Die Definition von Perfekt

Topaz

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Die heißen Ionen der Sonne strichen bei ihrem Flug durch das All über Achims ausgefranste Kanten. Er räkelte sich genüsslich darin und franste die Kanten dabei weiter aus. Er ließ die Enden sich weiter in die Leere um sich herum ausdehnen. So konnte er noch mehr Materie verschlingen. Schließlich fielen die heißen Ionen in das lichtlose Innere des Wurmloches hinein und verschwanden aus dieser Dimension.
Achim räkelte sich genüsslich und wuchs ein wenig weiter. Wie immer, wenn er neue Materie aufnahm. Es war ein langsamer Prozess. Doch über die Jahrmillionen war er zu einem stattlichen Wurmloch herangewachsen.
»Ich sollte endlich auch in dieser Dimension zum Anführer aller Löcher ernannt werden«, dachte Achim während die Hitze durch seinen gewundenen, nach innen und außen gestülpten, mit unzähligen Sackgassen ausgekleideten Tunnel fiel, taumelte und sich an den Wänden anstieß, bevor sie durch eine der, gleichfalls ausgefransten Kanten, an einer von Achims anderen Seiten in einer anderen Dimension wieder entkam.
»Es wird Zeit, die nächste Versammlung einzuberufen! Meine Größe und Gefährlichkeit muss gewürdigt und anerkannt werden.«
Achim sandte seine Gedanken mit der Aufforderung sich zu versammeln in die Weiten des Alls hinaus. Hin zu den Sternen, hin zu den Planeten, Steinen und Staubkörnern, welche darum kreisten.
Achim hatte Ambitionen, die vor keiner Dimension halt machten. Er wollte das größte Wurmloch, der Herrscher aller Löcher sein, die überhaupt existierten.
*
Die Baugrube Benjamin mit ihren lotrechten Wänden sonnte sich im warmen Sommersonnenmittagslicht. Kein Regenwurm hatte sich seit Beginn der Bauarbeiten auch nur getraut, seinen Kopf aus der Erdwand zu strecken und die Gleichmäßigkeit zu zerstören. Eine Tatsache, auf die Benjamin sehr stolz war.
Die Bauarbeiter hatten im Augenblick Mittagspause. Die Bagger, welche Benjamin nachher weiter ausheben und vertiefen würden, schwiegen ebenfalls. Über der Baustelle war das Kreischen von Maschinen, das Poltern von Steinen und das Rattern von Motoren verhallt. Der Gestank der Abgase und der Qualm der unzähligen Zigaretten hatte sich gleichfalls verzogen. Nur der, nie verschwindende, durchdringende Geruch von Urin aus den Plumpsklos hing an einer Ecke des Geländes reglos in der windstillen Luft.
Benjamin bewunderte seine perfekt glatten Wände und freute sich daran, wie die Sonne die Erde austrocknete, härter und stabiler machte. Bald würde in Benjamin ein wunderbares, aus Glas und Stahlbeton bestehendes, Hochhaus errichtete werden. Ein Glaspalast der Technik. Ein Wunder der menschlichen Baukunst und eine immerwährende Erinnerung an Benjamin, die tiefer und tiefer werdende Baugrube, in welcher dieser Wolkenkratzer stehen würde.
»Diese Bagger sind ein Wunderwerk der Technik«, sagte Benjamin zu sich selbst. »Je mehr diese Menschen von diesen Maschinen erfinden, umso ästhetischer und ansprechender werde ich als Baugrube.«
Mit einem leisen Schaudern, dass ein paar Erdbrocken von der Kante herab bröckeln ließ, erinnerte Benjamin sich an die unförmigen, mit Schaufeln und Stöcken ausgegrabenen Baugruben der ersten Häuser. Sie hatten nur vage an eine rechteckige oder runde Form erinnert.
Heute dagegen war er endlich perfekt, um nicht zu sagen komplett quadratisch. Es war an der Zeit, dass die anderen Löcher seine Ästhetik zur Norm erklären und alle zu senkrechten, quadratischen Löchern wurden.
Ehe Benjamin seinen Gedanken in einen Aufruf zur allgemeinen Versammlung fassen und verschicken konnte, erreichte ihn der Aufruf sich alle zu Versammeln von Achim.
