Die Chroniken der Elemente
Der Kreislauf des Schicksals
Prolog
-Königreich des Wassers. Aquilumina. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung. Später Nachmittag-
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages spiegelten sich auf der Oberfläche des Lumari-Sees und tauchten Aquilumina in einen warmen, goldenen Glanz. Der Fluss Karvaque, welcher den gigantischen See speiste, schlängelte sich durch die sanften, grünen Hügel und umfloss die Stadtmauern. An der Stelle, an der der Fluß auf die Stadt traf, hatten die Ingenieure des Königs einen künstlichen Graben angelegt und verstärkt, sodass sie den Fluss an beiden Seiten um die Stadt leiteten, bevor er sich in den See ergoss. Nur eine massive, hölzerne Zugbrücke verband die Stadt mit dem Festland an der östlichen Seite. Sonst war Aquilumina komplett von Wasser umschlossen.
Die letzten Bewohner drängten sich vor dem großen Stadttor zusammen, um vor Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zu gelangen. Dort, wo die Zugbrücke auf das Festland traf, befand sich ein Torhaus, in welchem nun der Eintritt verhandelt wurde.
Seitdem es Gerüchte über Rebellen im Reich des Wassers gab, galt die strikte Anordnung, nach Einbruch der Dunkelheit die Tore der Stadt verschlossen zu halten.
Aquilumina war eine malerisch schöne Stadt. Alle Straßen hinter der hohen Stadtmauer waren gepflastert und sauber gekehrt. Es wuchs kein Unkraut zwischen den glatt getretenen Steinen. Die Häuser schmiegten sich aneinander und übertrafen einander, was Verzierungen und Dekorationen anging. Die Häuser waren alle mit Kalkstein verputzt und hielten sich in einem reinen Weiß, die Dächer der Häuser waren mit metallenen Schindeln gedeckt und schimmerten metallen und bläulich. Die Sonne reflektierte sich in diesem Metall beinahe so schön wie im klaren Lumari-See und zauberte wunderbare Reflektionen an die Wände. Wenn es regnete, erklangen schöne Geräusche, ähnlich Musik, vom Prasseln der dicken Tropfen auf die metallenen Dächer. Aquilumina war eine reiche Stadt. Das war aber auch kein Wunder, war sie doch die Hauptstadt des Reichs des Wassers und Heimat des Königs sowie die Niederlassung der Magischen Schule. Auch die Handelsvereinigung des Reichs hatte hier ihre wichtigsten Gebäude und die Stadtwachen leisteten hervorragende Arbeit, Diebe und Obdachlose aus der Stadt zu halten. Eine so gute Arbeit, dass es eben seine Zeit dauern konnte, all die Besucher, welche mit den letzten Strahlen der Sonne in die Stadt strömen wollten, zu kontrollieren. Aber die Anweisungen waren eindeutig. Jeder Besucher der Stadt wurde auf einer Liste verzeichnet. Jeder Bewohner musste sich ausweisen. Wer seine Papiere nicht hatte, kam nicht mehr herein, ohne ein Besucheraufnahmeformular auszufüllen und den notwendigen Obolus zu entrichten. Das stieß natürlich nicht immer auf Wohlwollen bei der Bevölkerung. Aber der Preis der Sicherheit lautet nun mal Freiheit.
>Ich bin der Besitzer vom springenden Wasserpferd! Ich lebe seit ich ein kleiner Hosenscheißer bin in dieser Stadt und war nur für ein paar Stunden weg, weil Ihr keine Lieferanten reinlasst und ich auswärts verhandeln musste! <,
brüllte ein fleischiger, wütender Mann, der die meisten seiner Haare an die Zeit verloren hatte. Sein fleischiger Kopf ohne Bart war vor Zorn rot angelaufen, so wie eine reife Tomate. Schweiß und Spucketropfen flogen auf die polierte Rüstung der Stadtwache, mit der er sich gerade stritt. Er schien, als habe er keinen Hals und wirkte wie eine wütende Schildkröte. Seinen Körper hatte er in einen orangen Samtanzug gepresst, welcher bestimmt zwei Nummern zu klein war und dessen Knöpfe so unter der Spannung der in Wallung geratenen Wampe ächtzten, dass sie vermutlich eine größere Gefahr für die Wachen darstellen, als seine fette Faust, die er drohend erhoben hatte.
Jinka atmete genervt durch. Als er sich vor vielen Jahren für die Stadtwache der Hauptstadt beworben hatte, waren seine Vorstellungen deutlich ruhmreicher gewesen. Auf jeden Fall waren die täglichen Diskussionen mit drittklassigen Kneipenbesitzern nicht Teil dieser Fantasie. Aber auch das gehörte nun mal zur Aufgabe der Wachen. Und so versuchte er mit beschwichtigendem Ton, den wütenden Unternehmer zu beruhigen.
>Ich verstehe dich mein Lieber, aber du musst einsehen, dass jeder, der ohne die richtigen Papiere einreisen will, sich hier registrieren und Wegzoll bezahlen muss. Ob Einwohner der Stadt oder nicht. Ich kann bei dir eben so wenig eine Ausnahme machen wie bei jedem Anderen.<
Jinkas Wachpartner Ferd stand schräg hinter dem wütenden Mann und konnte sich ein schadenfrohes Lachen nur mit Mühe verkneifen. Ferd war immer schon der Meinung gewesen, dass man sich nie auf eine Diskussion mit den Bürgern einlassen darf und es belustigte ihn immer wieder zu sehen, wie Jinka versuchte, der Freund und Helfer zu sein, der er nun mal für die Leute sein wollte.
Der Kneipenbesitzer indess wollte sich nicht beruhigen, sondern drehte im Gegenteil noch mehr auf. Sein Gebrüll und Gezeter steigerten sich immer mehr und als er schließlich einen Schritt auf Jinka zumachte, um diesen zu packen, wurde es auch ihm zu bunt.
Eine kurze, körperliche Auseinandersetzung später und der Mann, welcher zuvor noch vor Wut geschrien hatte, brüllte nun vor Schmerz, während Ferd ihm den Arm so weit auf den Rücken drehte, dass Jinka Angst hatte, er würde dem armen Mann die Schulter ausrenken oder sogar brechen. Warum musste es auch immer so weit kommen? Warum wurde Freundlichkeit immer mit Schwäche verwechselt?
Während Jinka zur Seite trat, um Ferd und den Heulenden vorbei zu lassen, hörte er Ferd diesem feixend sagen:
>Gratuliere, du kommst jetzt wohl doch schneller in die Stadt. Allerdings werden wir einen kurzen Zwischenstopp in der Wachstube machen müssen!<
Jinka verdrehte die Augen, musste aber ein bisschen Lächeln. Das war Ferd.
Da drängten schon die nächsten vor, und fuchtelten wie wild mit ihren Papieren, um das Prozedere so schnell wie möglich abzuwickeln, bestenfalls ohne die Sonderbehandlung, welche der Mann vor ihnen bekommen hatte.
Hinter dem Tor führte der Weg über die massive Zugbrücke aus mit Stahl verstärktem Eichenholz. Ohne Probleme konnten hier mehrere Wagen nebeneinander gezogen werden und es war trotzdem noch reichlich Platz. Am anderen Ende erhob sich die Monströse Stadtmauer. Penibel genau waren die wuchtigen Steinquader aufeinander geschichtet worden, dass nicht einmal eine Dolchklinge in den Zwischenraum gepasst hätte. Sie erhob sich gen Himmel, so hoch wie vierzig Mann übereinander. Ein beeindruckendes und unüberwindbares Bauwerk, das aus der Zeit stammt, als das Reich des Wassers noch mit den Bergmaden Handel trieb. Sollte es jemals ein Angreifer über den breiten, reißenden Fluss schaffen, würde er an dieser Wand verzweifeln. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass jemand es so weit heranschaffen würde, denn die Türme, welche die Mauer alle 200 Schritte zierten, waren noch höher und mit Katapulten und Speerwerfen bestückt und würden jeden Angreifer zerlegen, lange bevor er die Ufer des Karvaque überhaupt erreichte. Außerdem war die Stadt auch der Sitz der Magierakademie, welche auf einer Felsformation etwas abseits der Stadt im See lag und somit jeglichen Angreifer doppelt abschreckte. Denn die Magier des Reichs des Wassers waren nicht ohne Grund gefürchtet. Auch ohne einen reißenden Strom oder einen riesigen See waren die stärksten fähig, Stürme zu entfesseln, Peitschen oder Geschosse aus Wasser zu formen oder auch Wasser explosionsartig verdampfen oder gefrieren zu lassen, was Belagerungsgeräten schnell den Garaus machte. Ja, Aquilumina war eine sichere Stadt. Daran konnten auch ein paar zornige Rebellen nichts ändern, weswegen viele Aquilumianer der Stadt dem König und den Wachen die verschärften Sicherheitsmaßnahmen mehr als übel nahmen.
So hieß es, der König würde das nur als Ausrede nutzen, um sich an den Unruhen im Reich zu bereichern und Zölle zu verlangen, wo keine von Nöten waren.
Jenseits der Stadtmauer, welche die Stadt zu zwei Drittel umschloss und nur zum See hin offen war, erstreckten sich die Häuserreihen. Hoch und eng aneinander gedrückt erhoben sich die Häuser und schafften Straßenschluchten zwischen sich, auf denen sich die Menschen und Tiere dicht an dicht weiter in die Stadt und die verschiedenen Viertel drängten. Keines der Bauwerke war weniger als 5 Stockwerke hoch und jedes war in einem makellosen Zustand. Wer sein Haus und dessen Erscheinung vernachlässigte, musste auch eine Strafabgabe an den zuständigen Stadtteilvorsteher abgeben, weswegen alle Bewohner der Stadt sehr penibel darauf achteten. Auch sorgte das dafür, dass die meisten Leute in der Stadt sich zu den Wohlhabenden zählten. Ein Haus in Aqualumina war ein Statussymbol, dass sich nicht jeder leisten konnte. Ärmere Leute lebten in der etwa einen Tagesritt entfernten Stadt Leivjka welche sich im Landesinneren befand. Richtung Lumarigebirge, wo auch der Fluss entsprang, der den See speiste.
Leivjka war die größte Stadt des Königreichs, aber dort tummelten sich Menschen aus allen Bevölkerungsschichten. Nichts, womit sich die feinen Bürger Aqualuminas herumschlagen wollen würden.
In der Mitte der Königsstadt erhob sich prunkvoll das Schloss des Königs. Der Glaspalast. Aus weißem Marmor und mit Zierelementen aus Gold und magischem Eis, welches weder kalt war noch schmolz, thronte der Palast in der Mitte der Stadt und reckte seine Türme gegen den Himmel.
Die Wände waren so glatt, man konnte keine Fugen erkennen, als wäre der ganze Palast aus einem Stück gegossen worden. Die Fenster und Türen waren mit Gold verziert und die Dachschindeln schienen aus blauen Edelsteinen gemacht zu sein, so schön glitzerten diese im letzten Licht der untergehenden Sonne. Oben auf den Dächern wehten Wipfel und Fahnen im kühlen Wind, der vom See her durch die Straßen der Stadt zog und die spätsommerliche Wärme langsam für die Kühle der Nacht vertrieb. Mit Ausnahme der Türme der Magierakademie war der mittlere Turm, der Wohnturm des Palastes, das höchste Gebäude von Aqualumina. Dort lebte die Königsfamilie seit mehreren Generationen und herrschte über das vereinigte Reich des Wassers. Von den südlichen Sümpfen am Fuße des Lumarigebirges bis hinauf an die Küsten im Norden und auch die Inselreiche im nördlichen Ozean. Diese waren seit wenigen Generationen Teil des vereinten Wasserkönigreichs. Wobei die Bewohner des Festlandes trotz all der Zeit die Fischer des Ozeans immer noch nicht als gleichwertige Reichsbewohner akzeptierten. Sahen sie doch zu unterschiedlich aus und sprachen mit einem befremdlichen Dialekt. Außerdem war die Art zu Leben im Ozean auf den schwimmenden Städten und kleinen Inseln einfach zu primitiv und unsicher. Aber wie sollte in einem so riesigen Reich auch jeder mit jedem gut auskommen. So gab es auch Leute in den Sümpfen, die sich vom König benachteiligt fühlten und Unabhängigkeit verlangten. Nicht genug für einen waschechten Bürgerkrieg, aber doch ausreichend, um die Gerüchte von Rebellion in den äußeren Provinzen bis zur Hauptstadt zu tragen.
Jinka drückte gerade seinen Stempel auf den Passierschein einer Familie, welche in einem der Bauernhöfe weiter südlich lebte und wohl zum Kaufen von Erntewerkzeug kurz vor dem Herbst noch einmal in die Stadt musste, als er die Glocken schellen hörte, welche den Einbruch der Nacht ankündigen. Damit war die Aufnahme in die Stadt für heute beendet. Alle, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, mussten vor der Stadt kampieren oder in einem der Gasthäuser auf der Straße übernachten.
