Die Diversifikationsbeziehung oder синий und голубой

HPF

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Diversifikationsbeziehung – unbestritten ein gewaltiges Wort, wenn auch kaum erkennbar, was es bedeuten soll. Nun, es handelt sich bei dieser Bezeichnung darum, dass in der einen Sprache ein Wort besteht und in einer anderen Sprach deren zwei oder mehrere für dieselbe Sache.

Nun wird man im ersten Augenblick dieser Erscheinung nicht allzu grosse Bedeutung zumessen, wird sie allenfalls gar nicht wahrnehmen oder achselzuckend darüber hinweggehen. Was soll es uns denn gross kümmern, dass das deutsche Lexem auch im Russischen mit и, mit также oder mit тоже wiedergegeben werden kann. Was soll es uns kümmern, ob dieses kleine auch so oder so gesagt wird, wichtig ist doch, wir wissen eines davon und können es sagen, wenn es gebraucht wird.

Richtig, das ist auch so. Allerdings horchen wir auf, wenn wir hören, dass das Russische für die Lexeme Arm und Hand lediglich ein Pendant hat und dass dieses рука für alle Teile dieser halbmetrigen Extremität verwendet werden kann.

Was den Lernenden jedoch dann so richtig zu stören beginnt, ist die Tatsache, dass die Russen einfach eine Farbe mehr besitzen, nämlich голубой - oder allgemein übersetzt als hellblau.

Was soll das bedeuten ? Der russische Regenbogen kann doch nicht anders aussehen als der deutsche oder der schweizerische – ist er doch ein Zeichen der Lichtbrechung desselben Sonnenlichts...

Also: rein ins Lexikon und Nachschauen unter ‚R’ – Regenbogenfarben. Und da steht’s: Violett - Indigo - Blau – Grün – Gelb – Orange und Rot. Diese sieben Farben bilden den wissenschaftlichen Regenbogen.

Untersuchen wir nun diese sieben Lexeme, stellen wir unschwer fest, dass weder das Violett, noch das Indigo und auch das Orange keine Lexeme sind, die der deutschen Sprache entstammen. Der deutsche Regenbogen besteht also lediglich aus vier Farben, Blau, Grün, Gelb und Rot. Die anderen Bezeichnungen wurden als Lehnwörter übernommen und entstammen ursprünglich anderen Sprachen.

Untersuchen wir nun die russischen Lexeme für die Farbbezeichnungen des Regenbogens, stellen wir fest, dass фиолетовый genau so ein Lehnwort ist, wie оранжевый, dass aber immerhin das helle Blau des Regenbogens ein deutlich russisches Lexem besitzt. Der russische Regenbogen besteht also – aus fünf Farben.

Nun fragen wir uns natürlich, weshalb sind die Regenbogen nicht auf der ganzen Welt gleich, wenn sie doch alle überall gleich aussehen ?

Hier müssen wir uns zuerst fragen, was will die Sprache eigentlich ? Wofür ist sie geschaffen und was ist ihr Zweck ?

Die Sprache ist letztlich ein Hilfsmittel, um im zwischenmenschlichen, kommunikativen Verkehr einander etwas mitzuteilen. Dabei steht im Gesamtbild der ‚Sprache’ zudem die ‚Schreibe’ hinter der Sprache zurück, geschaffen wurde das Instrument, um über die Dinge zu reden, die wichtig sind – beispielsweise auf der Jagd, über Tiere, Wetter, Hunger, Durst und Wohnen – keinesfalls aber über so unwichtige Dinge wie Diversifikationsbeziehungen ...

Um dieses Sprechen zu ermöglichen wurde ein Vokabular geschaffen, das in verschiedenen Sprachen und Dialekten verschieden ist – je nach den Bedürfnissen der Sprecher. Auch Farbbezeichnungen waren nur soweit nötig, als sie der Beschreibung von Gegenständen und Erscheinungen dienten.