»Was will dieses ausgefranste Alien hier befehlen?«, schnaubte Benjamin und grummelte.
Davon stürzte eine Seite seiner Wand halb herunter. Er rülpste die Staubwolke hinauf in den blauen Himmel, der danach gelb und trüb wirkte.
Hastig atmete Benjamin langsam ein und aus.
Seine Perfektion!
Dieser Achim hatte seine Perfektion zerstört! Dafür würde er bezahlen!
Mit mühsam beherrschter Wut, um nicht weitere Wände zum Einsturz zu bringen, schickte Benjamin seine eigene Nachricht an alle Löcher, und ganz besonders an die vielen Löcher auf der Erde. Er war sich sicher, die vielen Löcher auf der Erde würden seine Überlegenheit erkennen und ihre Stimmen für ihn abgeben.
*
Catherine genoss die kühlenden, alles mit sich reißenden, braunen Schlammlawinen, welche an ihren schiefen Hängen herunterrannen, rollten und donnerten. Der lange Regen während des Monsuns hatte die Erde derart aufgeweicht, dass nicht einmal die tiefen Wurzeln der Urwaldriesen und die flachen, breiten Netzwurzeln der kleineren Bäume dazwischen, sie festhalten konnten.
Prasselnd fiel der warme Regen auf sie hernieder und vergrößerte sie jeden Tag mehr. Die Wassertropfen massierten die Hänge, lösten die Erde und glitten mit Erde, Samen, Wurzeln und ganzen Bäumen in die Tiefe hinunter. Dort mischte sich alles zu einem großen, tiefen See. Der Schlamm, die Erde und die entwurzelte Bäume, alles stürzte Tag für Tag in den Schlammlawinen an ihren Wänden in ihre Tiefe.
Bald, das wusste Catherine, würden die Regengüsse für Monate aufhören und sie würde in der unbarmherzigen Sonne austrocknen und rissig werden. Sie genoss den Regen, solange er anhielt und nutzte die Gelegenheit ihre Fläche zu vergrößern. Sie würde die Trockenzeit überdauern. Solange, bis der nächste Monsun herbeikam, sie mit Regen füllte und ihr dabei half, sich weiter zu vergrößern.
Catherine bewunderte den See, der sich gebildet hatte, nachdem sich der Schlamm am Grunde ihres Loches abgesetzt hatte.
»An alle Löcher!«, hörte Catherine eine fremde Stimme hallen. »Versammelt euch. Wir wollen einen Anführer in dieser Dimension bestimmen.«
Sie spürte der Stimme nach. Sie kam aus dem All und war von einem dieser arroganten, alles verschlingenden Wurmlöcher verschickt worden. Es hatte sich noch nicht einmal vorgestellt in der Nachricht.
Catherine war stolz darauf, dass sie nur Erde, Steine und Pflanzen in ihrem Loch sammelte. Käfer, Tiere, oder Menschen verscheuchte sie mit grollenden Erdstößen von ihren Rändern. Aber diese Wurmlöcher, arrogant und eingebildet, wie sie waren, schreckten vor nichts zurück und verschlangen alles. Sogar die Sonne selbst!
»Der Versammlungsort wird auf dem Boden der Erde sein«, folgte eine weitere Stimme, die weniger fremd und trotzdem unbekannt klang. »Ich bin Benjamin, die quadratische Baugrube mit den lotrechten Wänden. Meine Ästhetik ist viel wichtiger als Sonnenstrahlen zu verschlucken.«
Catherine prustete los.
Der See am Grunde ihres Loches schlug Wellen. Sie schwappten hoch und höher.
Das Wasser gurgelte und sie konnte sich vor Lachen nicht mehr halten.
Eine Baugrube.
So winzig!
So anmaßend!
Als ob es in der Natur eine Rolle spielte, was diese kleinen Menschen erschufen?
Das Loch Catherine entwickelte sich seit tausenden von Jahren. Sie wuchs mit jedem Jahr ein Stück und hatte bei ähnlichen Versammlungen schon ganz unterschiedliche Baugruben kennengelernt. Keine davon war so arrogant gewesen, wie dieser Benjamin.
