Die Bewerbung

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Vitelli

Mitglied
Oder: Die rote Blume an der Tür

Man sagt, deinen ersten Mord, den vergisst du nie.
Ich war vierundzwanzig.

Ein Wagen hupte zweimal – mein Zeichen. Ich schaute aus dem Fenster nach unten auf die Straße; eine Hand grüßte aus dem Fahrerfenster, und ich grüßte zurück. Ich schloss das Fenster und schaute mich in meiner kleinen Bude um. Ich hatte extra aufgeräumt und gründlich saubergemacht. Ich weiß auch nicht warum, aber ich wollte keine Unordnung hinterlassen, sollte ich diese Welt heute verlassen. Ich warf noch rasch einen Blick ins Schlafzimmer – es kam einem Abschied gleich.

Ich nahm meine Jacke von der Garderobe, wich meinem Spiegelbild aus, öffnete die Wohnungstür und ging hindurch. Ich zog sie zu und hielt immer noch den Knauf in der Hand. Bis zu diesem Tag wäre ich nicht im Stande gewesen, den Türknauf zu beschreiben. Langsam löste ich meine Hand, bis nur noch die Fingerspitzen den Knauf berührten. Es hupte erneut zweimal, und ich nahm diese Ermahnung dankend an. Meine Finger glitten vom Knauf und ich eilte die vier Treppen der zwei Stockwerke hinunter.

Unten angekommen schritt ich durch den langen Flur des alten Gebäudes und öffnete die schwere Eingangstür. Die Sonne blendete mich beim Austritt, sodass ich mir eine Hand schützend über die Augen hielt.

Ich lief um den am Straßenrand geparkten Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Ich schloss die Tür, und der Wagen setzte sich in Bewegung.
"Was hat das denn so lange gedauert? Dachte schon Du kneifst."
Ich bewegte meinen Kopf langsam von links nach rechts und wieder zurück.
"Endlich haben wir den Bastard. War gar nicht so leicht ihn zu erwischen. Hatte sich rausgeschlichen. Um seine Alte zu ficken. Das hat er nun davon."
"Mm-mh."
"Den Tipp hatten wir von ihr." Jan sah mich an und grinste. "Meine Jungs haben gewartet bis sie fertig waren, und sind dann rein, als sie rauskam - diese Schlampe." Jan lachte. "Das Geld hatte sie schon, aber den Fick wollte sie sich nicht entgehen lassen - diese Schlampe." Er schüttelte lachend den Kopf. "Fotze."
Ich sagte: "Hmm, vielleicht sollte ich mal bei ihr vorstellig werden."

Jan grinste schmierig. "Du schmutziger kleiner Bastard. Aber so ein hübscher Bengel wie Du – ja, das könnte ihr gefallen." Er schnalze mit der Zunge und zwinkerte mir zu. Anschließend drosch er mit der rechten Hand mehrmals gegen das Lenkrad und schrie: "Diese dreckige Schlampe!" Dann, jedes Wort in die Länge ziehend, wiederholte er: "Diese dreckige Schlampe."
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, stellte er sich dabei irgendeine Perversität mit oder von ihr vor. Er atmete schwer, schlug erneut aufs Lenkrad ein und schrie abermals: "Diese dreckige Schlampe!"
Ich sah ihn an und fragte: "Wieviel hast du denn heute schon gezogen?"
Er kicherte widerlich. "Vor sowas bring ich mich immer in Stimmung."
Na super, dachte ich.
Derweil fuhr Jan wie ein Geisteskranker: Er hupte unentwegt, wechselte mehrmals die Spur und schrie andere Verkehrsteilnehmer, bevorzugt Radfahrer, an.

"Wenn er tot ist", sagte er wie aus dem Nichts und völlig gefasst, "dann geht’s hier demnächst richtig ab - da kannst Du dich schon mal auf was gefasst machen."
"Mm-mh."
"Und wenn Du ihn erledigt hast, dann gibt mein dummer Bruder auch endlich Ruhe. Er traut Dir nämlich nicht, weißt du."
Ich lachte. "Wieso – hält er mich für’n Cop?"
Jan lachte auf; dann sagte er: "Er meint, Du wärst nicht ganz koscher - was immer das auch heißen mag."
"Wie kommt er drauf?"
"Weiß nicht. Wärst ´ne zu Spur zu gerissen."
Ich lachte.
"Von ihr wissen wir, dass Du nicht zu denen gehörst. Und so wie Du säufst und Dir Speed reinballerst, kannst Du kein Cop sein."
"Ah, du gehst also nach dem Ausschlussverfahren vor, verstehe."
Jan lachte. "Ach, mein beschissener Bruder ist übervorsichtig - der traut niemanden. Aber wenn Du den Wichser erledigt hast, kann er Dir nix mehr – dann bist Du drin."

