Die Fallenden

Hörnchen

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Er musste bereits einige Stunden gefallen sein. Er konnte es nicht genau sagen, aber er hatte das Schreien aufgegeben, nachdem er heißer geworden war. Der blanken Panik war ein Zustand der Dumpfheit und der Niedergeschlagenheit gewichen. Er lag nun gewollt waagerecht in der Luft, um langsamer zu fallen, und konzentrierte sich darauf, diese Position zu halten.

Es war nicht mehr ganz so kalt wie vorhin, als er einige Minuten kopfüber getrudelt war. Trotzdem war er durchgefroren und hatte das Gefühl, jederzeit ohnmächtig zu werden. Immer noch besser als den Aufprall miterleben zu müssen, dachte er sich.

Einen Tag sollte er mindestens unterwegs sein.

Er blickte kurz nach unten und sah einen kleinen Punkt in der Luft. Da er nichts weiter zu tun hatte, fixierte er den Punkt und hoffte, ihm dadurch näher zu kommen. Ein Vogel? Wenn er noch ein letztes Mal einen Vogel sehen könnte, so würde das seinen Fall bestimmt ablindern. Er hätte noch eine letzte schöne Erinnerung an diese Welt. Der Punkt wurde rasch größer, und als er nah genug dran war, nahm er all seine Kraft in den durchgefrorenen Gliedmaßen zusammen und packte zu. Es war sein Glück, dass das Objekt seine Geschwindigkeit stark abfederte und ihm nicht die Arme abriss. Er hing an einer Art Flügel, ein riesiger Flügel, aus einem sehr leichten, aber offensichtlich widerstandsfähigen Material. "Na na, wen haben wir denn da?" Eine Stimme. Er blickte auf. Ein paar Meter von ihm entfernt saß ein Mann zwischen diesem und einem anderen riesigen Flügel auf einer geräumigen Plattform. Er trug eine Art Kimono und schmauchte eine bunt verzierte Pfeife, die so lang war, dass er sie mit beiden Händen festhalten musste. Neben ihm war ein Schlafsack ausgebreitet, bei dem auch eine kleine Metallkiste lag. "Komm lieber hier hoch, du machst mir meinen Kurs kaputt!" Kurs? Er hangelte sich zur Mitte.

Der Mann hatte seine Pfeife hingelegt und streckte ihm die Hand hin. Jetzt sah der Fallende, das er wohl schon an die 60 sein musste, vielleicht etwas jünger. Er ergriff die Hand und schaffte es auf die Plattform. "Bist ein Fallender was"? Der Mann sah ihn neugierig an. "...Ja, ja..." stammelte der angesprochene heiser, verdutzt von dem ganzen Geschehen. "Siehst erfroren aus. Tee?" Der Mann nahm eine Tasse und eine Thermoskanne aus der Kiste und füllte die Tasse mit einer grünen, heissen Flüssigkeit. Als der Fallende die Tasse mit zitternden Händen annahm, stieg ihm der Geruch des Tees in die Nase. Pfefferminz. Sein Lieblingsgetränk. Er wärmte seine Hände an der Tasse und hatte gleichzeitig Mühe, sein Zittern unter Kontrolle zu bekommen.

"Bist nicht der Erste, den ich gesehen hab". Der Alte nahm einen Zug aus seiner viel zu großen Pfeife. Seine Stimme war kratzig und rau wie die eines langjährigen Rauchers. Dennoch wirkte sie nicht unangenehm."Einer ist mal knapp nen Meter vor mir vorbeigeflogen, haarscharf. Du bist der erste der es geschafft hat mir einen Besuch abzustatten." Er lachte schelmisch und hustete danach etwas Rauch aus. "Ver...Verzeihung, aber was soll das hier alles?" Der Fallende machte eine Handbewegung, die die Plattform und die Flügel einschloss. " Klasse nicht wahr? Hab ich selbst gebaut. Bin sowas wie ein Unternehmer und kreatives Köpfchen. Ich nutze den langen Fall, den man auf diesem Planeten erfährt, um ein wenig runterzukommen. Hahaha. Einen Tag fällst du, nicht? Ich bin meistens 4 Tage unterwegs, manchmal auch 5. Dann werde ich wieder abgeholt. Die Höhenluft, der ständige Wind, herrlich, sag ich dir. Hat dir aber wahrscheinlich eher nicht gefallen, so ganz ungebremst." Der Fallende sagte nichts und nippte vorsichtig am Tee. "Ich bin übrigens Teemo. Hast du auch einen Namen?" Noch ein Zug an der Pfeife. "M-Marco. Ich heiße Marco. Aber ist doch egal, oder? Ich bin doch sowieso schon tot." Er senkte den Blick und starrte in seine Tasse. "Tja, da wär ich mir nicht so sicher", sagte Teemo und runzelte die Stirn.