Jinka wischte sich mit der linken Hand die Erschöpfung aus den Augen. Ferd war noch nicht wieder aufgetaucht. Anscheinend hatte der letzte Schreihals noch einmal versucht, sich gegen die Staatsgewalt aufzulehnen. Jinka musste erneut schmunzeln. Er hatte sich gerade umgedreht und die Wachleute, welche ihm und Ferd unterstellt waren, begannen die letzten Menschen zurückzudrängen, um das Eisengittertor zu verschließen, welche das Torhaus vor der Zugbrücke zur Straße hin absichern würde, als er auf einen Tumult hinter sich aufmerksam wurde. Er drehte sich noch einmal um und sah einen Mann, in sehr mitgenommener Reisekleidung, mit einem großen Hut im Gesicht und einem schweren Rucksack auf den Schultern, der versuchte, sich an den Wachsoldaten vorbeizuzwängen. Hinter ihm saß eine Frau, die offensichtlich hochschwanger war, auf dem Kutschbock eines Planwagens.
>Bitte Herr, wir können nicht eine weitere Nacht auf der Straße schlafen. Meine Frau ist kurz davor, unser Kind zu bekommen. Wir sind seit Wochen unterwegs. Bitte habt Erbarmen. Räuber haben uns unser letztes Geld abgenommen, wir können auch nicht in ein Gasthaus!< flehte der Wanderer Jinka an.
Jinka, der selber Vater von drei Kindern war, der jüngste Sohn Karan gerade einmal drei Zyklen alt, konnte mit dem Mann gut mitfühlen. Die letzte Schwangerschaft hatte seine Frau nur mit Mühe überstanden und er wollte sich gar nicht vorstellen, wie es nach Wochen auf den Straßen des Reiches um die Schwangere vor ihm bestellt sein mochte.
Jinka hob seine Hand und gab den Soldaten damit zu verstehen, den Mann zu ihm durchzulassen. Schnaufend stolperte dieser vor ihn und brauchte erst einige Augenblicke um zu Atem zu kommen. Staub und Dreck bedeckten nicht nur seine Lederstiefel und den dunkelblauen Umhang, in den er sich gehüllt hatte, sondern auch den Großteil seines sonnengegärbten Gesichts. Schweiß trat unter dem Hut hervor und zeichnete dunkle Linien auf die Haut des Wanderers. Jinka fiel außerdem eine schön gearbeitete, hölzerne Brosche in Form eines Stierkopfes auf, die den Umhang an der Brust zusammenhielt.
>Danke Herr. Bitte, lasst uns noch über die Brücke. Wir wollten schon früher da sein, aber eines unserer Tiere hat sich geweigert weiterzugehen und dann hat ein Rad blockiert. Oh, es war wie verhext.< sprach dieser, nachdem er wieder zu Atem gekommen war.
>Woher kommt ihr, mein Freund?< fragte Jinka, während er nachdachte, ob er hier noch eine Ausnahme machen könne. Die Wachsoldaten wirkten wenig begeistert davon, den gesamten Wagen zu kontrollieren, sie wollten schließlich mindestens so sehr wie er nach Hause.
>Von einem Dorf am südlichen Ende der Hügel, Herr. Ich habe dort all mein Hab und Gut verkauft, um mit meiner Frau nach ihrer Schwangerschaft hier ein neues Leben anzufangen. Unser Dorfmagier sagte, die Niederkunft würde Probleme verursachen, mit denen er überfordert sei und wir sollen es hier im Haus der Heilung versuchen. Da der Vater meiner Frau aber gegen unsere Vereinigung war, beschlossen wir, die Gelegenheit…<
>Jaja, schon gut. Ich brauch nicht deine ganze Lebensgeschichte. Beruhig dich, du wirkst sehr nervös mein Freund. Ich bin hier der zuständige Wachhabende und ich bin hier, um den Bewohnern dieses Reiches zu dienen und zu helfen. Kein Grund also, für deine Nervosität.< unterbrach Jinka ihn belustigt.
>Jawohl, Herr<
>Gut. Also, wie lautet dein Name, und der von deinem Weib?<
>Ich bin Pharos Herr, und meine Frau heißt Sera.< stammelte der Mann
Die Frau winkte Jinka nervös zu, vermied aber sonst jeden Blickkontakt.
>Pharos und Sera also. Und was ist dein Handwerk, Pharos?< fragte Jinka und versuchte noch mehr Wärme in seine Stimme zu bekommen, um den offensichtlich sehr gestressten Pharos weiter zu beruhigen. Lange war er nicht mehr mit dieser Art von Respekt behandelt worden und es belustigte ihn auf eine gewisse, nicht boshafte Weise.
>Ich bin Topfflicker, Herr. Ich beseitige Schwachstellen und sorge dafür, dass alles an seinem vorgesehen Platz bleibt.<
Jinka zog eine Augenbraue hoch. >Ein gutes, wenn auch seltenes Handwerk möchte ich meinen. Davon habe ich noch nie gehört. Wenn mir ein Topf oder Krug springt, kaufe ich mir für gewöhnlich einen neuen.<
>Ja, Herr,< antwortete Pharos rasch.>Aber es gibt Töpfe, die einzigartig oder unersetzlich sind. Oft gibt es nur den einen. Und dann muss man jeden Preis bezahlen, will man ihn erhalten, Herr<
Jinka nickte langsam. Eine seltsame Vorstellung, Objekte des alltäglichen Lebens so zu sehen. Und er war sich auch nicht sicher, ob es in Aquilumina einen Markt für so etwas gab.
>Wo habt ihr vor zu nächtigen?<
>Wir werden bei meinem Vetter unterkommen, Herr. Er sollte ein Lagerhaus in der Nähe des Hafens haben, in welchem wir uns am Anfang niederlassen.<
Jinka nickte erneut. >Jetzt gibt es ein letztes Problem, mein lieber Freund<, sprach er.
>Ich nehme nicht an, dass du oder deine Frau einen Passierschein haben. Und der Einlass in die Stadt kostet seit diesem Sommer 5 Silbermünzen pro Person und nochmal 10 für den Wagen.<
Als Jinka sah, wie das letzte bisschen Blut aus dem Gesicht des Wanderers schoß, hob er schnell beschwichtigend die Hände >Aber nicht verzagen. Ich werde dir das Geld leihen. Ich verstehe deine Lage gut. Nenne mir die Adresse und den Namen deines Vetters und in einem Monat komme ich und dann zahlst du mir alles zurück.<
Pharos atmete erleichtert auf und griff sofort Jinkas Hand. >Ja Herr, ihr seid zu gütig, Herr. Dieses Reich braucht mehr so gütige Männer, wie ihr einer seid. Ich werde euch mit Zinsen bezahlen. Wartet< und er wühlte in einem Lederbeutel, den er mit einer Schnur an der Hüfte trug. Kurz darauf zog er einen zerknüllten Zettel hervor und las die Adresse seines Vetters vor. Jinka wunderte sich, da er dachte, die Straße zu kennen. Eine abgelegene Gegend, in einem regelrechten Irrgarten von Abzweigungen und Sackgassen in der Nähe des Hansaviertels. Er notierte sich die Adresse und nahm sich vor, gleich morgen bei Anbruch des Tages nach den beiden zu sehen. Dann gab er den Soldaten ein Zeichen, den Wagen zu überprüfen, was diese widerwillig, aber schnell erledigten.
Jinka trat ebenfalls an den Planwagen heran und warf einen Blick über Seras Schulter auf die Ladefläche. Einige Kisten und Krüge waren mit Decken und wirr zusammengeknäulten Kleiderbündeln bedeckt. An der Decke des Wagens waren Glasflaschen mit einer schwarzen, ölig schimmernden Flüssigkeit befestigt, auf denen Jinka den Schriftzug “Poliermittel” lesen konnte. So ein sonderbares Mittel hatte Jinka noch nie gesehen. Er wollte um den Wagen gehen, um sich eine der Flaschen genauer anzusehen, da wurde plötzlich seine Hand ergriffen. Sera hatte sich zu ihm gebeugt und hielt seine Hand fest mit ihren Beiden. Jinka wunderte sich, wie nass die Hände der Frau geschwitzt waren. Es musste ein langer Tag gewesen sein und seine Uniform und all die Lanzen und Schwerter mussten der schwangeren, schwachen Frau eine furchtbare Angst machen.
>Danke für eure Hilfe, Herr!< Sprach sie zu ihm, vermied dabei aber immer noch den Blickkontakt und schaute verlegen auf ihre Füße. >Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wäret ihr nicht so hilfsbereit und freundlich!<
Jinka musterte die junge Frau. Sie hatte ein paar Schrammen im Gesicht, die schon älter sein mussten, denn sie schienen gut verheilt zu sein. Keine akuten Verletzungen durch den Überfall der Banditen. Gut. Sie war ebenfalls in einen dunklen und vor Schmutz starrenden Umhang in dunkelblau gehüllt. Auch ihrer wurde von einer Holzbrosche zusammengehalten, ihrer in der Form eines Adlers. Jinka legte seine zweite Hand auf die Ihren und drückte fest zu. Er warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. >Ich diene dem Volk. Es ist meine Aufgabe und ich erfülle sie gerne!<. Sie lächelte nun ebenfalls verlegen und blickte ihn mit ihren Meergrünen Augen an. Er erkannte unter ihrer Haube ein paar schwitzige, fuchsrote Haarsträhnen. Er ließ seine Hand noch kurz auf ihren verweilen, als er von einem Pfiff seiner Männer aufgeschreckt wurde. Sie waren schnell gewesen. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Sie wollten nach Hause oder ins Gasthaus. Er trat einen Schritt zurück und nickte ihnen zu. Die Soldaten versperrten hinter Pharos und Sera das Tor und machten sich zusammen, als die Letzten, über die Zugbrücke. Nachdem Pharos sich den ganzen Weg in die Stadt weiter überschwänglich bedankte und Jinka jegliche Weine und Speisen versprach, sollte dieser sie besuchen kommen, zeigte Jinka ihnen noch grob den Weg in Richtung Hafen und machte sich selber auf den Weg nach Hause. Er war jetzt wirklich geschafft.
-Königreich des Wassers. Aquilumina. Gasthaus Widdas Wacht. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung.Nachmittag-
Ferd nahm noch einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Das Gemurmel der Gäste in der Bar “Widdas Wacht” war zu einem stetigen Rauschen im Hintergrund geworden. Er und zwei andere Torwachen saßen in einem Raum neben der Hauptschankstube und genossen ihr Feierabendbier. Der letzte Bewohner hatte ihm alle restlichen Nerven geraubt. Nicht nur, dass der Unglückliche sich den ganzen Weg über die Brücke nicht beruhigen hatte lassen, kaum waren sie durch das Stadttor geschritten hatte er mit einem ungezielten Stoß seines Ellenbogens in Ferds Seite einen unüberlegten Fluchtversuch gewagt. Das würde bestimmt einen blauen Fleck geben. Warum mussten sie es sich auch immer schwerer machen als notwendig.
Die ganze Aktion hatte auf jeden Fall so lange gedauert, dass Ferd beschlossen hatte, dass es sich nicht mehr lohnen würde, zurück über die Brücke zu gehen und sich schon ein bisschen früher ein Bier genehmigt hatte. Oder zwei. Jetzt saß er auf jeden Fall bei seinem vierten Humpen, als noch zwei Männer aus seinem Trupp durch die Türe schritten. Sie waren später als üblich.
>Habt ihr euch noch verlaufen Männer? Man möchte meinen, nach so vielen gezechten Stunden würdet ihr die Bar leichter finden, als die Häuser eurer Mütter!< Ferd lachte.
Die Männer legten ihre Helme, welche das sanfte Licht der Kerzen im Raum widerspiegelten und Muster an die Wände zeichneten vor sich auf den Tisch und setzten sich zu ihnen. Die kobaltblauen Umhänge, welche zur Uniform gehörten, schwangen sie über die Stuhllehne, damit sich keine Falten bildeten. Ein gutes Erscheinungsbild und tadelloser Auftritt waren dem Hauptmann sehr wichtig.