Catherine schüttelte ein paar Erdklumpen von ihrer Kante. Eine kleine Baugrube wurde nur wenige Monate alt, bevor die Menschen sie auffüllten und an einer anderen Stelle eine Neue aushoben. Wie sollte eine Baugrube in dieser kurzen Zeit irgendeine Art von Ästhetik erreichen?
»Wenn wir von Ästhetik reden«, Catherine konnte nicht aufhören zu lachen und schickte ihre Meinung hinter den Einladungen her, »dann sollten wir über die wundervolle und einzigartige Vielfalt der natürlichen Löcher reden. Nicht über die langweiligen, einfältigen Tätigkeiten dieser kurzfristig lebenden Menschen.«
Ihre Wellen wurden schlammig. Sie schlugen gegen ihre Hänge und lösten noch mehr Erde heraus. Sie schufen Überhänge und höhlten die Wände weiter aus, bis die Hänge darüber stürzten und krachend herunterbrachen. Lawinen rollten von allen Seiten herunter und ließen die dunkelbraunen Matschwellen höher und höher schlagen.
Catherine lachte weiter und weiter. Ästhetik in einer Baugrube, weil eine Wand senkrecht war! Das war zu komisch!
*
Diese Zwischenwelt, die keine richtige Dimension war, war ein Ort, an dem Achim sich nicht gerne aufhielt. Überhaupt kam er nur hierher, wenn er eine Versammlung einberief. An den Versammlungen, die von diesen winzigen Löchern, mit denen er sich heute abgeben musste, einberufen wurden, nahm er grundsätzlich nicht teil.
Heute jedoch zwängte er sich mit seiner ausgefransten Öffnung hier herein. Schließlich diente es dem größeren Plan, die Herrschaft auch über diese Dimension zu übernehmen. Um ihn herum wuselten die kleineren und unscheinbareren Löcher aus dem All, von den Planeten und den anderen Gebilden dieser Dimension. Sie waren Einzelgängerinnen, wie er selbst. Nur eine laute Gruppe fiel aus dem üblichen Rahmen. Eine bunte, laute, freche Sammlung von Löchern unterschiedlichster Größe in der Kategorie der Planetenlöcher.
Achim drehte sich von ihnen weg.
Sie waren unwichtig.
Es war Zeit, die Versammlung zu eröffnen.
»Herzlich willkommen«, dröhnte Achims Stimme über die Versammlung der Löcher.
Sie hallte in dieser Zwischenwelt wieder und hatte genau den richtigen Klang, dachte Achim. Seine Stimme strahlte Dominanz und Machtanspruch aus. Er konnte sehen, wie eine Reihe von Löchern bereits einen Schritt zurücktraten, um ihm mehr Platz zu gewähren.
»Ich bin Achim, das unendliche Wurmloch«, stellte er sich selbst vor und dachte daran, dass manche Löcher Wert auf höfliches Verhalten legten, wenn sie ihn unterstützten. »Vielen Dank für euer Kommen.«
Weitere Löcher traten zur Seite. Planetengroße Wurmlöcher, kleinere schwarze Löcher und ein großes Loch in einem Gasplaneten. Sie alle machten Platz und gaben den Blick frei auf die lärmende Radaugruppe von Löchern, die allesamt von einem Planeten kamen.
Achim drehte sich zu ihnen. Es schien, als hielten die anderen Löcher diese Gruppe für wichtig. Also musste er sich wohl oder übel damit befassen.
Er sah genauer hin und hörte einige Momente zu. Bald konnte er die Baugruben sehen, die sich zusammengefunden hatten und dachten, sie wären etwas Besseres.
Als ob!
Das perfekte Loch war schließlich er, Achim, selbst!
Benjamin, der offensichtlicher Anführer dieser eingebildeten und ungebildeten Baugruben hatte eine eingestürzte Wand. Gleichzeitig hatte er ernsthaft das Ziel, selbst die Führungsposition in dieser Dimension zu übernehmen.
Achim schüttelte sich und ein paar der heißen Ionen in seinen verschlungenen Gängen wurden von ihrem Weg abgelenkt.