"Wie ich das sehe gibt es drei Möglichkeiten". Er hielt drei Finger hoch. "Achja?" Marco sah wieder auf. "Und was sollen die sein? "Möglichkeit Nr. 1: Du verlässt diese Plattform nach deinem Besuch und stirbst. Möglichkeit Nr. 2: Du scheisst auf das gute Benehmen eines Gastes und wirfst mich von der Plattform. Dann sterbe ich und du überlebst. Zumindest bis meine Leute die mich abholen kommen wissen was du getan hast." Er legte die Pfeife wieder beiseite und sah Marco eine Weile lang an. "Du meintest, es gibt eine dritte Möglichkeit?" sagte dieser und hob die Braue. "Die dritte Möglichkeit ist, denke ich, für uns beide recht angenehm, weil niemand sterben muss. Diese Plattform kann eine einzelne Person sanft wie ein Vöglein auf den Boden bringen. Zwei Leute sind allerdings zu schwer. Aber du hast Glück. Was sie dir nicht gesagt haben ist, dass die Oberfläche ganzjährig mit tiefem Schnee bedeckt ist. Du springst also ab kurz bevor wir die Wolkendecke durchstoßen und landest wohlbehalten am Boden. Die Leute die Fallen sterben nicht durch den Aufprall, sondern durch das lange Fallen selbst. Der Körper ist einer solchen Extremsituation einfach nicht gewachsen. Unten gibt es einige Dörfer, die dich mit Sicherheit vom Himmel fallen sehen und dir zur Hilfe eilen werden. Mir persönlich wäre die Möglichkeit drei am Liebsten, aber du hast die Wahl Marco." Er warf Marco eine Decke zu, auf der er bis dahin gesessen hatte. Der Fallende verschüttete beim Fangen beinahe seinen Tee und warf sich die Decke dankbar um die erfrorenen Gliedmaßen.

“Woher weiß ich, dass das, was du sagst stimmt?” fragte er und sah zu Teemo auf. “Das weißt du nicht”, sagte Teemo und trank von seinem Tee. “Du wirst mir wohl oder übel vertrauen müssen. Bedenke aber, dass du mit den ersten beiden Optionen logischerweise unausweichlich zu Tode kommst.” Marco starrte eine Zeit lang in seine Tasse. “Warum muss ich springen, bevor wir die Wolkendecke passieren?” “Weil ab dann Turbulenzen beginnen, die ich alleine locker ausgleichen kann. Mit zwei Passagieren steigt die Wahrscheinlichkeit, dass mein schönes Luftfloß auseinandergerissen wird. Das würde ich dir übel nehmen, Marco!” Der Wind um sie herum pfiff ein nie enden wollendes Lied. Sie flogen nicht durch den Himmel. Sie fielen, auch wenn die Konstruktion ihren Fall stark abbremste. Die Zeit verging unaufhörlich, aber in diesen Höhen vermochte keiner der beiden, ihren Verlauf zu messen. “Du willst wahrscheinlich wissen, weshalb ich falle, oder?” fragte Marco nach einiger Zeit, in der sie beide still vor sich hin gestarrt hatten. Teemo kniff nachdenklich die Augen zusammen. “Nein”, sagte er schließlich. “Um ehrlich zu sein, interessiert es mich nicht. Du fällst. Das ist der entscheidende Faktor. Und wer fällt, hat etwas getan, was sein Leben verwirkt hat. Ich brauche keine Details dazu. Mein Leben ist schon anstrengend genug, mit sowas möchte ich mich wirklich nicht herumschlagen. Was mich viel eher interessiert ist, wie du dein Leben davor verbracht hast. Die schönen Seiten. Ich selbst schwelge gerne in meinen Lieblings Erinnerungen an die Vergangenheit.” Der Alte klopfte seine Pfeife in der Luft aus. Die Asche wurde sofort vom Wind aufgenommen und in alle Richtungen zerstäubt. Marco, dem dabei einige Klümpchen ins Auge geflogen waren, wischte sich diese unter Tränen. Ungerührt sah ihm Teemo dabei zu. “Darf ich dich etwas fragen?” sagte Marco und sah mit geröteten Augen zu Teemo auf. “Hm.” brummte der alte Mann mürrisch. “Wie kommt es, dass du hier bist und mit uns Toten fällst? Was ist deine Aufgabe unter den Lebenden?” Der Alte sah Marco lange schweigend an. “In anderen Gefilden nennt man mich auch den Kai des Westens. Dieser Name dürfte dir bekannt sein.” Er verstummte wieder. “Der Kai des Westens? Dem Kai des Westens wird nachgesagt, sehr weise und mächtig zu sein”, sagte Marco überrascht. “Weshalb also verschwendest du deine Zeit mit mir?” “Haha!” lachte der Kai. “Wer ist denn von oben herabgestürzt und hat sich am einzigen Objekt, dass mich am Leben hält, festgeklammert? Ich habe dich nicht gebeten, mir Gesellschaft zu leisten, Fallender. Aber als Gastgeber kenne ich meine Pflichten.” Marco sah bedrückt zu Boden. “Die Wolkendecke kommt näher”, sagte Teemo leise.