Einer der Männer strich sich eine verschwitzte, haselnussbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und band sich seine schulterlangen Haare zu einem engen Knoten am Hinterkopf. Er knurrte dabei aus zusammengebissenen Zähnen: >Am Arsch verlaufen. Zugführer Jinka musste kurz vor Feierabend noch den barmherzigen Freund und Helfer spielen und einen abgewetzten Landstreicher und sein schwangeres Weibsbild in die Stadt geleiten. Wir haben uns bemüht so schnell wie möglich den Karren zu filzen, damit endlich Schluss ist. Glaube ein Schmied oder sowas. Er hatte auf jeden Fall Metalle geladen, denke ich<
>So ein Schwachsinn!< schaltete sich der andere Mann, ein etwas älterer mit faltigem Gesicht und Bartstoppeln um Mund und Kinn ein. >Hast du nicht zugehört. Kesselflicker oder sowas.<
>Ja? Er hatte aber etwas aus Metall geladen.<
>Nein! Ich habe ganz eindeutig Flaschen gesehen. Waren wohl Poliermittel oder sowas!<
>Wie auch immer< grummelte der Jüngere und bestellte mit einer Geste zum Wirt auch für sich ein Bier. >Auf jeden Fall hat uns das unsere Freizeit gekostet<
Ferd musste lachen. >Ihr scheint ja genau hingeschaut zu haben, wenn ihr nicht mal wisst, was er geladen hatte!<
Er konnte seine Männer gut verstehen. Er und Jinka waren seit vielen Zyklen zusammen am Tor stationiert und nannten sich, solange sie bei der Stadtwache waren, Partner. Auch, dass sie gemeinsam zu Zugführern befördert worden waren und die Verantwortung für eine ganze Truppe am Tor bekommen hatten, hatte sie noch schärfer zusammengeschweißt. Aber Ferd musste eingestehen, dass Jinkas Verlangen, es jedem Bürger recht zu machen, manchmal lästig sein konnte. Jinka war halt ein unverbesserlicher Gutmensch, der immer vom Besten ausging. Es wirkte zwar naiv, aber Ferd beobachtete sich selbst manchmal, wie er neidisch auf Jinka dafür war, wie unbeschwert er durch sein Leben ging. Ferd war da anders.
>Dann habt ihr euch auf jeden Fall ein Bierchen extra verdient. Ich gebe euch beiden eins aus, Jungs!< sprach er gönnerhaft, um die Laune seiner Männer wieder zu verbessern und prostete in die Runde. Seine Truppe stimmte ein und schon bald lachten und tranken sie zusammen, während die Sonne endgültig verschwand und die Nacht Einzug in den Straßen hielt.
-Königreich des Wassers. Aqualumina. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung. Anfang der Nacht-
Die Lichter in den Fenstern der Stadt waren größtenteils erloschen. Die meisten Bewohner waren zu Bett gegangen und auch immer mehr und mehr der Gaststätten und Wirtshäuser löschten die Lichter und schlossen die Schankstuben. Die Straßen waren nur noch von wenigen Betrunkenen beheimatet, welche sich nach Hause schleiften oder von den nächtlichen Wachpatrouillen, die in Vierergruppen durch die breiteren Straßen der Stadt patrouillierten. Die kleineren Gassen waren nicht durch die regelmäßigen Laternen erhellt und lagen im Dunkeln. Der Wind wehte wie immer vom See her durch die Straßen, trug den Geruch von klarem Wasser mit sich und brachte erfrischende Kühle in die Sommernacht. Keiner der Bewohner bemerkte den Schatten, welcher sich wie eine Katze von Giebel zu Giebel schwang und sich dem Palast näherte. Sehr vorsichtig achtete er darauf, auf den metallenen Dachschindeln keine Geräusche zu machen. Jetzt aufzufliegen, nach all der Vorbereitungszeit konnte sich Jerek nicht leisten. Zu viel hatten sie auf diese Karte gesetzt. Sie hatten nur die eine Chance.
Jerek hangelte sich weiter über die Dächer und legte großen Wert darauf, nicht über breitere Straßen zu springen und den Wachpatrolien weitläufig aus dem Weg zu gehen. Bald hatte er das vereinbarte Gebäude erreicht und ließ sich in den Innenhof hinunter. Dort warteten schon die restlichen Agenten. Mit den letzten Dreien, die erst heute eingetroffen waren, waren sie knapp ein Dutzend. Alle trugen Holzmasken vor ihrem Gesicht und hatten sich mit dunkelblauen, weiten Umhängen verhüllt. Jerek nickte ihnen kurz angebunden zu. Die Anspannung, die in der Luft lag, war für alle spürbar.
Die Neuankömmlinge verteilten noch die notwendige Ausrüstung. Jerek versuchte, seine Anspannung abzuschütteln. Seine Hände zitterten. So lange hatten sie darauf hingearbeitet. Sie durften sich keine Fehler erlauben. ER durfte sich keinen Fehler erlauben. Er ging alles noch einmal in seinem Kopf durch. Hatte er alle Vorbereitungen getroffen? Hatte er sich irgendwie verraten? Was, wenn die Palastwachen Bescheid wussten? Was, wenn der Plan nicht funktionierte. So viele Leben würden für nichts weggeworfen werden.
>Schwein!< Riss ihn die Stimme des Anführers aus seinen Gedanken. Er war ein groß gewachsener Mann, mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Seine Holzmaske war der Fratze eines Wolfes nachempfunden und wie die der Anderen in Dunkelblau bemalt. Dahinter blitzen zwei braune, intelligente Augen, die Jerek von oben bis unten musterten.
>ist alles in Ordnung?<
>Ja, alles okay. Bin bereit.<
Der Anführer schenkte ihm noch einen langen, abschätzenden Blick, ehe er sich mit einem Schulterzucken zum Rest der Gruppe umwandte und mit der Ausführung des Plans fortfuhr.
Dann ging es los. Lautlos setzte sich die Gruppe aus Vermummten in Bewegung und kletterte an dem Seil wieder auf das Dach des Warenhauses. Dann wandten sie sich nach Süden, wo sich die Mauern und Türme des Glaspalastes vom nachtblauen Himmel deutlich abhoben. In den meisten der Fenster war Licht zu sehen, doch im mittleren Turm auf Höhe der Wohngemächer der Königsfamilie war es dunkel. Gut. Also konnte es losgehen.
-Königreich des Wassers. Aqualumina. Gläserner Palast. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung. Nach Mitternacht-
Lumariel konnte heute nicht schlafen. Irgendetwas störte ihn. Egal wie oft er sich in seinem großen Bett hin und her wälzte, er kam in keine Position, in der er sich entspannen konnte. Das Wetter oder der Mond. Etwas macht ihm zu schaffen. Er erhob sich und trat aus seinem Schlafgemach, um sich Richtung Speisekammer aufzumachen. Vielleicht brauchte er noch einen wohlverdienten Happen. Ein bisschen Käse und ein weicher Laib honiggesüßtes Weißbrot würden ihm bestimmt helfen, in einen Schlummer zu gleiten. Oder sogar ein kleines Glas Wein? Obwohl Lumariel erst 14 Jahre alt war, hatte er schon bei mehreren Gelegenheiten von den kostbaren Fässern aus dem Privatlager seines Vaters den einen oder anderen Schluck ergaunert. Auch wenn es ihm am Anfang zu herb gewesen war, hatte er sich sehr schnell an den Geschmack des roten Trunks gewöhnt. Sein Lehrer, Moros, war ihm auch schon einmal auf die Schliche gekommen und hatte ihn ordentlich getadelt, aber zum Glück seinem Vater nichts verraten. König Aquilon hatte wenig Geduld und Sinn für Schabernack und Späße, weswegen Lumariel dem alten Zausel dankbar für dessen Stillschweigen war.
Ganz langsam, um seinen Lehrer, der im Nebenzimmer schlief, nicht zu wecken, schlich der Junge an dessen Türe vorbei. Dabei sah er, dass im Zimmer des Alten anscheinend noch ein Licht brannte, da er den tanzenden Schein der Fackel unter der Tür durchscheinen sah. Lumariel erschrak, als er aus dem Zimmer Geräusche hörte, genau als er auf Höhe der Türe war und erstarrte. War er aufgeflogen? Doch die Türe blieb verschlossen. Was auch immer der Alte zu so später Stunde in seinem Zimmer trieb, er schien im Zimmer zu bleiben. Lumariel atmete auf und versuchte sich auf die Geräusche, die durch die dicke Eichenholztür drangen, zu konzentrieren. Er meinte zu hören, wie etwas aus Glas klimperte und das Scharren von etwas Schwerem über die Dielen des Bodens. Was trieb der alte Mann da drinnen? Lumariel musste schmunzeln. Er hatte schon länger den Verdacht, dass sein alter Lehrmeister im Oberstübchen nicht mehr alle Tropfen in der Schale hatte. Wahrscheinlich senile Bettflucht.
Als der junge Prinz seinen Weg gerade fortsetzen wollte, hörte er einen dumpfen Schlag aus dem Zimmer Moros. Er erschrak, da vernahm er auch schon Schritte, die sich hastig der Türe näherten. Lumariel drehte sich auf dem Absatz um, spurtete zurück in sein Zimmer und sprang in sein Bett. Er schlüpfte unter die Decke und hörte sein Herz bis zu den Ohren pumpen. Was für ein Schreck. Doch Moros folgte ihm nicht, sondern schien irgendwo anders hin gelaufen zu sein. Das war knapp. Lumariel blieb noch kurz unter der Decke, um sich zu beruhigen, da hörte er die Schreie. Und den Lärm. Das Klingen von Metall auf Metall. Die Schreie, die Menschen von sich gaben, wenn sie starben. Dann eine Explosion. Der Turm wankte, kleine Steinbrocken lösten sich von der Decke und prasselten in Lumariels Zimmer. Sie wurden angegriffen! Der Junge erstarrte vor Angst. Angst um sich, um seine Mutter und seinen Vater. Hunderte Male hatte er proben müssen, wie er sich in so einer Situation verhalten sollte. Doch er konnte sich nicht bewegen. Die Schreie und Geräusche wurden lauter. Kamen näher. Dann näherten sich wieder Schritte und die Tür zu seinem Zimmer wurde mit Schwung aufgestoßen, so dass sie an die Wand knallte.
Moros stand im Türrahmen, in einer Lederrüstung und hielt eine Fackel hoch.
>Junger Herr! Kommt schnell! Wir werden angegriffen. Wie immer geübt. Folgt mir in den Fluchttunnel! Wir müssen hier schleunigst fort. Rebellen!<
Als Lumariel sich immer noch nicht rührte, sondern Moros nur mit großen Augen anstarrte, kam dieser näher, griff nach dem Arm des Jungen und riss ihn unsanft in die Höhe.
>Kommt schnell junger Herr! Wir haben keine Zeit<
Eine weitere Explosion erschütterte den Turm und riss den jungen Prinzen aus seiner Starre. Augenblicklich zuckte er hoch und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn los, so dass sein Lehrer alle Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. So schnell hatte er den Greis noch nie laufen sehen.
Sie stürzten von Zimmer zu Zimmer, vorbei an Wachen und Bediensteten, die kopflos und schreiend durcheinander liefen. Es roch nach Feuer und Erde. Als sie um die scharfe Biegung eines schmalen Ganges liefen, blieb Lumariel plötzlich stehen. Vor ihm lag ein Toter. Er hatte schon Kampftraining gehabt und auch schon Blut gesehen. Aber einen richtigen, toten Menschen noch nie. Es war ein Dienstbote. Keine 20 Jahre alt. Seine Augen waren aufgerissen und sein Mund war wie zu einem letzten, grässlichen Schrei verzerrt. In seiner Brust klaffte eine schreckliche Wunde, aus der das Blut des jungen Mannes geflossen war und den gesamten Boden des Gangs bedeckte. Lumariel wurde schlecht. Der Boden kippte unter seinen Füßen weg und sein Magen schien sich zu drehen. Sein Blickfeld wurde plötzlich immer kleiner und es schien, als würde von allen Seiten Dunkelheit in seine Augen kriechen. Er war ohnmächtig, bevor er auf dem Boden aufschlug.
Jin stemmte sich auf seine Ellenbogen. Die Explosion hatte ihn von den Füßen gerissen. Er konnte immer noch nichts hören, außer einem schrillen Pfeifen, welches alle anderen Geräusche übertönte. Der Rauch verhinderte, dass er etwas anderes als den Schein der Flammen wahrnehmen konnte. Sie wurden angegriffen! Er erhob sich schwankend. Ein heftiger Schmerz zuckte durch seine linke Seite. Er blickte an sich hinunter, musste sich an der Wand abstützen, um nicht wieder hinzufallen, als er einen abgebrochenen Holzsplitter aus seiner linken Bauchseite ragen sah, der sogar noch glimmte. Jin biss die Zähne zusammen und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Langsam kamen die Geräusche zurück, klangen aber immer noch, als kämen sie von weit her und durch einen Vorhang. Er gab sein Bestes, seine Gedanken zu ordnen. Er war erst seit kurzem in der Palastwache aufgenommen worden. Der Stolz seiner Familie. Während sein Vater es nur zu einem Torwächter geschafft hatte, war Jin trotz seiner jungen Jahre schnell auf der Karriereleiter empor geklettert. Heute war seine erste Nachtwache gewesen. Er hatte gerade mit Sayor, einem älteren Soldaten, die letzte Runde gemacht, als sie auf das schabende Geräusch an der Außenmauer aufmerksam geworden waren. Sie hatten das Geräusch nicht zuordnen können, da wurde die Welt auch schon aus den Fugen gekippt. Der laute Knall, gefolgt von der Druckwelle, welche die Steine der Außenmauer in alle Richtungen davonfliegen ließ, hatte ihn von den Füßen gerissen und somit vor der darauffolgenden Feuerwelle gerettet.
