Die Chance

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Bookwood

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Die Chance
Ihre kleinen Augen guckten ängstlich um die Ecke. Vorsichtig, geradezu tastend suchte sie den Raum hinter der Ecke ab, suchte nach ihr. Sie hat länger schon keine Anzeichen, keine Schritte, kein Geklapper gehört. Nur deswegen hat sie sich überhaupt getraut, aus dem Zimmer zu gehen. Seit sie denken kann, macht sie das schon so. Etwas, was ihr großer Bruder ihr sofort beigebracht hatte, als sie die ersten, noch tapseligen Schritte freudestrahlend auf ihn zugemacht hatte. Bevor er sie im Stich ließ. In der Schule hatte sie gelernt, dass die ersten Schritte etwas Besonderes waren, hatte sie Videos gesehen, in den kleine Kinder unter aufmunternden Rufen auf Kameras zugelaufen sind. Sie hatte ihre Schritte immer nur zum Weglaufen gebraucht. Oder zum Anschleichen. Wie jetzt.
Manchmal war die Stille trügerisch, das hatte sie gelernt. Dann saß sie noch in der Küche, hinter dem Wein. Und wenn sie sie entdeckt hatte, wurde dann alles immer schlimmer als davor. Wenn das denn ging. Aber es ging immer. Dann sprach sie mit dieser pelzigen Stimme Sachen aus, die sie zwar schon kannte. Aber trotzdem trafen sie die Worte dann immer schlimmer. Sie schienen von tiefer zu kommen. Aus der Seele, wenn es denn sowas wirklich gibt. Worte, auch das hatte sie in der Schule gelernt, die nicht alle Kinder hören mussten. Auch nicht die, die mit ihrer Mutter alleine lebten, wie sie: „Mit dir hat das Unglück begonnen. Dein Vater hat mich nur verlassen, weil ich wegen dir dick und fett geworden bin. Dein Bruder war unser Wunschkind. Den wollten wir. Aber du hast ihn gegen uns aufgehetzt. Wegen dir ist er weg! Wir wollten dich nie! Du hast dich eingeschlichen. Wie Gift.“
Diese Worte trafen sie mehr als das Glas, das nach ihr geworfen wurde, weil es meistens nie traf. Aber natürlich war sie dann Schuld am Fleck an der Wand. Oder als die Schläge, weil der Wein ihr auch die Kraft raubte. Diese Worte nahm sie mit ins Bett, sie drehten sich in ihrem Kopf, die wurden größer, weiteten sich aus, nahmen immer mehr Platz ein. „Wie Gift.“ Das nahm sie mit, wenn sie morgen aufstand. Das konnte sie nicht abwaschen, wenn sie im Bad stand. Das lag in ihrer Butterbrotsdose, die sie mit in den Kindergarten nahm, in der meistens sonst nichts lag. Da, wo sie wohnte, war das nicht ungewöhnlich. Keiner schöpfte Verdacht.
In der Grundschule bekam sie eine Ahnung davon, wie anders es sein könnte. Aber sie blieb eher für sich. Sie versuchte, nicht aufzufallen. Denn Auffallen, das bedeutete Ärger. Das hatte sie zuhause gelernt. Also fiel sie nicht auf. Sie machte ihre Hausaufgaben, lernte für die Arbeiten, die sie zuerst noch stolz nach Hause brachte. Aber Stolz und Erfolg fallen auf, bringen nur Ärger: „Hältst du dich jetzt für was Besseres! Brauchst jetzt gar nicht hier anzugeben!“ Also lernte sie neben dem Schreiben die Unterschrift ihrer Mutter. Es schien keinen zu interessieren, dass diese so gemalt aussah, so kindlich. Ihr traute keine eine Fälschung zu. Ihr nicht. Sie war gut. Sie fiel nicht auf.

