Glas- und Betonschluchten hindurch ins Herz der Stadt fand.
Mitten in der Verkehrshektik der städtischen Betriebsamkeit.
Sein Fell war dunkel, dicht und borstig, sein Geruch so naturnah, dass die Menschen in ihren Business-Outfits furchtsam einen großen Bogen um ihn machten, um nur ja nicht mit ihm in Berührung zu geraten.

Doch er ignorierte sie einfach.
Stand dort, unverrückbar, und grunzte. Unbeeindruckt, ungeniert, laut und genüsslich.
So fremd war der Klang seiner kehligen Laute hier in der City, dass er sich von all den Motorengeräuschen, klappernden Absätzen eifriger Büro-Ladies, Fahrradklingeln und dem Straßenbahngebimmel und -gequietsche abhob. Wie ein Ton, der herausfiel aus dem Ganzen, weil er nicht hierhergehörte und dennoch sein ganz eigenes Revier damit in Anspruch nahm.

Sein Blick war auf sie gefallen.
Sie war abwartend erst einmal still stehengeblieben. War einerseits auf der Hut, andererseits wollte sie dieses stolze Tier nicht verschrecken oder gar gegen sie aufbringen.
Ihr Instinkt sagte ihr, dass es sich ebenso ein klein wenig fremd in diesem Revier hier fühlte wie auch sie manches Mal.
So, wie sie sich hinter der Fassade der Ruhigen, Unnahbaren versteckte, ahnte sie, dass seine Fassade des lauten, wilden Tieres etwas verbarg, das sich nach Sanftheit sehnte.
Nach Berührt-Werden und Stillhalten-Dürfen, ganz ohne Gefahr.

Sie streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus.
Zwischen ihnen lagen noch gut vier, fünf Meter. Dennoch knisterte das Fell des Keilers leise und einige der Borsten richteten sich auf, als würden sie elektrisch angezogen. Auch sie konnte ein zartes Kribbeln in ihren Fingerspitzen wahrnehmen.
Voneinander gebannt, bewegten sie sich aufeinander zu. Langsam, dennoch stetig und von einer unbestimmten Neugier getrieben.

Er reichte ihr bis an die Taille. Seine Hauer waren scharf und stattlich, wie seine ganze Erscheinung, und standen in starkem Kontrast zu ihrer Zartheit. Doch in seinen Augen lagen ein Erkennen und eine Einladung. Sanft glänzten sie ihr entgegen, während sie bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte.

Er war mitten auf der Kreuzung und den darauf verlaufenden Straßenbahnschienen stehen geblieben, doch anstatt – wie sonst auch – wütend zu bimmeln, hatte der Wagenführer den Zug einfach angehalten. Auch die anderen Fahrzeuge und Passanten waren zum Stillstand gekommen. Erstarrt, als hätte eine unsichtbare Hand den Film angehalten. Es gab nur noch sie und den Keiler. Keine Geräusche drangen zu ihnen durch. Nicht die kleinste Regung war wahrzunehmen, außer im Fell des Keilers, durch das ab und zu sanfte Wellen gingen als striche der Wind hindurch.

Er grunzte noch einmal leise und schüttelte seinen massigen Kopf, als sie ganz langsam direkt vor ihm in die Hocke ging. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Doch das Sehnen war erwacht und stärker als jede Furcht. Sie konnte nicht anders - sie musste ihn berühren!

Vorsichtig legte sie ihre Hand an seinen breiten Nacken. Ihre Finger berührten starke, geschmeidige Borsten und sie fühlte darunter all seine Kraft. Ihre Augen registrierten sein zartes, angespanntes Zittern, das direkt unter dem Fell seinen Rücken entlanglief. Ihre Nase roch Wald, Natur, Wildheit und Leben.
Dann strich sie über seine Kruppe. Sacht, sich vorantastend. Neuland erobernd.

Er ließ es geschehen.
Schließlich lehnte er sich ihr ein klein wenig entgegen und schloss die Augen. Voller Vertrauen, voller Hingabe an ihre Zartheit.

Es war der Moment, in dem sich die Senkrechten der Betonriesen um sie herum in hohe Baumstämme verwandelten. Wo jedes Fenster Zweige trieb, an denen saftiggrüne Blätter wuchsen. Wo die Fußgänger zu frischen Farnbündeln am Wegesrand wurden, über die sie so gerne mit ihrer offenen Handfläche striff im Vorübergehen; Berührung schenkend und empfangend zugleich. Wo Autos zu Felsbrocken, zu moosüberwucherten Findlingen im Wald wurden, die dort vor vielen Zeitaltern ihren Platz gefunden hatten. Vogelschwärme flogen hoch über ihnen zwischen den Baumriesen hindurch. Alles lebte und pulsierte. So wie sie beide aneinander.

Mit ihm war ihre Natur zu ihr zurückgekehrt. Mit ihr die leisen Töne zu ihm.
Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Fell. Atmete ihn ein.
Dann schwang sie sich auf seinen Rücken und ließ sich von ihm weitertragen.
Sie beugte sich vor und flüsterte in sein Ohr: „du“.






.überarbeitet und eingestellt: august_2022
 

petrasmiles

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Eine faszinierende Geschichte und gut geschrieben, inhaltlich ist es nicht so meins - vielleicht wegen des utopischen Aspekts?
Du hast den Zauber sehr gut eingefangen und eine adäquate Sprache gefunden.

Liebe Grüße
Petra
 
Wow, toll geschrieben und auch den Spannungsbogen gehalten bis zum Schluss. Wo die Reise der beiden hingehen wird?
Die Transformation von Beton zu Wald ist besonders ausdrucksstark.
Beislgrüße
 

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Liebe Petra, lieber Hans, lieber Onivido!

Herzlichen Dank für die feinen Kommentare! Da dies hier ein schon älterer Herzenstext von mir ist, habt ihr mir damit eine besondere Freude gemacht!

Liebe Grüße,
fee
 



 
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