Der Rauch verzog sich langsam und Jins Blick wurde etwas klarer. Er konnte neben sich an der Wand einen verkohlten Körper ausmachen. Auch wenn die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und zerfetzt war, erkannte er an den geschmolzenen Abzeichen auf der linken Brust, dass es sich um Sayor handelte. Jin war noch viel zu verwirrt, um richtig erschrocken zu sein und wandte sich von den qualmenden Überresten seines älteren Kollegen ab. Er versuchte auszumachen, WAS die Explosion verursacht hatte. Der Rauch verzog sich immer schneller und gab den Blick auf ein mannshohes Loch in der Außenmauer frei. Die Ränder waren rußgeschwärzt und die meisten Steinbrocken waren nach innen in den Turm geschleudert worden.
Er näherte sich dem Loch und schaute langsam an der Mauer nach unten. Einige Stücke Mauerwerk waren nach unten gestürzt und hatten die Dächer der unten liegenden Gebäude beschädigt oder waren auf dem Pflasterstein des Innenhofs zerborsten. Er konnte auch noch ein anderes Loch etwas weiter unten an der Mauer ausmachen. Außerdem erkannte er an der Mauer mehrere Eisenspitzen, die mit einem Seil verbunden waren. Anscheinend hatte jemand die Wand erklommen und sich gewaltsam Zutritt in den Wohnturm der Königsfamilie geschaffen. Die Königsfamilie! Jin fuhr auf dem Absatz um. Er musste den König schützen! Er rannte zurück in den Gang, in dem er gerade zu sich gekommen war und folgte dem Lärm und den Schreien, die er hörte. Verfluchte Rebellen.
Als er tiefer in den Turm vordrang, konnte er erkennen, dass die Geräusche aus der Richtung der Schlafzimmer kamen. Verflucht! Er versuchte noch schneller zu werden, doch der Holzsplitter, der immer noch in seiner Seite steckte, machte ihm ein schnelles Vorankommen unmöglich. Immer wieder musste er kurz innehalten und sich an einer Wand abstützen, um durchzuatmen und zu Kräften zu kommen. Er verlor kontinuierlich Blut, doch er wusste, würde er den Splitter jetzt rausziehen, würde er bald verbluten. Er biss die Zähne zusammen, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und stieß sich von der Mauer ab. Er musste weiter.
Als er die ersten Leichen passierte, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er seine Waffen wohl bei der Explosion verloren hatte. Vor ihm lagen mehrere Palastwachen, aber auch ein paar Dienstboten, die durch lange, tiefe Schnitten hingemetzelt worden waren. Die Schnitte klaffen tief und sauber in den Körpern der Ermordeten. Einige hatten auch eine Hand oder einen ganzen Arm verloren. Die Gegner schienen sehr scharfe, schlanke Klingen zu führen. Er schaute sich suchend um und ergriff eine Lanze. In seiner jetzigen Verfassung wollte er sich nicht auf einen Schwertkampf Mann gegen Mann einlassen. Er nahm die Lanze aus der verkrampften Hand eines erschlagenen Soldaten und machte sich, so schnell es ihm ging, weiter Richtung Schlafgemächer. Dabei nutzte er die Lanze als Gehstock, um sich zu stabilisieren und schneller voranzukommen. Er musste den König schützen. Als er um eine Biegung taumelte, hörte er plötzlich Schritte auf sich zu eilen. Bevor er reagieren konnte, tauchte in einer Türe Moros vor ihm auf. Der alte Mann trug einen schlaffen Körper über seinen Schultern. Jin konnte den Prinz erkennen. Er schien ohnmächtig zu sein.
>Zur Seite Soldat! Ich muss den Prinz evakuieren!< schnarrte ihn der Alte Mann an, der trotz seines Alters erschreckend schnell und behändig mit dem Jungen auf den Schultern auf Jin zu und an ihm vorbei hetzte. Jin wusste, dass sich in die Richtung, in die der Mann lief, ein geheimer Fluchttunnel raus aus dem Palast befand, der zum Hafen führte. Der Prinz war in Sicherheit. Jin war zu überrumpelt, um nach dem Verbleib des Königs zu fragen, doch da er weiterhin Geräusche den Gang hinunter hörte, nahm er an, dass immer noch gekämpft wurde. Er schaute dem flinken Alten nach, dann setzte er sich wieder in Bewegung und eilte so schnell er konnte weiter. Bald war er am Fuß der Treppen angekommen, die zu den Schlafgemächern des Königs führten. Er hetzte die Treppen hoch und musste dabei über die toten Körper weiterer Soldaten steigen. Dann erblickte er zwischen den Toten endlich auch einen der Angreifer. Er war in einen dunkelblauen, fast schwarzen Umhang mit Kapuze gehüllt. Sein Gesicht war hinter einer blau bemalten, hölzernen Schweinemaske versteckt. Neben seiner Hand lag ein sehr langes, dünnes Schwert, das leicht geschwungen war, einem Säbel nicht unähnlich. Das Schwert war lang wie ein Zweihänder, doch wegen der schmalen Klinge mit einer Hand führbar. Jin rannte weiter. Die Rufe und der Kampflärm kamen direkt vom Ende der Treppen. Er rutschte auf dem Blut auf den steinernen Stufen aus und fiel schmerzhaft hin, konnte aber verhindern, wieder in die Tiefe zu stürzen. Dabei schlug er sich aber seinen Holzsplitter an und der Schmerz, der daraufhin durch seinen Körper zuckte, ließ Sterne vor seinen Augen tanzen. Er biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreiben und stemmte sich an seinem Speer ächzend in die Höhe. Noch zwanzig Stufen, dann war er oben! Das tanzende Licht der Fackeln warf Schatten von Männern an die Wände. Er schleppte sich weiter. Als er oben ankam, stockte ihm für ein weiteres Mal der Atem. Vor sich sah er ein halbes Dutzend der vermummten Angreifer, die vier Palastwachen gegenüber standen, welche sich vor der Türe zum Schlafsaal des Königs zusammengekoppelt hatten. Ein weiterer der Angreifer und drei Wachen lagen regungslos auf dem Boden. Die Rebellen hatten Jin noch nicht bemerkt, da sie mit dem Rücken zu ihm im schmalen Gang standen. Die Wachen versuchten, die Angreifer mit den Lanzen und Hellebarden auf Abstand zu halten, was durch die Enge des ungefähr fünf Schritte breiten Ganges erleichtert wurde. Trotzdem kamen die Rebellen langsam näher. In der hinteren Reihe der Angreifer stand ein sehr hochgewachsener, der gerade Befehle brüllte. Sein Gesicht steckte hinter einer Wolfsmaske. Jin näherte sich ihm langsam und setzte seine verbliebene Kraft in den Stoß. Mit beiden Händen umklammert, rammte er dem Mann seinen Speer von hinten in den Rücken und trieb ihn tief in dessen Brustkorb. Dieser verstummte mitten im Wort und brachte nur noch ein erschrockenes Ächzen zusammen, als die Lanzenspitze aus seinem Brustkorb drang. Ein Schwall Blut schoss aus seinem Mund und sein Körper sackte leblos zusammen. Dabei glitt ihm sein Schwert aus der Hand und fiel klirrend auf den Boden. Noch ehe die überraschten Feinde richtig begriffen, was passiert war, warf sich Jin gegen den halb stehenden Körper des Erstochenen und stieß diesen mit seiner Schulter zusammen mit der Lanze, die noch immer aus seiner Brust ragte gegen die Rebellen. Dann bückte er sich und hob die sonderbare Klinge auf. Der Körper des Toten fiel auf die Männer und begrub einen unter sich, die Anderen verloren ebenfalls die Formation und versuchten im engen Gang gegen den neu erschienenen Angreifer eine Formation zu bilden. Diese Kopflosigkeit nutzten die Soldaten und stießen ihrerseits vor. Zwei weitere der Rebellen fielen den spitzen Lanzen zum Opfer, ein Dritter wurde von einer Hellebarde in der Brust getroffen und sank schreiend zu Boden. Jetzt war nur noch einer auf den Beinen und ein weiterer unter dem Körper des vermeintlichen Anführers begraben. Bevor der verbleibende Mann wusste wie ihm geschah, war Jin bei ihm und führte mit einem Schrei einen Schwinger gegen den Hals des Feindes. Das sonderbare Schwert fühlte sich wie eine Verlängerung von Jins Arm an und drang so mühelos durch den Hals des Mannes, dass Jin beinahe erneut den Halt verlor und die Klinge scheppernd und funkendschlagend gegen die Wand krachte. Dabei schlug das Metall sogar ein paar kleinere Splitter Stein ab und blieb zitternd im Mauerwerk stecken. Der letzte Rebell, der immer noch unter seinem Anführer begraben war, versuchte sich verzweifelt darunter hervor zu kämpfen. Als er es aber endlich geschafft hatte, war er bereits von Jin und den anderen Palastwachen umstellt. Einer der Soldaten warf sich auf ihn und rang ihn wieder zu Boden. Dabei verdrehte er dem Mann die Arme, so dass dieser seine Waffe fallen ließ. Er kniete sich auf seinen Rücken und zog die Arme des Mannes immer weiter nach hinten. Dieser schrie vor Schmerz auf und Jin dachte hören zu können, wie der Knochen aus dem Schultergelenk sprang. Der entwaffnete und verstümmelte Mann wurde unsanft auf die Beine gewuchtet. Ein weiterer Soldat trat vor ihm, riss ihm Kapuze und Stiermaske vom Kopf. Darunter kam das sonnengebräunte Gesicht eines älteren Mannes zum Vorschein.
>Das wars dann wohl, Rebellenabschaum!<, spottete der Wachmann.
>Ihr täuscht euch! Wir haben alles, was wir wollten!< lachte der Mann. Erschrocken fuhr einer der Wachmänner herum und schaute zur Tür des Königs. War das Attentat etwa geglückt? Sie hatten die Angreifer doch abgewehrt!
>Nein, nicht der alte Sack! Der Prinz, ihr Narren< Spie der Besiegte ihnen entgegen. Die Männer zuckten zusammen, als ein schrilles Lachen aus dem Mund des Rebellen kam.
Das konnte nicht sein. Der Prinz war in Sicherheit. Jin war sich sicher. Der Mann täuschte sich! Wie konnte er so überzeugt sein?
>Was meinst du damit?<, zischte Jin und gab dem Gefangenen einen Schlag in den Magen, doch dieser lachte nur weiter wie wahnsinnig.
Aus ihm würden sie jetzt nichts herausbekommen. Das war dann wohl Aufgabe des Folterknechts. Oder der Magier.
Jin funkelte ihn wutentbrannt an. Dann meldete sich wieder der Splitter in seiner Seite. Er wollte diesem Hundesohn die Antworten höchstpersönlich aus dem Leib prügeln, aber er wusste, dass er eine Behandlung brauchte. Sonst würde er verbluten oder sich eine Vergiftung vom Holz holen.
-Königreich des Wassers. Lumari See. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung. Nach Mitternacht-
Lumariel wurde durch das sanfte Schaukeln des Bootes wach. langsam öffnete er die Augen. Dann traf ihn die Erinnerung an das Geschehene wie ein Hammerschlag und ließ ihn hochfahren. Er befand sich auf einem Ruderboot mit Moros auf dem Lumarisee, nach dem er von seinem Vater benannt worden war.
>Junger Herr, ihr seid erwacht. Ich habe mir schon Sorgen um euch gemacht<
>Was ist passiert, wie geht es meinem Vater? Was ist mit meiner Mutter? Was ist los Moros?<
>Wir wurden angegriffen, junger Herr. Rebellen haben euren Vater ermordet. Ich konnte euch in letzter Sekunde aus dem Schloss bringen. Das Königreich ist gefallen. Wir müssen untertauchen.<, antwortete Lumariels Lehrmeister.
Der Junge brach in Tränen aus. Das durfte nicht wahr sein! Wie konnte so etwas passieren? Der Zorn trieb heiße Tränen in die Augen des jungen Prinzen. Ein kehliges Schluchzen drang aus seinem Hals. Moros hörte auf zu rudern und kam auf ihn zu, um ihn in die Arme zu schließen.
>Alles wird gut, junger Herr. Ich bin bei Ihnen.<
Lumariel schluchzte erneut und brach dann in einen Heulkrampf aus. Seine Hände krallten sich in den dunkelblauen Umhang des alten Mannes und er vergrub sein Gesicht an dessen Brust.