Wie parkten auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Apartment-Komplexes. Es war ein ziemlich heruntergekommenes Gebäude, eine ehemalige Behörde im Plattenbaustil, deren einstigen Büroräume zu Apartments umgebaut worden waren, als die Stadt den Zuschlag für die Seefahrtsschule erhielt und die Studenten irgendwo untergebracht werden mussten. In den Umbau investierte man nicht einen Cent mehr als unbedingt nötig.
Wilko, der Typ mit der kurzen Lebenserwartung, hatte dort ein Apartment für seine Schäferstündchen gemietet, da er noch zu Hause wohnte.

Wir überquerten die Straße und gingen an der Schranke sowie den unzähligen Briefkästen vorbei zur Eingangstür. Wir mussten uns keine Sorgen machen gesehen zu werden - hier kannte niemand niemanden, so oft wechselten die Mieter. Im Gebäude angekommen liefen wir über einen grauen Vinylboden. Das ganze Gebäude und jedes der Apartments war mit diesem billigen Boden ausgestattet. In jeder Ecke und unter jeder Heizung tummelten sich Wollmäuse.

Wir mussten in den fünften Stock; einen Fahrstuhl gab es nicht. Jan war aus der Puste, als wir oben ankamen. "506", keuchte er. Mit dem Jackenärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Als wir den richtigen Flur gefunden hatten, schritten wir die Apartments auf der rechten Seite ab: 502, 504, 506 – Bingo.

Jan blieb - mit dem Rücken zur Wand - kurz vor der Tür stehen. Er gab mir ein Zeichen, dass auch ich stehen bleiben sollte. Ich blieb stehen. Jan schaute sich um; niemand war zu sehen. Mit dem Fingerknöchel seines rechten Mittelfingers klopfte er in einer bestimmten Abfolge leise an die Tür. Eine Stimme drang aus dem Apartment, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und wir huschten hinein.

Das karge Apartment maß vielleicht dreißig Quadratmeter, wenn überhaupt. Die Wände waren kahl und es roch nach Sex und kaltem Zigarettenrauch. Wir gingen durch den schmalen Flur am Bad und an der Kochnische vorbei und standen bereits mitten im Raum. Es gab nur ein Fenster, und die Jalousie war heruntergelassen.

Auf einem Stuhl inmitten des Wohn-/Schlafzimmers saß Wilko, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, die Unterschenkel an den Stuhlbeinen fixiert; schwarzes Klebeband hielt seinen Mund geschlossen.
Wilkos Augen waren weit aufgerissen und angsterfüllt. Zwei bewaffnete Männer standen links und rechts neben ihm. Einer war breiter als der andere.

"Na-na-na, wen haben wir denn da?" sagte Jan in einem Ton, als spräche er mit einem Kleinkind. Er kniff dem verschnürten Typen in die Wange. Die beiden Schränke lachten; Wilko gab komische Töne von sich. Anschließend streichelte Jan Wilko über den Kopf und sagte: "Ja was willst Du denn? Ja was willst Du denn? Ich kann dich nicht verstehen – Du nuschelst so." Alle lachten. Ich lachte erst, als man zu mir rüber schaute. Jan zeigte mit dem Finger auf mich und stellte mich den Schränken vor. Ich hob die Hand zum Gruß, und die Schränke nickten. "Keno ist heute hier, um sich seine Sporen zu verdienen." Jan tätschelte Wilko die Wange. "Und Du bist sein Gesellenstück." Wieder Gelächter.

Jan ging in die Hocke, legte die Unterarme auf Wilkos Knie und sah ihn an. Als Wilko sich daraufhin zur Seite wandte, schrie Jan ihn an: "Schau mich gefälligst an, Du kleiner Pisser." Einer der Schränke haute Wilko wuchtig mit der flachen Hand gegen den Kopf. Nachdem sich sein Kopf ausgependelt hatte, schaute er Jan in die Augen, so wie dieser es von ihm verlangte. Jan sagte nun mit besonnener Stimme, "Spaß beiseite, Kleiner - wir müssen uns jetzt leider von Dir verabschieden", und stand auf.