Was ist denn bei uns schon violett ? Ja, das Veilchen .. und orange ? hm .. die Rapunzel ? Bleibt das Blau, das eindeutig dem Himmel vorbehalten bleibt – wenn er nicht gerade grau ist, oder wolkenverhangen oder wenn man ihn überhaupt sieht zwischen den vielen hohen Bergen. Aber blau ist doch letztlich blau, oder ?

Die russische Welt sieht vielleicht etwas anders aus: weites Land, sanfte Hügel. Dazu werden grosse Teile dieses Landes geprägt von einer seit Jahrhunderten existierenden meteorologischen Erscheinung: dem sibirischen Hoch, das während Wochen das Weltbild prägt. Der Mensch lebt also in einer Welt, die unten grün oder weiss ist, oben aber sich von einem hellen Blau über dem Horizont zum dunklen Zyan im Zenith verändert und beim erneuten Niedersinken wieder zum hellen Blau über dem Gegenhorizont wird. Diese Welt ist geprägt von 180° Himmel. Ist es nicht naheliegend, dass bei diesem Weltbild der Wunsch besteht, diese grossen Flächen auch genauer zu bezeichnen und dass vor allem auch der Betrachter diese grosse Fläche als verschiedenfarbig rezeptiert.

Die Rezeption als solche haben wir bis anhin ja noch ganz ausser Acht gelassen. Was nämlich Indigo ist und was orange, das vermögen die Wissenschafter sehr wohl zu bezeichnen, nämlich Licht mit einer Wellenlänge von x oder y Ångström – oder so. Aber legen sie ein Farbmuster auf den Tisch und fragen sie drei Menschen nach der Farbe: während einer auf blau schwört, erscheint sie dem nächsten deutlich grün, während der Dritte frohen Mutes behauptet, es könne sich dabei lediglich um türkis handeln.

Die Farbrezeption ist ein spannendes Gebiet, bei dem sich zeigt, dass Farben für jeden Menschen anders sind, und dass sich zudem innerhalb des grün-blauen Bereichs durchaus noch einige andere Farben ansiedeln lassen, je nach Weltbild, je nach Bedarf, je nach Farbenvielfalt.

Trösten wir uns damit, dass die Russen nicht eine Farbe mehr im Regenbogen haben, nur eine Farbbezeichnung mehr. Trösten wir uns damit, dass die Russen auch von viel Wodka nicht blau werden, dass es aber sehr wohl auch in Russland голубие gibt – was nachweisbar nicht vom Wodka stammt.
 

Bernd

Foren-Redakteur
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Hallo, ich kann es inhaltlich bestätigen und habe es jetzt freigeschaltet. Es ist ein für mich interessanter Artikel. Willkommen in der Leselupe.

Es gibt Studien und ein Buch, die sich genauer damit befassen, sowohl sprachlich als auch optisch.
Beispiel: Brent Berlin und Paul Kay "Basic Color Terms: Their Universality and Evolution" ("Grundlegende Farbbegriffe: Ihre Universalität und Entwicklung")
Das bestätigt alles, aber in Englisch.

Deutsch: Grün und Blau in verschiedenen Sprachen – Wikipedia

" Im Polnischen und in den ostslawischen Sprachen (Russisch, Belarussisch, Ukrainisch) gibt es eine ganz andere Besonderheit. Neben der gängigen Unterscheidung zwischen „grün“ (polnisch zielony, russisch зелёный zeljonyj, ukrainisch зелений zelenyj) und „blau“ (pl. niebieski), gibt es hier zusätzlich auch eine genaue Unterscheidung zwischen (hell-)„blau“ (pl. niebieski, ru. голубой goluboj, uk. голубий holubyj) und „dunkelblau“ (pl. granatowy, ru. синий sinij, uk. синій synij).[7] ..."

Farbenblindheit und eventuell vierfarbiges Sehen werden hiernicht betrachtet.
 
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