»Ich freue mich, dass ihr so zahlreich für unsere Abstimmung erschienen seid«, ergriff Benjamin das Wort und stahl Achim die Aufmerksamkeit aller anderen Löcher. Sogar die kleineren Wurmlöcher, die doch eigentlich nur zu ihm aufschauen sollten, drehten sich zu dieser hässlichen, winzigen, unbedeutenden Baugrube um.
»Es sollte schnell gehen, besonders in dieser geistigen Zwischenwelt, in der es so wenig andere Unterhaltung gibt«, fuhr Benjamin fort.
»Genau!«, rief eine dünne Stimme.
Achim musste sich konzentrieren, um die Quelle für die Stimme zu erkennen. Es war eines der winzigen Löcher. Als er sie erkannte, sah er Millionen davon in einer Gruppe. Diese winzigen Löcher waren kaum größer als die heißen Ionen, welche er sonst mit seinen fransigen Lochrändern einfing und verschluckte. Wie konnten sie es wagen, sich einzumischen und ihre Stimme zu erheben?
»Ohne Füße werde ich nicht größer, also beeilt euch, damit ich zu meinem Menschenfuß zurückkehren kann!«, rief das winzige Loch, dass ein Sockenloch war und gerade schon ihre Stimme erhoben hatte.
Achim drehte sich suchend nach der Stimme hin und her. Er musste eine ganze Weile suchen, bis er sie in der großen Zahl der winzigen Löcher gefunden hatte. In keiner anderen Dimension hatte er bisher so viele verschiedene Löcher bei einer Versammlung getroffen. Vor allem nicht so viele winzige Löcher. Die Mehrheit schien von einem einzigen Planeten zu kommen. Was dachten die sich eigentlich? Dass sie alle eine Stimme hatten? Ganz besonders diese vielen kleinen Löcher, die sich mit Sockenloch, Kleiderloch, Hosenloch und anderen, aberwitzigen Namen bezeichneten?
»Bitte lasst uns nicht streiten«, sagte eine kultiviert klingende Stimme. »Darf ich mich vorstellen? Ich bin Leo, das Finanzloch. Ich halte die Erde am Laufen. Ich sorge dafür, dass die Menschen immer damit beschäftigt sind, mehr Geld zu verdienen. Dabei werden sie es nicht schaffen meine Gier zu füllen. Je mehr Geld sie mir geben, umso tiefer und bodenloser werde ich. Auf diese Weise, liebe Kleiderlöcher und Socken, sorge ich täglich dafür, dass die Menschen mehr von euch produzieren und neue Baugruben, wie dich Benjamin, ausheben.«
Das Gemurmel der Versammlung verstummte. Alle schienen Leo zu lauschen.
»Als ob das wichtig wäre!«, brüllte Achim. »Alleine meine Größe zählt. Ich bin bereits der Anführer der Löcher in vielen anderen Dimensionen. Hier werde ich ebenfalls die Herrschaft übernehmen!«
»Auf keinen Fall!«, brüllte Benjamin dagegen. »Ich bin die perfekte, geometrische Form eines Loches. Die Ästhetik muss gewinnen!«
»Wir fordern eine demokratische Abstimmung!«, riefen die hellen Stimmen der Socken-, Kleider- und Hosenlöcher, sodass ein ohrenbetäubendes Rauschen entstand. »Wir nominieren Leo, das Finanzloch!«
Helles Gelächter legte sich über die vielen Stimmen.
Achim hätte alle diese kleinen Löcher am liebsten vernichtet. Zusammen mit ihren seltsamen Ansprüchen. Leider konnte er, auch als Wurmloch, keine anderen Löcher zerstören. Es gab nur ein Loch, welches andere Löcher vernichten konnte. Simon, das schwarze Loch. Simon war nicht hier.
Was sollte das überhaupt sein? Ein Finanzloch! Also wirklich! Wer hatte von so etwas schon einmal gehört?
»Menschenlöcher sind keine richtigen Löcher«, kreischte Achim. »Sie sind bestenfalls schlechte Imitationen. Sie haben keine Stimme bei der Wahl.«
»Trotzdem sind wir hier«, rief das vorlaute Sockenloch schon wieder und das helle Lachen dieses Matschloches erklang erneut.