Der Kreislauf des Schicksals
Prolog
-Königreich des Wassers. Aquilumina. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung. Später Nachmittag-
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages spiegelten sich auf der Oberfläche des Lumari-Sees und tauchten Aquilumina in einen warmen, goldenen Glanz. Der Fluss Karvaque, welcher den gigantischen See speiste, schlängelte sich durch die sanften, grünen Hügel und umfloss die Stadtmauern. An der Stelle, an der der Fluß auf die Stadt traf, hatten die Ingenieure des Königs einen künstlichen Graben angelegt und verstärkt, sodass sie den Fluss an beiden Seiten um die Stadt leiteten, bevor er sich in den See ergoss. Nur eine massive, hölzerne Zugbrücke verband die Stadt mit dem Festland an der östlichen Seite. Sonst war Aquilumina komplett von Wasser umschlossen.
Die letzten Bewohner drängten sich vor dem großen Stadttor zusammen, um vor Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zu gelangen. Dort, wo die Zugbrücke auf das Festland traf, befand sich ein Torhaus, in welchem nun der Eintritt verhandelt wurde.
Seitdem es Gerüchte über Rebellen im Reich des Wassers gab, galt die strikte Anordnung, nach Einbruch der Dunkelheit die Tore der Stadt verschlossen zu halten.
Aquilumina war eine malerisch schöne Stadt. Alle Straßen hinter der hohen Stadtmauer waren gepflastert und sauber gekehrt. Es wuchs kein Unkraut zwischen den glatt getretenen Steinen. Die Häuser schmiegten sich aneinander und übertrafen einander, was Verzierungen und Dekorationen anging. Die Häuser waren alle mit Kalkstein verputzt und hielten sich in einem reinen Weiß, die Dächer der Häuser waren mit metallenen Schindeln gedeckt und schimmerten metallen und bläulich. Die Sonne reflektierte sich in diesem Metall beinahe so schön wie im klaren Lumari-See und zauberte wunderbare Reflektionen an die Wände. Wenn es regnete, erklangen schöne Geräusche, ähnlich Musik, vom Prasseln der dicken Tropfen auf die metallenen Dächer. Aquilumina war eine reiche Stadt. Das war aber auch kein Wunder, war sie doch die Hauptstadt des Reichs des Wassers und Heimat des Königs sowie die Niederlassung der Magischen Schule. Auch die Handelsvereinigung des Reichs hatte hier ihre wichtigsten Gebäude und die Stadtwachen leisteten hervorragende Arbeit, Diebe und Obdachlose aus der Stadt zu halten. Eine so gute Arbeit, dass es eben seine Zeit dauern konnte, all die Besucher, welche mit den letzten Strahlen der Sonne in die Stadt strömen wollten, zu kontrollieren. Aber die Anweisungen waren eindeutig. Jeder Besucher der Stadt wurde auf einer Liste verzeichnet. Jeder Bewohner musste sich ausweisen. Wer seine Papiere nicht hatte, kam nicht mehr herein, ohne ein Besucheraufnahmeformular auszufüllen und den notwendigen Obolus zu entrichten. Das stieß natürlich nicht immer auf Wohlwollen bei der Bevölkerung. Aber der Preis der Sicherheit lautet nun mal Freiheit.
>Ich bin der Besitzer vom springenden Wasserpferd! Ich lebe seit ich ein kleiner Hosenscheißer bin in dieser Stadt und war nur für ein paar Stunden weg, weil Ihr keine Lieferanten reinlasst und ich auswärts verhandeln musste! <,
brüllte ein fleischiger, wütender Mann, der die meisten seiner Haare an die Zeit verloren hatte. Sein fleischiger Kopf ohne Bart war vor Zorn rot angelaufen, so wie eine reife Tomate. Schweiß und Spucketropfen flogen auf die polierte Rüstung der Stadtwache, mit der er sich gerade stritt. Er schien, als habe er keinen Hals und wirkte wie eine wütende Schildkröte. Seinen Körper hatte er in einen orangen Samtanzug gepresst, welcher bestimmt zwei Nummern zu klein war und dessen Knöpfe so unter der Spannung der in Wallung geratenen Wampe ächtzten, dass sie vermutlich eine größere Gefahr für die Wachen darstellen, als seine fette Faust, die er drohend erhoben hatte.
Jinka atmete genervt durch. Als er sich vor vielen Jahren für die Stadtwache der Hauptstadt beworben hatte, waren seine Vorstellungen deutlich ruhmreicher gewesen. Auf jeden Fall waren die täglichen Diskussionen mit drittklassigen Kneipenbesitzern nicht Teil dieser Fantasie. Aber auch das gehörte nun mal zur Aufgabe der Wachen. Und so versuchte er mit beschwichtigendem Ton, den wütenden Unternehmer zu beruhigen.
>Ich verstehe dich mein Lieber, aber du musst einsehen, dass jeder, der ohne die richtigen Papiere einreisen will, sich hier registrieren und Wegzoll bezahlen muss. Ob Einwohner der Stadt oder nicht. Ich kann bei dir eben so wenig eine Ausnahme machen wie bei jedem Anderen.<
Jinkas Wachpartner Ferd stand schräg hinter dem wütenden Mann und konnte sich ein schadenfrohes Lachen nur mit Mühe verkneifen. Ferd war immer schon der Meinung gewesen, dass man sich nie auf eine Diskussion mit den Bürgern einlassen darf und es belustigte ihn immer wieder zu sehen, wie Jinka versuchte, der Freund und Helfer zu sein, der er nun mal für die Leute sein wollte.
Der Kneipenbesitzer indess wollte sich nicht beruhigen, sondern drehte im Gegenteil noch mehr auf. Sein Gebrüll und Gezeter steigerten sich immer mehr und als er schließlich einen Schritt auf Jinka zumachte, um diesen zu packen, wurde es auch ihm zu bunt.
Eine kurze, körperliche Auseinandersetzung später und der Mann, welcher zuvor noch vor Wut geschrien hatte, brüllte nun vor Schmerz, während Ferd ihm den Arm so weit auf den Rücken drehte, dass Jinka Angst hatte, er würde dem armen Mann die Schulter ausrenken oder sogar brechen. Warum musste es auch immer so weit kommen? Warum wurde Freundlichkeit immer mit Schwäche verwechselt?
Während Jinka zur Seite trat, um Ferd und den Heulenden vorbei zu lassen, hörte er Ferd diesem feixend sagen:
>Gratuliere, du kommst jetzt wohl doch schneller in die Stadt. Allerdings werden wir einen kurzen Zwischenstopp in der Wachstube machen müssen!<
Jinka verdrehte die Augen, musste aber ein bisschen Lächeln. Das war Ferd.
Da drängten schon die nächsten vor, und fuchtelten wie wild mit ihren Papieren, um das Prozedere so schnell wie möglich abzuwickeln, bestenfalls ohne die Sonderbehandlung, welche der Mann vor ihnen bekommen hatte.
Hinter dem Tor führte der Weg über die massive Zugbrücke aus mit Stahl verstärktem Eichenholz. Ohne Probleme konnten hier mehrere Wagen nebeneinander gezogen werden und es war trotzdem noch reichlich Platz. Am anderen Ende erhob sich die Monströse Stadtmauer. Penibel genau waren die wuchtigen Steinquader aufeinander geschichtet worden, dass nicht einmal eine Dolchklinge in den Zwischenraum gepasst hätte. Sie erhob sich gen Himmel, so hoch wie vierzig Mann übereinander. Ein beeindruckendes und unüberwindbares Bauwerk, das aus der Zeit stammt, als das Reich des Wassers noch mit den Bergmaden Handel trieb. Sollte es jemals ein Angreifer über den breiten, reißenden Fluss schaffen, würde er an dieser Wand verzweifeln. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass jemand es so weit heranschaffen würde, denn die Türme, welche die Mauer alle 200 Schritte zierten, waren noch höher und mit Katapulten und Speerwerfen bestückt und würden jeden Angreifer zerlegen, lange bevor er die Ufer des Karvaque überhaupt erreichte. Außerdem war die Stadt auch der Sitz der Magierakademie, welche auf einer Felsformation etwas abseits der Stadt im See lag und somit jeglichen Angreifer doppelt abschreckte. Denn die Magier des Reichs des Wassers waren nicht ohne Grund gefürchtet. Auch ohne einen reißenden Strom oder einen riesigen See waren die stärksten fähig, Stürme zu entfesseln, Peitschen oder Geschosse aus Wasser zu formen oder auch Wasser explosionsartig verdampfen oder gefrieren zu lassen, was Belagerungsgeräten schnell den Garaus machte. Ja, Aquilumina war eine sichere Stadt. Daran konnten auch ein paar zornige Rebellen nichts ändern, weswegen viele Aquilumianer der Stadt dem König und den Wachen die verschärften Sicherheitsmaßnahmen mehr als übel nahmen.
So hieß es, der König würde das nur als Ausrede nutzen, um sich an den Unruhen im Reich zu bereichern und Zölle zu verlangen, wo keine von Nöten waren.
Jenseits der Stadtmauer, welche die Stadt zu zwei Drittel umschloss und nur zum See hin offen war, erstreckten sich die Häuserreihen. Hoch und eng aneinander gedrückt erhoben sich die Häuser und schafften Straßenschluchten zwischen sich, auf denen sich die Menschen und Tiere dicht an dicht weiter in die Stadt und die verschiedenen Viertel drängten. Keines der Bauwerke war weniger als 5 Stockwerke hoch und jedes war in einem makellosen Zustand. Wer sein Haus und dessen Erscheinung vernachlässigte, musste auch eine Strafabgabe an den zuständigen Stadtteilvorsteher abgeben, weswegen alle Bewohner der Stadt sehr penibel darauf achteten. Auch sorgte das dafür, dass die meisten Leute in der Stadt sich zu den Wohlhabenden zählten. Ein Haus in Aqualumina war ein Statussymbol, dass sich nicht jeder leisten konnte. Ärmere Leute lebten in der etwa einen Tagesritt entfernten Stadt Leivjka welche sich im Landesinneren befand. Richtung Lumarigebirge, wo auch der Fluss entsprang, der den See speiste.
Leivjka war die größte Stadt des Königreichs, aber dort tummelten sich Menschen aus allen Bevölkerungsschichten. Nichts, womit sich die feinen Bürger Aqualuminas herumschlagen wollen würden.
In der Mitte der Königsstadt erhob sich prunkvoll das Schloss des Königs. Der Glaspalast. Aus weißem Marmor und mit Zierelementen aus Gold und magischem Eis, welches weder kalt war noch schmolz, thronte der Palast in der Mitte der Stadt und reckte seine Türme gegen den Himmel.
Die Wände waren so glatt, man konnte keine Fugen erkennen, als wäre der ganze Palast aus einem Stück gegossen worden. Die Fenster und Türen waren mit Gold verziert und die Dachschindeln schienen aus blauen Edelsteinen gemacht zu sein, so schön glitzerten diese im letzten Licht der untergehenden Sonne. Oben auf den Dächern wehten Wipfel und Fahnen im kühlen Wind, der vom See her durch die Straßen der Stadt zog und die spätsommerliche Wärme langsam für die Kühle der Nacht vertrieb. Mit Ausnahme der Türme der Magierakademie war der mittlere Turm, der Wohnturm des Palastes, das höchste Gebäude von Aqualumina. Dort lebte die Königsfamilie seit mehreren Generationen und herrschte über das vereinigte Reich des Wassers. Von den südlichen Sümpfen am Fuße des Lumarigebirges bis hinauf an die Küsten im Norden und auch die Inselreiche im nördlichen Ozean. Diese waren seit wenigen Generationen Teil des vereinten Wasserkönigreichs. Wobei die Bewohner des Festlandes trotz all der Zeit die Fischer des Ozeans immer noch nicht als gleichwertige Reichsbewohner akzeptierten. Sahen sie doch zu unterschiedlich aus und sprachen mit einem befremdlichen Dialekt. Außerdem war die Art zu Leben im Ozean auf den schwimmenden Städten und kleinen Inseln einfach zu primitiv und unsicher. Aber wie sollte in einem so riesigen Reich auch jeder mit jedem gut auskommen. So gab es auch Leute in den Sümpfen, die sich vom König benachteiligt fühlten und Unabhängigkeit verlangten. Nicht genug für einen waschechten Bürgerkrieg, aber doch ausreichend, um die Gerüchte von Rebellion in den äußeren Provinzen bis zur Hauptstadt zu tragen.
Jinka drückte gerade seinen Stempel auf den Passierschein einer Familie, welche in einem der Bauernhöfe weiter südlich lebte und wohl zum Kaufen von Erntewerkzeug kurz vor dem Herbst noch einmal in die Stadt musste, als er die Glocken schellen hörte, welche den Einbruch der Nacht ankündigen. Damit war die Aufnahme in die Stadt für heute beendet. Alle, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, mussten vor der Stadt kampieren oder in einem der Gasthäuser auf der Straße übernachten.