So verging das erste Schuljahr. Die Sommerferien waren schlimm. Die Hitze machte ihre Mutter nur noch wütender, die Wohnung wurde noch kleiner. So ging es immer weiter, auf ein Schuljahr folgte der Sommer, folgte das neue Schuljahr. Sie wuchs und lernte. Jetzt war sie in der dritten Klasse. Sie sah, wie sich Freundschaften bildeten, Kinder ihre Handys bekamen, sich ärgerten, schlugen und vertrugen. Sie hielt sich raus. Beobachten. Zuhören. Und sie verstand immer mehr, wie anders ihre Welt war. Und so lernte sie jeden Tag: Sie war nicht normal, ihr Welt. Nichts. Nicht das immer gleiche Essen, wenn es welches gab. Nicht die Beleidigungen, Beschimpfungen, die Schläge. Es war nicht normal zu denken, man sei Gift.
Von da an wurde alles schlimmer. Es wurde alles besser.
Schlimmer, weil es diese andere Welt scheinbar gab. Aber genau deswegen wurde es besser. Es gab sie. Das hieße, sie könnte in diese neue Welt kommen. Sie existierte. Es war also möglich. Irgendwie. Vielleicht hat ihr Bruder sie nicht im Stich gelassen. Vielleicht hat er sie erreicht, diese andere Welt. Vielleicht vergaß man in der neuen einfach die alte Welt. Vielleicht hat er sich deswegen nie bei ihr gemeldet.
Und so wuchs in ihr etwas, das sie bisher nicht kannte und das - da war sie sich sicher - viele ihrer Klassenkameraden auch nicht kannten, nicht kennen mussten: Sie hatte in ihrem Leben nun ein Ziel, so etwas wie – ihr fehlten die Worte, das Gefühl zu fassen. Aber es füllte sie aus. Irgendwann, nahm sie sich vor, schaffe ich es. Und sie ging jeden Tag weiter zur Schule, um mehr zu lernen. Sie lernte, wie andere Familien miteinander redeten. Sie lernte, wo der Haustürschlüssel lag. Sie lernte Busfahrpläne. Sie lernte mehr für dieses eine Ziel. Noch war die Angst zu groß, noch war sie zu klein. Bald. Tag für Tag.
Aber seit drei Wochen war keine Schule. Einfach so. Von heute auf morgen. Zuhause gab es keine Nachrichten. Fernsehen durfte sie nie, auch wenn der Fernseher eigentlich den ganzen Tag lief. Ihre Welt war ihr Zimmer. Aber irgendwo hatte sie irgendetwas von einem Virus gehört, einer Krankheit, wie ein Gift. Wie sie. Also musste sie zuhause bleiben. Ihre Mutter auch. Seit drei Wochen.
Drei Wochen trennten sie schon von dieser neuen Welt. Es war genug. Also packte sie ihre alte Welt in ihren kleinen Rucksack, das, was sie mitnehmen wollte. Sie wartete, bis sie nichts mehr hörte. Sie schlich sich aus dem Zimmer. Sie schaute ängstlich um die Ecke. Geradezu tastend suchte sie den Raum ab. Sie saß mit dem Kopf auf der Brust am Küchentisch hinter dem Wein und atmete tief. Kein falscher Alarm.
Eine Chance.
Langsam schlich sie zur Tür, sie nahm den Schlüssel aus seinem Versteck. Sie öffnete und schloss die Tür ohne Lärm. Dann rannte sie die Treppe hinunter. Sie begegnete niemandem. Sie öffnete die Haustür und trat auf eine menschenleere Straße. Keine Autos. Wo waren die Autos hin? Was war hier los? Dann sah sie zwei Menschen kommen. Beide trugen Masken und eilten verschreckt an dem kleinen Mädchen mit dem bunten Rucksack vorbei. Was war hier passiert?
Die Tür hinter ihr fiel ins Schloss. Mit dem Schlüssel in der Hand zögerte sie. Dann drehte sie sich langsam um, zurück zur Tür.
 



 
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