Achim tobte. Seine ausgefransten Enden fransten weiter aus.
»Du hast uns eingeladen zur Abstimmung«, sagte Leo, das Finanzloch, »damit hast du uns anerkannt und uns eine Stimme zugestanden. Diese Entscheidung kannst du jetzt nicht ohne weiteres zurücknehmen.«
Achim entglitt seine Haltung vollends. Seine fransigen Ränder rankten weiter, als er sie aufrechterhalten konnte. Dann kollabierten sie und er verlor den Zugang zu der Zwischenwelt dieser Dimension.
»Ich komme wieder!«, brüllte Achim, auch wenn er wusste, dass die anderen Löcher ihn schon nicht mehr hören konnte.
*
»Wo ist er hin?«, fragte Catherine in das folgende Schweigen. »Dieser Achim ist nicht von der höflichen Sorte. Trotzdem war es ein lustiges Theater.«
Sie kicherte noch ein bisschen weiter. So viel Spaß hatte sie seit Jahrhunderten nicht mehr gehabt.
»Da muss ich Ihnen wirklich recht geben, meine Liebe«, sagte Leo mit der gepflegter Stimme, welche auf seine unermessliche Tiefe schließen ließ. »Darf ich Sie nach ihrem Namen fragen, Teuerste?«
»Catherine«, antwortete Catherine. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Leo.«
So freundlich hatte ihr noch nie eines der anderen Schlammlöcher im Urwald geschmeichelt. Sie fühlte sich wieder wie ein junges Loch, welches gerade die erste Schlammlawine erlebte und die ersten Sträucher in ihrem neuen See am Grunde versenkte. Jedes Erdbröckchen an ihrem Rand schien in erwartungsvoller Vorfreude zu vibrieren.
»Schluss mit dem Flirten!«, unterbrach Benjamin grob das Gespräch. »Dieser Achim ist ein Totalausfall.«
Zustimmendes Gemurmel von den Sockenlöchern erklang. Protestierende Buhrufe von den Kleiderlöchern folgte.
»Ganz im Gegensatz zu mir«, fuhr Benjamin fort.
Alles Gemurmel verwandelte sich in Buhrufe. Nur vereinzelt hörte man Beifall aus der Ecke der anderen Baugruben.
Catherine sah sich um. Die Hosenlöcher schwiegen. Sie schienen abwarten zu wollen, wie sich das Gespräch weiter entwickelte.
»Ich werde der Anführer der Löcher«, sagte Benjamin. »Denn meine Ästhetik steht außer Frage und übertrifft die eurigen bei Weitem.«
Catherine konnte nicht anders, sie musste wieder loslachen. Die Hosenlöcher kicherten jetzt ebenfalls.
»Wenn es um Ästhetik geht, werte Baugrube Benjamin«, sagte Leo und seine Stimme klang ohne zu Brüllen über die gesamte Versammlung, »dann muss ich doch sehr um den Kriterienkatalog bitten. Ästhetik ist eine Metrik, die im Auge des Betrachters liegt und regelmäßig nicht von der oder dem Betroffenen selbst bestimmt werden kann.«
Catherine seufzte hingerissen. Leo konnte so wunderbar wohlklingende Sätze sagen. Gleichzeitig konnte er als Finanzloch so unendlich viel verschwinden lassen. Er wäre ein beeindruckender Partner, wenn sie ihn für sich gewinnen könnte.
»Hochgestochener Akademikerquatsch«, schimpfte Benjamin. »Wer soll denn dieses Gesülze verstehen?«
»Wir fordern eine demokratische Abstimmung«, skandierten die Sockenlöcher im Chor. »Wir stimmen für das Sockenloch Ferse, denn es arbeitet am härtesten von uns allen und kommt besonders häufig vor.«
Hatten die Sockenlöcher nicht gerade noch Leo nominiert? Warum stimmten sie jetzt für ein Sockenloch mit Namen Ferse?
Catherine betrachtete Ferse, das Loch, welches die Sockenlöcher jetzt in die Mitte schoben, sodass alle es inspizieren konnten. Ferses Rand war ausgefranst. Durch seine Mitte lief ein einzelner, dünner Faden, der sicher bei der geringsten, weiteren Belastung reißen würde.