Jinka wischte sich mit der linken Hand die Erschöpfung aus den Augen. Ferd war noch nicht wieder aufgetaucht. Anscheinend hatte der letzte Schreihals noch einmal versucht, sich gegen die Staatsgewalt aufzulehnen. Jinka musste erneut schmunzeln. Er hatte sich gerade umgedreht und die Wachleute, welche ihm und Ferd unterstellt waren, begannen die letzten Menschen zurückzudrängen, um das Eisengittertor zu verschließen, welche das Torhaus vor der Zugbrücke zur Straße hin absichern würde, als er auf einen Tumult hinter sich aufmerksam wurde. Er drehte sich noch einmal um und sah einen Mann, in sehr mitgenommener Reisekleidung, mit einem großen Hut im Gesicht und einem schweren Rucksack auf den Schultern, der versuchte, sich an den Wachsoldaten vorbeizuzwängen. Hinter ihm saß eine Frau, die offensichtlich hochschwanger war, auf dem Kutschbock eines Planwagens.
>Bitte Herr, wir können nicht eine weitere Nacht auf der Straße schlafen. Meine Frau ist kurz davor, unser Kind zu bekommen. Wir sind seit Wochen unterwegs. Bitte habt Erbarmen. Räuber haben uns unser letztes Geld abgenommen, wir können auch nicht in ein Gasthaus!< flehte der Wanderer Jinka an.
Jinka, der selber Vater von drei Kindern war, der jüngste Sohn Karan gerade einmal drei Zyklen alt, konnte mit dem Mann gut mitfühlen. Die letzte Schwangerschaft hatte seine Frau nur mit Mühe überstanden und er wollte sich gar nicht vorstellen, wie es nach Wochen auf den Straßen des Reiches um die Schwangere vor ihm bestellt sein mochte.
Jinka hob seine Hand und gab den Soldaten damit zu verstehen, den Mann zu ihm durchzulassen. Schnaufend stolperte dieser vor ihn und brauchte erst einige Augenblicke um zu Atem zu kommen. Staub und Dreck bedeckten nicht nur seine Lederstiefel und den dunkelblauen Umhang, in den er sich gehüllt hatte, sondern auch den Großteil seines sonnengegärbten Gesichts. Schweiß trat unter dem Hut hervor und zeichnete dunkle Linien auf die Haut des Wanderers. Jinka fiel außerdem eine schön gearbeitete, hölzerne Brosche in Form eines Stierkopfes auf, die den Umhang an der Brust zusammenhielt.
>Danke Herr. Bitte, lasst uns noch über die Brücke. Wir wollten schon früher da sein, aber eines unserer Tiere hat sich geweigert weiterzugehen und dann hat ein Rad blockiert. Oh, es war wie verhext.< sprach dieser, nachdem er wieder zu Atem gekommen war.
>Woher kommt ihr, mein Freund?< fragte Jinka, während er nachdachte, ob er hier noch eine Ausnahme machen könne. Die Wachsoldaten wirkten wenig begeistert davon, den gesamten Wagen zu kontrollieren, sie wollten schließlich mindestens so sehr wie er nach Hause.
>Von einem Dorf am südlichen Ende der Hügel, Herr. Ich habe dort all mein Hab und Gut verkauft, um mit meiner Frau nach ihrer Schwangerschaft hier ein neues Leben anzufangen. Unser Dorfmagier sagte, die Niederkunft würde Probleme verursachen, mit denen er überfordert sei und wir sollen es hier im Haus der Heilung versuchen. Da der Vater meiner Frau aber gegen unsere Vereinigung war, beschlossen wir, die Gelegenheit…<
>Jaja, schon gut. Ich brauch nicht deine ganze Lebensgeschichte. Beruhig dich, du wirkst sehr nervös mein Freund. Ich bin hier der zuständige Wachhabende und ich bin hier, um den Bewohnern dieses Reiches zu dienen und zu helfen. Kein Grund also, für deine Nervosität.< unterbrach Jinka ihn belustigt.
>Jawohl, Herr<
>Gut. Also, wie lautet dein Name, und der von deinem Weib?<
>Ich bin Pharos Herr, und meine Frau heißt Sera.< stammelte der Mann
Die Frau winkte Jinka nervös zu, vermied aber sonst jeden Blickkontakt.
>Pharos und Sera also. Und was ist dein Handwerk, Pharos?< fragte Jinka und versuchte noch mehr Wärme in seine Stimme zu bekommen, um den offensichtlich sehr gestressten Pharos weiter zu beruhigen. Lange war er nicht mehr mit dieser Art von Respekt behandelt worden und es belustigte ihn auf eine gewisse, nicht boshafte Weise.
>Ich bin Topfflicker, Herr. Ich beseitige Schwachstellen und sorge dafür, dass alles an seinem vorgesehen Platz bleibt.<
Jinka zog eine Augenbraue hoch. >Ein gutes, wenn auch seltenes Handwerk möchte ich meinen. Davon habe ich noch nie gehört. Wenn mir ein Topf oder Krug springt, kaufe ich mir für gewöhnlich einen neuen.<
>Ja, Herr,< antwortete Pharos rasch.>Aber es gibt Töpfe, die einzigartig oder unersetzlich sind. Oft gibt es nur den einen. Und dann muss man jeden Preis bezahlen, will man ihn erhalten, Herr<
Jinka nickte langsam. Eine seltsame Vorstellung, Objekte des alltäglichen Lebens so zu sehen. Und er war sich auch nicht sicher, ob es in Aquilumina einen Markt für so etwas gab.
>Wo habt ihr vor zu nächtigen?<
>Wir werden bei meinem Vetter unterkommen, Herr. Er sollte ein Lagerhaus in der Nähe des Hafens haben, in welchem wir uns am Anfang niederlassen.<
Jinka nickte erneut. >Jetzt gibt es ein letztes Problem, mein lieber Freund<, sprach er.
>Ich nehme nicht an, dass du oder deine Frau einen Passierschein haben. Und der Einlass in die Stadt kostet seit diesem Sommer 5 Silbermünzen pro Person und nochmal 10 für den Wagen.<
Als Jinka sah, wie das letzte bisschen Blut aus dem Gesicht des Wanderers schoß, hob er schnell beschwichtigend die Hände >Aber nicht verzagen. Ich werde dir das Geld leihen. Ich verstehe deine Lage gut. Nenne mir die Adresse und den Namen deines Vetters und in einem Monat komme ich und dann zahlst du mir alles zurück.<
Pharos atmete erleichtert auf und griff sofort Jinkas Hand. >Ja Herr, ihr seid zu gütig, Herr. Dieses Reich braucht mehr so gütige Männer, wie ihr einer seid. Ich werde euch mit Zinsen bezahlen. Wartet< und er wühlte in einem Lederbeutel, den er mit einer Schnur an der Hüfte trug. Kurz darauf zog er einen zerknüllten Zettel hervor und las die Adresse seines Vetters vor. Jinka wunderte sich, da er dachte, die Straße zu kennen. Eine abgelegene Gegend, in einem regelrechten Irrgarten von Abzweigungen und Sackgassen in der Nähe des Hansaviertels. Er notierte sich die Adresse und nahm sich vor, gleich morgen bei Anbruch des Tages nach den beiden zu sehen. Dann gab er den Soldaten ein Zeichen, den Wagen zu überprüfen, was diese widerwillig, aber schnell erledigten.
Jinka trat ebenfalls an den Planwagen heran und warf einen Blick über Seras Schulter auf die Ladefläche. Einige Kisten und Krüge waren mit Decken und wirr zusammengeknäulten Kleiderbündeln bedeckt. An der Decke des Wagens waren Glasflaschen mit einer schwarzen, ölig schimmernden Flüssigkeit befestigt, auf denen Jinka den Schriftzug “Poliermittel” lesen konnte. So ein sonderbares Mittel hatte Jinka noch nie gesehen. Er wollte um den Wagen gehen, um sich eine der Flaschen genauer anzusehen, da wurde plötzlich seine Hand ergriffen. Sera hatte sich zu ihm gebeugt und hielt seine Hand fest mit ihren Beiden. Jinka wunderte sich, wie nass die Hände der Frau geschwitzt waren. Es musste ein langer Tag gewesen sein und seine Uniform und all die Lanzen und Schwerter mussten der schwangeren, schwachen Frau eine furchtbare Angst machen.
>Danke für eure Hilfe, Herr!< Sprach sie zu ihm, vermied dabei aber immer noch den Blickkontakt und schaute verlegen auf ihre Füße. >Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wäret ihr nicht so hilfsbereit und freundlich!<
Jinka musterte die junge Frau. Sie hatte ein paar Schrammen im Gesicht, die schon älter sein mussten, denn sie schienen gut verheilt zu sein. Keine akuten Verletzungen durch den Überfall der Banditen. Gut. Sie war ebenfalls in einen dunklen und vor Schmutz starrenden Umhang in dunkelblau gehüllt. Auch ihrer wurde von einer Holzbrosche zusammengehalten, ihrer in der Form eines Adlers. Jinka legte seine zweite Hand auf die Ihren und drückte fest zu. Er warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. >Ich diene dem Volk. Es ist meine Aufgabe und ich erfülle sie gerne!<. Sie lächelte nun ebenfalls verlegen und blickte ihn mit ihren Meergrünen Augen an. Er erkannte unter ihrer Haube ein paar schwitzige, fuchsrote Haarsträhnen. Er ließ seine Hand noch kurz auf ihren verweilen, als er von einem Pfiff seiner Männer aufgeschreckt wurde. Sie waren schnell gewesen. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Sie wollten nach Hause oder ins Gasthaus. Er trat einen Schritt zurück und nickte ihnen zu. Die Soldaten versperrten hinter Pharos und Sera das Tor und machten sich zusammen, als die Letzten, über die Zugbrücke. Nachdem Pharos sich den ganzen Weg in die Stadt weiter überschwänglich bedankte und Jinka jegliche Weine und Speisen versprach, sollte dieser sie besuchen kommen, zeigte Jinka ihnen noch grob den Weg in Richtung Hafen und machte sich selber auf den Weg nach Hause. Er war jetzt wirklich geschafft.
-Königreich des Wassers. Aquilumina. Gasthaus Widdas Wacht. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung.Nachmittag-
Ferd nahm noch einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Das Gemurmel der Gäste in der Bar “Widdas Wacht” war zu einem stetigen Rauschen im Hintergrund geworden. Er und zwei andere Torwachen saßen in einem Raum neben der Hauptschankstube und genossen ihr Feierabendbier. Der letzte Bewohner hatte ihm alle restlichen Nerven geraubt. Nicht nur, dass der Unglückliche sich den ganzen Weg über die Brücke nicht beruhigen hatte lassen, kaum waren sie durch das Stadttor geschritten hatte er mit einem ungezielten Stoß seines Ellenbogens in Ferds Seite einen unüberlegten Fluchtversuch gewagt. Das würde bestimmt einen blauen Fleck geben. Warum mussten sie es sich auch immer schwerer machen als notwendig.
Die ganze Aktion hatte auf jeden Fall so lange gedauert, dass Ferd beschlossen hatte, dass es sich nicht mehr lohnen würde, zurück über die Brücke zu gehen und sich schon ein bisschen früher ein Bier genehmigt hatte. Oder zwei. Jetzt saß er auf jeden Fall bei seinem vierten Humpen, als noch zwei Männer aus seinem Trupp durch die Türe schritten. Sie waren später als üblich.
>Habt ihr euch noch verlaufen Männer? Man möchte meinen, nach so vielen gezechten Stunden würdet ihr die Bar leichter finden, als die Häuser eurer Mütter!< Ferd lachte.
Die Männer legten ihre Helme, welche das sanfte Licht der Kerzen im Raum widerspiegelten und Muster an die Wände zeichneten vor sich auf den Tisch und setzten sich zu ihnen. Die kobaltblauen Umhänge, welche zur Uniform gehörten, schwangen sie über die Stuhllehne, damit sich keine Falten bildeten. Ein gutes Erscheinungsbild und tadelloser Auftritt waren dem Hauptmann sehr wichtig.