“Ich habe eine kleine Tochter”, sagte Marco plötzlich. “An sie habe ich die schönsten Erinnerungen in meinem Leben.” Der Alte sah zu ihm hin, ein bisschen weniger griesgrämig als zuvor. “Hm. Wie heisst sie denn?” “Mathilda. Und sie ist die schönste Blume, deren Samen ich je säen und aufwachsen sehen durfte.” "Pah!" Teemo kippte den Rest seines kalten Tees in den Wind und machte sich wieder an der Thermoskanne für Nachschub zu schaffen. “Sagt das nicht jeder Vater von seinem Kind? Und jede Mutter? Und dennoch, es muss wahr sein, was du sagst. Wenn man in die Augen eines Kindes schaut, so erblickt man die Welt, die man sich immer insgeheim gewünscht hat, ohne es zu wissen. Sie strahlen die Perfektion des Lebens aus, die wir selbst niemals erreichen können." Er schenkte sich Tee nach. “Hast du Kinder, Teemo?” Der Alte reckte den Kopf über die Plattform, ohne auf die Frage zu antworten. “Die Wolkendecke kommt näher. Es ist an der Zeit, dich für eine der drei Möglichkeiten zu entscheiden.”

“Wie lange sind wir wohl gefallen?” fragte Marco und blickte gedankenverloren gen Himmel. Die Tasse in seiner Hand war längst leer und kalt geworden. Er erwartete keine Antwort. Es war mehr eine Frage an sich selbst, an sein vergangenes Ich. Er stellte die Tasse vor sich und zog sich die Decke von den wieder erwärmten Schultern. Dann faltete er sie zusammen und legte sie vor Teemo hin. Dieser betrachtete das alles wortlos und ausdruckslos. Nun, nachdem er es die ganze Zeit über vermieden hatte, ließ Marco seinen Blick nach unten schweifen. Die Wolkendecke kommt näher, dachte er sich. Er wusste, was er zu tun hatte, nein, viel mehr noch, er wusste, was er tun wollte. “Ich danke dir Teemo. Für den Tee, für die Decke und für das Gespräch. Es hat mir sehr geholfen.” Teemo nickte leicht und begann, seine Pfeife zu stopfen. “Viel Glück, Fallender.” Marco drehte sich von ihm weg, hin zu dem Abgrund, der sich vor ihm auftat. Ich muss es versuchen, dachte er. Für sie. Dann sprang er ohne weiteres Zögern von der Plattform hinab in die Tiefe. Kurz packte ihn das Angstgefühl, so wie damals, als sie ihn in die Tiefe zum Fallen gestoßen hatten. Damals, vor hundert Jahren. Aber das Gefühl verließ ihn sehr schnell, und ein Zustand der Spannung überkam ihn. Vielleicht würde er doch eines Tages zurückkehren. Vielleicht. Es war ein kleines Wort, kaum der Rede wert. Und doch steckten in diesem Wort soviel Kraft, soviel Liebe, soviel Leben, soviel Freude, so viel Erwartung, so viel Hoffnung. Er hatte die Wolkendecke erreicht. Ohne Furcht tauchte er in sie hinein.

Als er die Wolkendecke durchstieß, sah er etwas, was sein Herz zum Stocken brachte. Da war gar kein Schnee, nicht einmal ein bisschen. Da waren nur Felsen und Krater, nur harte, braune Steine. Kein Wasser, kein Wald, kein Meer. Nur trostlose und karge Schluchten aus Material, das in Kombination mit einer Fallgeschwindigkeit von 10 Metern pro Sekunde absolut und unausweichlich tödlich war. Mit Tränen in den Augen dachte er an den Alten. Er hatte ihn angelogen, um nicht sterben zu müssen. Er hatte ihn verarscht, um ihn nun auslachen zu können. Er hatte auf Marco gespuckt. Der Boden kam schnell näher, genau wie die Wut, die in Marco aufstieg. Doch plötzlich kam ihm ein Geistesblitz. Nein, dachte der Fallende und seine Wut war sofort wieder verraucht. Es war doch ganz anders gewesen. Seit sie ihn gestoßen hatten, war er doch bereits tot gewesen. Teemo hatte ihm, einem Todgeweihten, die Furcht vor dem Fall genommen, zumindest für eine Weile. Er hatte ihm für ein paar Stunden Gesellschaft geleistet, ihm Zuspruch gegeben und ihn bewirtet. Er hatte es gut mit ihm gemeint. Vielleicht, dachte der Fallende, war das der Grund, weshalb Teemo überhaupt mit seinem komischen Gefährt in der Atmosphäre umher segelte. Der Kai des Westens ist weise und mächtig. Marco verstand, dass sein Tod von vornherein unausweichlich gewesen war und dass ihm der alte Mann ein letztes Mal ein wenig Gnade erwiesen hatte, ein wenig Menschlichkeit in dieser ungerechten Welt. Er schloss die Augen und kurz bevor er aufschlug, umspielte ein letztes Lächeln seine aufgesprungenen Lippen.

Ende
 



 
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