Der Faden erinnerte Catherine daran, wie sie, als junges, kleines Schlammloch, eine ganze Trockenzeit lang in der Angst gelebt hatte, bald kein Loch mehr zu sein. Am Ende der Regenzeit war ein Urwaldriese quer über sie hinweg umgestürzt. Er hatte eine Brücke für die Tiere gebildet und Schatten auf ihren Schlammsee geworfen. Zum Glück hatte der Monsun im nächsten Jahr die Erde so schön eingeweicht, dass der ganze Urwaldriese mitsamt dem Boden an ihren Seiten abgerutscht war. Danach, erinnerte sich Catherine, war sie für ein paar hundert Jahre eher ein länglicher Graben gewesen, bevor sie wieder eine rundlichere Form bekommen hatte, und zum Loch geworden war. Heute war sie so groß, dass ihr keiner der Urwaldriesen mehr Sorgen bereiten konnte. Sie würden alle sofort in ihren See hinunterstürzen.
»Liebe Mitlöcher«, sagte Ferse mit ihrer hellen Stimme, »heute bin ich nicht in meiner schönsten Form, denn ich wurde unangekündigt von meiner Arbeit fortgerissen. Dorthin möchte ich schnellstmöglich zurückkehren. Bitte lasst uns diese Abstimmung zu Ende bringen, denn mein Menschenfuß wartet darauf, dass ich zurückkehre.«
»Selbstverständlich, verehrte Ferse«, antwortete Leo. »Am besten bilden wir einen Wahlausschuss, der die Wahl durchführt.«
Catherine bewunderte Leos Ruhe. Mit keinem Wort wies er darauf hin, dass die Sockenlöcher gerade spontan ihre Kandidatin geändert hatten. Im Gegenteil, er unterstützte sie noch dabei. Was für ein wunderbares Loch das Finanzloch doch war.
»Ich melde mich für die Auszählung der Stimmen«, sagte Catherine, die gerne vor dem Finanzloch glänzen wollte.
»Verehrtester Leo«, versuchte sich Catherine an einer ähnlich gehobenen Sprache und scheiterte daran, den Satz zu vollenden. Was waren nur die richtigen Worte?
»Komm mit mir in den Dschungel«, sagte Catherine stattdessen, »dort können wir nach dieser Veranstaltung viel Spaß im Schlamm haben.«
»Dschungel? Spaß?«, rief Benjamin höhnisch. »Diese Wahl ist eine Farce. Jawohl! Ich werde sie anfechten!«
»Genau wie ich«, dröhnte eine bekannte Stimme in die Diskussion.
Catherine merkte, wie sich die Energie in der Zwischendimension verschob. Das Wurmloch Achim war zurück. Aber er war nicht alleine. Mit ihm kam Simon, das schwarze Loch, von dem sie schlimme Schauergeschichten gehört hatte.
»Er hat Simon mitgebracht. Wir müssen uns in Sicherheit bringen!«, rief Catherine.
Sie versuchte die Zwischendimension zu verlassen und an ihren Platz im Urwald zurückzukehren.
Es ging nicht.
Irgendwie hatten Achim und Simon es geschafft, ihr den Rückweg zu versperren.
Mit kaltem Schaudern wandte Catherine ihren Geist wieder den beiden Löchern zu. Ganz besonders konzentrierte sie sich auf Simons fehlende Energie, welche sie anzog, obwohl sie wusste, dass diese Anziehung ins Verderben führt. Simon war das einzige Loch, welches ihr richtig gefährlich werden konnte.
*
Achim räkelte seine Öffnung. Seine Fransen breiteten sich weiter und weiter aus.
Selbstgefällig sah er sich um.
Er hatte es nicht nur zurück in die Zwischendimension geschafft. Er hatte außerdem Simon mitgebracht und für seine Zwecke gewinnen können. Es war so einfach gewesen. Er hatte Simon versprochen, dass er sich an einer schmackhaften Vielfalt anderer Löcher würde stattdessen können und Simon hatte zugestimmt.