Einer der Männer strich sich eine verschwitzte, haselnussbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und band sich seine schulterlangen Haare zu einem engen Knoten am Hinterkopf. Er knurrte dabei aus zusammengebissenen Zähnen: >Am Arsch verlaufen. Zugführer Jinka musste kurz vor Feierabend noch den barmherzigen Freund und Helfer spielen und einen abgewetzten Landstreicher und sein schwangeres Weibsbild in die Stadt geleiten. Wir haben uns bemüht so schnell wie möglich den Karren zu filzen, damit endlich Schluss ist. Glaube ein Schmied oder sowas. Er hatte auf jeden Fall Metalle geladen, denke ich<
>So ein Schwachsinn!< schaltete sich der andere Mann, ein etwas älterer mit faltigem Gesicht und Bartstoppeln um Mund und Kinn ein. >Hast du nicht zugehört. Kesselflicker oder sowas.<
>Ja? Er hatte aber etwas aus Metall geladen.<
>Nein! Ich habe ganz eindeutig Flaschen gesehen. Waren wohl Poliermittel oder sowas!<
>Wie auch immer< grummelte der Jüngere und bestellte mit einer Geste zum Wirt auch für sich ein Bier. >Auf jeden Fall hat uns das unsere Freizeit gekostet<
Ferd musste lachen. >Ihr scheint ja genau hingeschaut zu haben, wenn ihr nicht mal wisst, was er geladen hatte!<
Er konnte seine Männer gut verstehen. Er und Jinka waren seit vielen Zyklen zusammen am Tor stationiert und nannten sich, solange sie bei der Stadtwache waren, Partner. Auch, dass sie gemeinsam zu Zugführern befördert worden waren und die Verantwortung für eine ganze Truppe am Tor bekommen hatten, hatte sie noch schärfer zusammengeschweißt. Aber Ferd musste eingestehen, dass Jinkas Verlangen, es jedem Bürger recht zu machen, manchmal lästig sein konnte. Jinka war halt ein unverbesserlicher Gutmensch, der immer vom Besten ausging. Es wirkte zwar naiv, aber Ferd beobachtete sich selbst manchmal, wie er neidisch auf Jinka dafür war, wie unbeschwert er durch sein Leben ging. Ferd war da anders.
>Dann habt ihr euch auf jeden Fall ein Bierchen extra verdient. Ich gebe euch beiden eins aus, Jungs!< sprach er gönnerhaft, um die Laune seiner Männer wieder zu verbessern und prostete in die Runde. Seine Truppe stimmte ein und schon bald lachten und tranken sie zusammen, während die Sonne endgültig verschwand und die Nacht Einzug in den Straßen hielt.
-Königreich des Wassers. Aqualumina. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung. Anfang der Nacht-
Die Lichter in den Fenstern der Stadt waren größtenteils erloschen. Die meisten Bewohner waren zu Bett gegangen und auch immer mehr und mehr der Gaststätten und Wirtshäuser löschten die Lichter und schlossen die Schankstuben. Die Straßen waren nur noch von wenigen Betrunkenen beheimatet, welche sich nach Hause schleiften oder von den nächtlichen Wachpatrouillen, die in Vierergruppen durch die breiteren Straßen der Stadt patrouillierten. Die kleineren Gassen waren nicht durch die regelmäßigen Laternen erhellt und lagen im Dunkeln. Der Wind wehte wie immer vom See her durch die Straßen, trug den Geruch von klarem Wasser mit sich und brachte erfrischende Kühle in die Sommernacht. Keiner der Bewohner bemerkte den Schatten, welcher sich wie eine Katze von Giebel zu Giebel schwang und sich dem Palast näherte. Sehr vorsichtig achtete er darauf, auf den metallenen Dachschindeln keine Geräusche zu machen. Jetzt aufzufliegen, nach all der Vorbereitungszeit konnte sich Jerek nicht leisten. Zu viel hatten sie auf diese Karte gesetzt. Sie hatten nur die eine Chance.
Jerek hangelte sich weiter über die Dächer und legte großen Wert darauf, nicht über breitere Straßen zu springen und den Wachpatrolien weitläufig aus dem Weg zu gehen. Bald hatte er das vereinbarte Gebäude erreicht und ließ sich in den Innenhof hinunter. Dort warteten schon die restlichen Agenten. Mit den letzten Dreien, die erst heute eingetroffen waren, waren sie knapp ein Dutzend. Alle trugen Holzmasken vor ihrem Gesicht und hatten sich mit dunkelblauen, weiten Umhängen verhüllt. Jerek nickte ihnen kurz angebunden zu. Die Anspannung, die in der Luft lag, war für alle spürbar.
Die Neuankömmlinge verteilten noch die notwendige Ausrüstung. Jerek versuchte, seine Anspannung abzuschütteln. Seine Hände zitterten. So lange hatten sie darauf hingearbeitet. Sie durften sich keine Fehler erlauben. ER durfte sich keinen Fehler erlauben. Er ging alles noch einmal in seinem Kopf durch. Hatte er alle Vorbereitungen getroffen? Hatte er sich irgendwie verraten? Was, wenn die Palastwachen Bescheid wussten? Was, wenn der Plan nicht funktionierte. So viele Leben würden für nichts weggeworfen werden.
>Schwein!< Riss ihn die Stimme des Anführers aus seinen Gedanken. Er war ein groß gewachsener Mann, mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Seine Holzmaske war der Fratze eines Wolfes nachempfunden und wie die der Anderen in Dunkelblau bemalt. Dahinter blitzen zwei braune, intelligente Augen, die Jerek von oben bis unten musterten.
>ist alles in Ordnung?<
>Ja, alles okay. Bin bereit.<
Der Anführer schenkte ihm noch einen langen, abschätzenden Blick, ehe er sich mit einem Schulterzucken zum Rest der Gruppe umwandte und mit der Ausführung des Plans fortfuhr.
Dann ging es los. Lautlos setzte sich die Gruppe aus Vermummten in Bewegung und kletterte an dem Seil wieder auf das Dach des Warenhauses. Dann wandten sie sich nach Süden, wo sich die Mauern und Türme des Glaspalastes vom nachtblauen Himmel deutlich abhoben. In den meisten der Fenster war Licht zu sehen, doch im mittleren Turm auf Höhe der Wohngemächer der Königsfamilie war es dunkel. Gut. Also konnte es losgehen.
-Königreich des Wassers. Aqualumina. Gläserner Palast. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung. Nach Mitternacht-
Lumariel konnte heute nicht schlafen. Irgendetwas störte ihn. Egal wie oft er sich in seinem großen Bett hin und her wälzte, er kam in keine Position, in der er sich entspannen konnte. Das Wetter oder der Mond. Etwas macht ihm zu schaffen. Er erhob sich und trat aus seinem Schlafgemach, um sich Richtung Speisekammer aufzumachen. Vielleicht brauchte er noch einen wohlverdienten Happen. Ein bisschen Käse und ein weicher Laib honiggesüßtes Weißbrot würden ihm bestimmt helfen, in einen Schlummer zu gleiten. Oder sogar ein kleines Glas Wein? Obwohl Lumariel erst 14 Jahre alt war, hatte er schon bei mehreren Gelegenheiten von den kostbaren Fässern aus dem Privatlager seines Vaters den einen oder anderen Schluck ergaunert. Auch wenn es ihm am Anfang zu herb gewesen war, hatte er sich sehr schnell an den Geschmack des roten Trunks gewöhnt. Sein Lehrer, Moros, war ihm auch schon einmal auf die Schliche gekommen und hatte ihn ordentlich getadelt, aber zum Glück seinem Vater nichts verraten. König Aquilon hatte wenig Geduld und Sinn für Schabernack und Späße, weswegen Lumariel dem alten Zausel dankbar für dessen Stillschweigen war.
Ganz langsam, um seinen Lehrer, der im Nebenzimmer schlief, nicht zu wecken, schlich der Junge an dessen Türe vorbei. Dabei sah er, dass im Zimmer des Alten anscheinend noch ein Licht brannte, da er den tanzenden Schein der Fackel unter der Tür durchscheinen sah. Lumariel erschrak, als er aus dem Zimmer Geräusche hörte, genau als er auf Höhe der Türe war und erstarrte. War er aufgeflogen? Doch die Türe blieb verschlossen. Was auch immer der Alte zu so später Stunde in seinem Zimmer trieb, er schien im Zimmer zu bleiben. Lumariel atmete auf und versuchte sich auf die Geräusche, die durch die dicke Eichenholztür drangen, zu konzentrieren. Er meinte zu hören, wie etwas aus Glas klimperte und das Scharren von etwas Schwerem über die Dielen des Bodens. Was trieb der alte Mann da drinnen? Lumariel musste schmunzeln. Er hatte schon länger den Verdacht, dass sein alter Lehrmeister im Oberstübchen nicht mehr alle Tropfen in der Schale hatte. Wahrscheinlich senile Bettflucht.
Als der junge Prinz seinen Weg gerade fortsetzen wollte, hörte er einen dumpfen Schlag aus dem Zimmer Moros. Er erschrak, da vernahm er auch schon Schritte, die sich hastig der Türe näherten. Lumariel drehte sich auf dem Absatz um, spurtete zurück in sein Zimmer und sprang in sein Bett. Er schlüpfte unter die Decke und hörte sein Herz bis zu den Ohren pumpen. Was für ein Schreck. Doch Moros folgte ihm nicht, sondern schien irgendwo anders hin gelaufen zu sein. Das war knapp. Lumariel blieb noch kurz unter der Decke, um sich zu beruhigen, da hörte er die Schreie. Und den Lärm. Das Klingen von Metall auf Metall. Die Schreie, die Menschen von sich gaben, wenn sie starben. Dann eine Explosion. Der Turm wankte, kleine Steinbrocken lösten sich von der Decke und prasselten in Lumariels Zimmer. Sie wurden angegriffen! Der Junge erstarrte vor Angst. Angst um sich, um seine Mutter und seinen Vater. Hunderte Male hatte er proben müssen, wie er sich in so einer Situation verhalten sollte. Doch er konnte sich nicht bewegen. Die Schreie und Geräusche wurden lauter. Kamen näher. Dann näherten sich wieder Schritte und die Tür zu seinem Zimmer wurde mit Schwung aufgestoßen, so dass sie an die Wand knallte.
Moros stand im Türrahmen, in einer Lederrüstung und hielt eine Fackel hoch.
>Junger Herr! Kommt schnell! Wir werden angegriffen. Wie immer geübt. Folgt mir in den Fluchttunnel! Wir müssen hier schleunigst fort. Rebellen!<
Als Lumariel sich immer noch nicht rührte, sondern Moros nur mit großen Augen anstarrte, kam dieser näher, griff nach dem Arm des Jungen und riss ihn unsanft in die Höhe.
>Kommt schnell junger Herr! Wir haben keine Zeit<
Eine weitere Explosion erschütterte den Turm und riss den jungen Prinzen aus seiner Starre. Augenblicklich zuckte er hoch und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn los, so dass sein Lehrer alle Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. So schnell hatte er den Greis noch nie laufen sehen.
Sie stürzten von Zimmer zu Zimmer, vorbei an Wachen und Bediensteten, die kopflos und schreiend durcheinander liefen. Es roch nach Feuer und Erde. Als sie um die scharfe Biegung eines schmalen Ganges liefen, blieb Lumariel plötzlich stehen. Vor ihm lag ein Toter. Er hatte schon Kampftraining gehabt und auch schon Blut gesehen. Aber einen richtigen, toten Menschen noch nie. Es war ein Dienstbote. Keine 20 Jahre alt. Seine Augen waren aufgerissen und sein Mund war wie zu einem letzten, grässlichen Schrei verzerrt. In seiner Brust klaffte eine schreckliche Wunde, aus der das Blut des jungen Mannes geflossen war und den gesamten Boden des Gangs bedeckte. Lumariel wurde schlecht. Der Boden kippte unter seinen Füßen weg und sein Magen schien sich zu drehen. Sein Blickfeld wurde plötzlich immer kleiner und es schien, als würde von allen Seiten Dunkelheit in seine Augen kriechen. Er war ohnmächtig, bevor er auf dem Boden aufschlug.
Jin stemmte sich auf seine Ellenbogen. Die Explosion hatte ihn von den Füßen gerissen. Er konnte immer noch nichts hören, außer einem schrillen Pfeifen, welches alle anderen Geräusche übertönte. Der Rauch verhinderte, dass er etwas anderes als den Schein der Flammen wahrnehmen konnte. Sie wurden angegriffen! Er erhob sich schwankend. Ein heftiger Schmerz zuckte durch seine linke Seite. Er blickte an sich hinunter, musste sich an der Wand abstützen, um nicht wieder hinzufallen, als er einen abgebrochenen Holzsplitter aus seiner linken Bauchseite ragen sah, der sogar noch glimmte. Jin biss die Zähne zusammen und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Langsam kamen die Geräusche zurück, klangen aber immer noch, als kämen sie von weit her und durch einen Vorhang. Er gab sein Bestes, seine Gedanken zu ordnen. Er war erst seit kurzem in der Palastwache aufgenommen worden. Der Stolz seiner Familie. Während sein Vater es nur zu einem Torwächter geschafft hatte, war Jin trotz seiner jungen Jahre schnell auf der Karriereleiter empor geklettert. Heute war seine erste Nachtwache gewesen. Er hatte gerade mit Sayor, einem älteren Soldaten, die letzte Runde gemacht, als sie auf das schabende Geräusch an der Außenmauer aufmerksam geworden waren. Sie hatten das Geräusch nicht zuordnen können, da wurde die Welt auch schon aus den Fugen gekippt. Der laute Knall, gefolgt von der Druckwelle, welche die Steine der Außenmauer in alle Richtungen davonfliegen ließ, hatte ihn von den Füßen gerissen und somit vor der darauffolgenden Feuerwelle gerettet.