Wilkos Augen füllten sich mit Tränen; nacheinander liefen sie seine Wangen hinunter. Er wimmerte und machte sich nass. Jan fuhr fort: "Für das, was jetzt kommt, kannst Dich bei Deiner Familie bedanken." Jan wusste gar nicht, wie recht er damit haben sollte.

Jan stand auf. Einer der Schränke überreichte ihm eine .38. "Ist er sauber?" Der Schrank nickte. Mit einer lässigen Bewegung ließ Jan die Trommel herausspringen. Es steckten sechs Kugeln in sechs Kammern. Mit einer ebenso lässigen Bewegung ließ er die Trommel wieder zurückschnappen.

Wilkos Wimmern wurde lauter. Er versuchte sich mitzuteilen, was der Knebel jedoch verhinderte.

"Du" - Jan zeigte auf einen der beiden Schränke - "geh zur Tür und pass auf, dass niemand kommt." Der Schrank tat wie ihm befohlen.
"Okay, Keno, jetzt ist es soweit." Ich nickte.

Er hielt mir den Revolver auf der flachen Hand entgegen, den Griff zu mir gewandt. Er schien nagelneu zu sein. Ich nahm ihn und prüfte sein Gewicht; warum, weiß ich nicht. Ich entsicherte ihn und legte den Finger an den Abzug, aber noch ohne zu zielen.

"Die Luft ist rein", rief der Schrank von der Tür. Der andere Schrank trat an Fenster und spähte durch die Jalousie.

Ich richte den Revolver auf Wilko, der daraufhin seinen Kopf wie Stevie Wonder hin und her zu werfen begann.

Jan sagte: "Du gibst ihm eine in die Brust und dann eine in die Stirn." Ich nickte. "Das erste Mal ist immer etwas komisch", ergänzte Jan und trat einen Schritt zurück. Ich spannte den Hahn und richtete den Lauf auf Wilkos Brust; er schüttelte sich, als hätte er einen epileptischen Anfall. "Am besten", sagte Jan, "du denkst gar nicht lange drüber nach, und tust es einfach." Und genau das tat ich.

Ich wandte mich nach rechts und schoss Jan in sein verdutztes Gesicht; es explodierte förmlich. Dann schwenkte ich nach links und schoss auf den perplexen Schrank – er bot ein gutes Ziel. Ich traf ihn inmitten der Brust, und er gab einen Zischlaut von sich. Er wollte irgendetwas sagen, doch anstatt von Worten kam Blut aus seinem Mund. Ich schoss ihm in die Stirn. Er verdrehte die Augen und fiel um wie eine Bahnschranke. Aus Richtung der Tür hörte ich: "Drei Schüsse? Wie schlecht schießt denn Kerl?!"

Ich trat in den Flur und sah, wie der noch lebende Schrank durch den Türspion schaute. Ich schoss ihm ohne Umschweife in den Hinterkopf. "Der schießt gar nicht mal so schlecht."

Der Schrank rutsche langsam an der Tür hinab und hinterließ eine Blutspur, die der Schleimspur einer Schnecke gleichkam. Um den Türspion herum war alles voller Blutspritzer; es sah aus, als hätte Jackson Pollock eine rote Blume an die Tür gemalt.

Wilkos nervige Danksagungen und Fragen ignorierend, lieferte ich ihn wie ein UPS-Paket bei seiner Familie ab und sagte, dass dies mein Bewerbungsschreiben sei. Man wollte mich zum Bleiben bewegen, doch ich lehnte ab. Stattdessen schrieb ich Namen und Adresse auf einen Zettel. Tags drauf kam man mich besuchen, um mir auf den Zahn zu fühlen. Das Ende vom Lied: Ich war drin. Und Wilko raus.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Spannende Geschichte, in schön lakonischem Ton!

Verbesserungsvorschläge:

Oder: Die rote Blume an der Tür
Das verwirrt. Entweder wird das der einzige Titel oder du lässt das weg.

Man sagt, deinen ersten Mord, den vergisst du nie.
Ich war vierundzwanzig.

Die beiden Sätze würde ich an den Schluss stellen, sie nehmen zu viel vorweg.

Ein paar Absätze weniger würden dem Text gut tun!


Gruß zum Sonntag,

DS
 



 
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