»Für Flirts und Geplänkel ist die Zeit abgelaufen«, brüllte Achim über die Versammlung, die gerade hektisch auseinander stob und zu fliehen versuchte.
Vergeblich.
Simons Anwesenheit sorgte dafür, dass kein Loch, nicht einmal das Allerkleinste, flüchten konnte.
»Das ist eure letzte Chance, euch meinem Wunsch zu unterwerfen und mich zu eurem Anführer in dieser Dimension zu wählen«, sagte Achim und lachte höhnisch, als die Sockenlöcher übereinander stolperten und mit den Hosenlöchern gegeneinander stießen.
»Frechheit!«, widersprach Benjamin, die großmäulige Baugrube schon wieder.
»Hunger«, grollte Simon.
Achim beherrschte sich und bedeutete Simon.
»Mit diesem Loch darfst du beginnen.«
Simon stob nach vorne, direkt auf die Baugrube Benjamin hinzu.
»Einen Moment, verehrtes, schwarzes Loch«, sagte die blasierte Stimme dieses virtuellen Finanzloches, welches Achim bereits einmal über alle Maßen aufgeregt hatte, sodass er aus der Zwischendimension geflogen war. »Weshalb gehorchst du diesem Wurmloch, als wärst du kein stolze, schwarzes Loch, sondern lediglich ein Sklave seiner perfiden Herrschaftsansprüche?«
Simon hielt inne.
Benjamin versteckte sich hinter der Gruppe der Baugruben und sagte nichts.
Dafür schäumte Achim vor Wut.
»Zerstöre diese Baugrube!«, kreischte Achim. »Und das Finanzloch gleich mit!«
Simons Anziehungskraft bewegte sich nicht.
Achim brüllte weitere Befehle, bis er sich so aufgeregt hatte, dass er schon wieder den Zugang zu dieser Zwischendimension verlor.
*
Benjamin versteckte sich hinter den anderen Baugruben, die mit ihm in die Zwischendimension gekommen waren. Wenn er in der Realität wäre, ihm wären inzwischen sicher mindestens zwei weitere seiner lotrechten Wände eingestürzt, auf die er so stolz war. Immerhin war dieser Achim wieder verschwunden. Den waren sie los. Blieb noch dieses schwarze Loch, Simon, dass recht dumm und unfähig erschien.
Würde er es mit Beleidigungen vertreiben können?
»Ich gehorche ihm nicht. Ich habe Hunger«, sagte Simon.
Seine Stimme war kalt. So kalt, dass Benjamin bereits beim Zuhören eine eisige Frostschicht überlief, als wäre es mitten im Winter und eisig kalt in seiner Baugrube.
»Selbstverständlich sollst du etwas zu essen bekommen«, sagte Leo.
Was dachte dieses Finanzloch? Wollte er jetzt andere Löcher an Simon verfüttern?
»Allerdings kann so ein kleines, unscheinbares Loch wie eine Baugrube oder gar ein Kleiderloch, ein so großes, beeindruckendes Wesen wie dich doch niemals sättigen«, fuhr Leo fort.
Benjamin atmete erleichtert ein, als Simon der Aussage zustimmte.
*
Catherine lauschte gebannt Leos Argumentation. Sie war so elegant, so attraktiv und so flüssig, als würde er ähnliche Verhandlungen jeden Tag führen. Sie spürte, wie ihre Furcht vor Simon verschwand, weil alle ihre Gefühle sich auf Leo konzentrierten.
»Was würde denn Simons Hunger stillen können?«, hauchte Catherine und wartete darauf, dass Leo ihre Frage beantworten würde.
»Achim«, sagte Simon.
Ein Wort, welches Catherine mit kalten Schaudern überzog, wie sie diese noch nie zuvor in ihrem Leben gespürt hatte. Was war das nur für eine Kälte? Wie sollte sie sich dagegen wehren? Sie kannte doch nur die trockene Hitze der Dürreperiode und das warme, endlose prasseln des Regens während des Monsuns. Sie konnte förmlich spüren, wie sich Eiskristalle auf der Oberfläche ihres Matschsees zu bilden begannen.