Der Rauch verzog sich langsam und Jins Blick wurde etwas klarer. Er konnte neben sich an der Wand einen verkohlten Körper ausmachen. Auch wenn die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und zerfetzt war, erkannte er an den geschmolzenen Abzeichen auf der linken Brust, dass es sich um Sayor handelte. Jin war noch viel zu verwirrt, um richtig erschrocken zu sein und wandte sich von den qualmenden Überresten seines älteren Kollegen ab. Er versuchte auszumachen, WAS die Explosion verursacht hatte. Der Rauch verzog sich immer schneller und gab den Blick auf ein mannshohes Loch in der Außenmauer frei. Die Ränder waren rußgeschwärzt und die meisten Steinbrocken waren nach innen in den Turm geschleudert worden.
Er näherte sich dem Loch und schaute langsam an der Mauer nach unten. Einige Stücke Mauerwerk waren nach unten gestürzt und hatten die Dächer der unten liegenden Gebäude beschädigt oder waren auf dem Pflasterstein des Innenhofs zerborsten. Er konnte auch noch ein anderes Loch etwas weiter unten an der Mauer ausmachen. Außerdem erkannte er an der Mauer mehrere Eisenspitzen, die mit einem Seil verbunden waren. Anscheinend hatte jemand die Wand erklommen und sich gewaltsam Zutritt in den Wohnturm der Königsfamilie geschaffen. Die Königsfamilie! Jin fuhr auf dem Absatz um. Er musste den König schützen! Er rannte zurück in den Gang, in dem er gerade zu sich gekommen war und folgte dem Lärm und den Schreien, die er hörte. Verfluchte Rebellen.
Als er tiefer in den Turm vordrang, konnte er erkennen, dass die Geräusche aus der Richtung der Schlafzimmer kamen. Verflucht! Er versuchte noch schneller zu werden, doch der Holzsplitter, der immer noch in seiner Seite steckte, machte ihm ein schnelles Vorankommen unmöglich. Immer wieder musste er kurz innehalten und sich an einer Wand abstützen, um durchzuatmen und zu Kräften zu kommen. Er verlor kontinuierlich Blut, doch er wusste, würde er den Splitter jetzt rausziehen, würde er bald verbluten. Er biss die Zähne zusammen, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und stieß sich von der Mauer ab. Er musste weiter.
Als er die ersten Leichen passierte, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er seine Waffen wohl bei der Explosion verloren hatte. Vor ihm lagen mehrere Palastwachen, aber auch ein paar Dienstboten, die durch lange, tiefe Schnitten hingemetzelt worden waren. Die Schnitte klaffen tief und sauber in den Körpern der Ermordeten. Einige hatten auch eine Hand oder einen ganzen Arm verloren. Die Gegner schienen sehr scharfe, schlanke Klingen zu führen. Er schaute sich suchend um und ergriff eine Lanze. In seiner jetzigen Verfassung wollte er sich nicht auf einen Schwertkampf Mann gegen Mann einlassen. Er nahm die Lanze aus der verkrampften Hand eines erschlagenen Soldaten und machte sich, so schnell es ihm ging, weiter Richtung Schlafgemächer. Dabei nutzte er die Lanze als Gehstock, um sich zu stabilisieren und schneller voranzukommen. Er musste den König schützen. Als er um eine Biegung taumelte, hörte er plötzlich Schritte auf sich zu eilen. Bevor er reagieren konnte, tauchte in einer Türe Moros vor ihm auf. Der alte Mann trug einen schlaffen Körper über seinen Schultern. Jin konnte den Prinz erkennen. Er schien ohnmächtig zu sein.
>Zur Seite Soldat! Ich muss den Prinz evakuieren!< schnarrte ihn der Alte Mann an, der trotz seines Alters erschreckend schnell und behändig mit dem Jungen auf den Schultern auf Jin zu und an ihm vorbei hetzte. Jin wusste, dass sich in die Richtung, in die der Mann lief, ein geheimer Fluchttunnel raus aus dem Palast befand, der zum Hafen führte. Der Prinz war in Sicherheit. Jin war zu überrumpelt, um nach dem Verbleib des Königs zu fragen, doch da er weiterhin Geräusche den Gang hinunter hörte, nahm er an, dass immer noch gekämpft wurde. Er schaute dem flinken Alten nach, dann setzte er sich wieder in Bewegung und eilte so schnell er konnte weiter. Bald war er am Fuß der Treppen angekommen, die zu den Schlafgemächern des Königs führten. Er hetzte die Treppen hoch und musste dabei über die toten Körper weiterer Soldaten steigen. Dann erblickte er zwischen den Toten endlich auch einen der Angreifer. Er war in einen dunkelblauen, fast schwarzen Umhang mit Kapuze gehüllt. Sein Gesicht war hinter einer blau bemalten, hölzernen Schweinemaske versteckt. Neben seiner Hand lag ein sehr langes, dünnes Schwert, das leicht geschwungen war, einem Säbel nicht unähnlich. Das Schwert war lang wie ein Zweihänder, doch wegen der schmalen Klinge mit einer Hand führbar. Jin rannte weiter. Die Rufe und der Kampflärm kamen direkt vom Ende der Treppen. Er rutschte auf dem Blut auf den steinernen Stufen aus und fiel schmerzhaft hin, konnte aber verhindern, wieder in die Tiefe zu stürzen. Dabei schlug er sich aber seinen Holzsplitter an und der Schmerz, der daraufhin durch seinen Körper zuckte, ließ Sterne vor seinen Augen tanzen. Er biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreiben und stemmte sich an seinem Speer ächzend in die Höhe. Noch zwanzig Stufen, dann war er oben! Das tanzende Licht der Fackeln warf Schatten von Männern an die Wände. Er schleppte sich weiter. Als er oben ankam, stockte ihm für ein weiteres Mal der Atem. Vor sich sah er ein halbes Dutzend der vermummten Angreifer, die vier Palastwachen gegenüber standen, welche sich vor der Türe zum Schlafsaal des Königs zusammengekoppelt hatten. Ein weiterer der Angreifer und drei Wachen lagen regungslos auf dem Boden. Die Rebellen hatten Jin noch nicht bemerkt, da sie mit dem Rücken zu ihm im schmalen Gang standen. Die Wachen versuchten, die Angreifer mit den Lanzen und Hellebarden auf Abstand zu halten, was durch die Enge des ungefähr fünf Schritte breiten Ganges erleichtert wurde. Trotzdem kamen die Rebellen langsam näher. In der hinteren Reihe der Angreifer stand ein sehr hochgewachsener, der gerade Befehle brüllte. Sein Gesicht steckte hinter einer Wolfsmaske. Jin näherte sich ihm langsam und setzte seine verbliebene Kraft in den Stoß. Mit beiden Händen umklammert, rammte er dem Mann seinen Speer von hinten in den Rücken und trieb ihn tief in dessen Brustkorb. Dieser verstummte mitten im Wort und brachte nur noch ein erschrockenes Ächzen zusammen, als die Lanzenspitze aus seinem Brustkorb drang. Ein Schwall Blut schoss aus seinem Mund und sein Körper sackte leblos zusammen. Dabei glitt ihm sein Schwert aus der Hand und fiel klirrend auf den Boden. Noch ehe die überraschten Feinde richtig begriffen, was passiert war, warf sich Jin gegen den halb stehenden Körper des Erstochenen und stieß diesen mit seiner Schulter zusammen mit der Lanze, die noch immer aus seiner Brust ragte gegen die Rebellen. Dann bückte er sich und hob die sonderbare Klinge auf. Der Körper des Toten fiel auf die Männer und begrub einen unter sich, die Anderen verloren ebenfalls die Formation und versuchten im engen Gang gegen den neu erschienenen Angreifer eine Formation zu bilden. Diese Kopflosigkeit nutzten die Soldaten und stießen ihrerseits vor. Zwei weitere der Rebellen fielen den spitzen Lanzen zum Opfer, ein Dritter wurde von einer Hellebarde in der Brust getroffen und sank schreiend zu Boden. Jetzt war nur noch einer auf den Beinen und ein weiterer unter dem Körper des vermeintlichen Anführers begraben. Bevor der verbleibende Mann wusste wie ihm geschah, war Jin bei ihm und führte mit einem Schrei einen Schwinger gegen den Hals des Feindes. Das sonderbare Schwert fühlte sich wie eine Verlängerung von Jins Arm an und drang so mühelos durch den Hals des Mannes, dass Jin beinahe erneut den Halt verlor und die Klinge scheppernd und funkendschlagend gegen die Wand krachte. Dabei schlug das Metall sogar ein paar kleinere Splitter Stein ab und blieb zitternd im Mauerwerk stecken. Der letzte Rebell, der immer noch unter seinem Anführer begraben war, versuchte sich verzweifelt darunter hervor zu kämpfen. Als er es aber endlich geschafft hatte, war er bereits von Jin und den anderen Palastwachen umstellt. Einer der Soldaten warf sich auf ihn und rang ihn wieder zu Boden. Dabei verdrehte er dem Mann die Arme, so dass dieser seine Waffe fallen ließ. Er kniete sich auf seinen Rücken und zog die Arme des Mannes immer weiter nach hinten. Dieser schrie vor Schmerz auf und Jin dachte hören zu können, wie der Knochen aus dem Schultergelenk sprang. Der entwaffnete und verstümmelte Mann wurde unsanft auf die Beine gewuchtet. Ein weiterer Soldat trat vor ihm, riss ihm Kapuze und Stiermaske vom Kopf. Darunter kam das sonnengebräunte Gesicht eines älteren Mannes zum Vorschein.
>Das wars dann wohl, Rebellenabschaum!<, spottete der Wachmann.
>Ihr täuscht euch! Wir haben alles, was wir wollten!< lachte der Mann. Erschrocken fuhr einer der Wachmänner herum und schaute zur Tür des Königs. War das Attentat etwa geglückt? Sie hatten die Angreifer doch abgewehrt!
>Nein, nicht der alte Sack! Der Prinz, ihr Narren< Spie der Besiegte ihnen entgegen. Die Männer zuckten zusammen, als ein schrilles Lachen aus dem Mund des Rebellen kam.
Das konnte nicht sein. Der Prinz war in Sicherheit. Jin war sich sicher. Der Mann täuschte sich! Wie konnte er so überzeugt sein?
>Was meinst du damit?<, zischte Jin und gab dem Gefangenen einen Schlag in den Magen, doch dieser lachte nur weiter wie wahnsinnig.
Aus ihm würden sie jetzt nichts herausbekommen. Das war dann wohl Aufgabe des Folterknechts. Oder der Magier.
Jin funkelte ihn wutentbrannt an. Dann meldete sich wieder der Splitter in seiner Seite. Er wollte diesem Hundesohn die Antworten höchstpersönlich aus dem Leib prügeln, aber er wusste, dass er eine Behandlung brauchte. Sonst würde er verbluten oder sich eine Vergiftung vom Holz holen.
-Königreich des Wassers. Lumari See. Spätsommer.
1732 Zyklus nach der Spaltung. Nach Mitternacht-
Lumariel wurde durch das sanfte Schaukeln des Bootes wach. langsam öffnete er die Augen. Dann traf ihn die Erinnerung an das Geschehene wie ein Hammerschlag und ließ ihn hochfahren. Er befand sich auf einem Ruderboot mit Moros auf dem Lumarisee, nach dem er von seinem Vater benannt worden war.
>Junger Herr, ihr seid erwacht. Ich habe mir schon Sorgen um euch gemacht<
>Was ist passiert, wie geht es meinem Vater? Was ist mit meiner Mutter? Was ist los Moros?<
>Wir wurden angegriffen, junger Herr. Rebellen haben euren Vater ermordet. Ich konnte euch in letzter Sekunde aus dem Schloss bringen. Das Königreich ist gefallen. Wir müssen untertauchen.<, antwortete Lumariels Lehrmeister.
Der Junge brach in Tränen aus. Das durfte nicht wahr sein! Wie konnte so etwas passieren? Der Zorn trieb heiße Tränen in die Augen des jungen Prinzen. Ein kehliges Schluchzen drang aus seinem Hals. Moros hörte auf zu rudern und kam auf ihn zu, um ihn in die Arme zu schließen.
>Alles wird gut, junger Herr. Ich bin bei Ihnen.<
Lumariel schluchzte erneut und brach dann in einen Heulkrampf aus. Seine Hände krallten sich in den dunkelblauen Umhang des alten Mannes und er vergrub sein Gesicht an dessen Brust.