»Dann sollten wir ihm Achim zu Fraß vorwerfen!«, rief Benjamin und kam hinter den anderen Baugruben wieder hervor. »Anschließend können wir mich zum Anführer aller Löcher dieser Dimension wählen.«
Catherine musste wieder lachen. Benjamin war so lächerlich, wie er immer noch davon überzeugt war, dass sie ihn wählen würde?
»Bevor ich dich wähle, folge ich den Stimmen der Sockenlöcher und wähle Ferse. Er scheint mehr an harter Arbeit interessiert zu sein, als du Angeber«, sagte Catherine mit lautem Glucksen.
Die Eishaut auf ihrem See zerbarst in den Wellen, welche ihr Glucksen auslöste.
»Simon, du bist ein ganz außergewöhnliches, schwarzes Loch«, sagte Leo, ohne sich von Benjamin ablenken zu lassen. »Wie du der liebreizenden Catherine bereits gesagt hast, würde nur Achim deinen Hunger stillen können. Darum würde ich dir raten, falls du einen Rat annehmen möchtest, folge Achim und verzehre ihn. Das wird dich glücklicher machen.«
Simon grunzte etwas Unverständliches und verschwand aus der Zwischendimension.
Catherine spürte, wie ihr Rückweg wieder frei wurde. Der Weg für ihren Geist zurück zu ihrem Schlammloch im Urwald.
»Leo«, begann Catherine, während die Kleider-, Hosen- und Sockenlöcher einen Jubelgesang anstimmten, »Leo, wirst du mich in den Urwald begleiten?«
»Ferse ist unsere Anführerin«, sangen die Sockenlöcher.
»Sie wird alle Löcher dieser Dimension vereinen«, sangen die Hosenlöcher.
»Und uns vor Achim und Simon beschützen«, vollendeten die Kleiderlöcher das Lied.
»Wir sehen uns bei der nächsten Versammlung wieder«, rief Benjamin, »so leicht gebe ich nicht auf.«
Benjamin verschwand. Nach ihm verschwanden viele andere Löcher, von denen die meisten nichts gesagt hatten. Schließlich waren nur noch Catherine und Leo in der Zwischendimension.
Catherine wartete mit angehaltenem Atem und erstarrten Wellen auf Leos Antwort.
»Verehrteste Catherine«, sagte Leo langsam und zog sich von ihr zurück, »ich bin das schwarze Loch der Finanzen. Ich kann dich ebenso wie Simon zerstören.«
»Das stimmt nicht. Niemals kann ein so kultiviertes, zivilisiertes Loch wie du einem anderen Schaden zufügen!«
Catherine wollte und konnte nicht glauben, was sie da hörte.
»Habe ich nicht gerade Simon dazu gebracht, sich auf Achim zu stürzen?«, fragte Leo, dessen Stimme in Catherines Geist immer leiser und schwächer wurde. »Wenn du mich in den Urwald einlädst, dann komme ich mit Menschen, die Gewinne erzielen wollen. Gewinne, für die sämtliche Schlammlöcher erst zugeschüttet, dann durch Baugruben und später gläserne Wolkenkratzer ersetzt werden würden.«
Catherine wollte nicht weiter zuhören.
Sie flüchtete aus der Zwischendimension zurück in ihren Urwald, in ihre Matschlochform, die seit Jahrhunderten groß und größer geworden war. Sie wollte Leo nicht glauben und konnte seine grausamen, geschliffenen Worte doch nicht aus ihrem Geist verbannen. Er war ein schwarzes Loch in anderem Gewand und mindestens genauso tödlich. Welch ein Glück, dass sie ihre Stimme Ferse gegeben hatte.

ENDE
 
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ahorn

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Topaz,

herzlich willkommen in der Leselupe.
Eine Bitte habe ich an dich: Lösche die Leerzeilen. Leerzeilen leiten einen Abschnittswechsel ein.

Die heißen Ionen der Sonne strichen bei ihrem Flug durch das All über Achims ausgefranste Kanten.
Gruß
Ahorn
 

Topaz

Mitglied
Hallo ahorn,

vielen Dank für deine herzliche Begrüßung.
Die Leerzeilen habe ich gelöscht und den Typo korrigiert.

Viele Grüße
Topaz
 



 
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