Die Fliege

Jenny_Wyl

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Gleich dem sanften Licht eines Heiligenscheins fielen die Sonnenstrahlen durchs Küchenfenster und erhellten damit die Szenerie gleichsam wie das Scheinwerferlicht die Bühne. Das unaufhörliche Summen einer Fliege untermalte die Szene auf musikalische Weise, lediglich unterbrochen vom dumpfen Aufprall des schwarzen Insekts gegen die Scheibe. Diese durchsichtige Schranke versperrte dem ahnungslosen Tier den Weg. O wie unermüdlich die Fliege wieder und wieder den Versuch in die Freiheit wagte! Und wie elend sind wir Menschen, die wir von einem höheren Standpunkte aus auf die Situation blicken, dieses entschlossene Geschöpf zu verlachen und zu verachten. Stimmen drangen in diese kleine Szenerie ein. Helles, sanftes Lachen, dem malerischen Anblick dieses sommerlichen Bildes angemessen, dessen Friede gänzlich dem Todeskampf der Fliege entgegengesetzt ist.
"Wo willst du hin?", ließ sich die unsichere Stimme eines jungen Mannes vernehmen.
"Wohin wohl?", antwortete keck die junge Frau. "Ich will hinaus in den Garten und die Sonne begrüßen."
Sie lachte wieder hell und freundlich auf und streckte dem jungen Mann beide Hände entgegen, zum Zeichen ihr zu folgen.
Zögernd trat er vorwärts. "Aber deine Tante kommt doch gleich. Sollten wir nicht hier drinnen bleiben?"
"Unsinn, wer weiß, wie lange sie noch braucht. Und ich will doch unbedingt nach draußen..."
Der laute Aufprall der Fliege gegen die Scheibe riss die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf sich.
"Oh", ließ es sich zart vernehmen.
Vom Aufprall, der härter war als die vorherigen, lag die Fliege benommen auf dem Fensterbrett, bis zwei liebevolle Hände sie in einer durchdringenden Dunkelheit umfingen.
"Was tust du da?", fragte der junge Mann wieder.
"Was wohl?", kam zur Antwort. "Ich bringe die Fliege nach draußen."
Die Fliege, in der wohligen Freundlichkeit der Hände wieder zu sich gekommen, blieb nicht lange im Dunkel gefangen. Schon öffneten sich die Hände wieder und die Fliege flog, diesmal ohne an ein durchsichtiges Hindernis zu stoßen, in die Weite des unendlich scheinenden Sommertages hinaus.
"Wieso hast du das getan? Fliegen sind widerliche Tiere. Du hättest sie mit der Fliegenklatsche klatschen sollen."
"Aber wenn die Fliege nun einmal lieber hinaus in die Sonne wollte, anstatt plattgeklatscht auf der Fensterbank zu liegen?"
Wieder lachte die junge Frau und diesmal stimmte der junge Mann mit ein, fasste ihre Hand und folgte ihr in den Garten.

Zwei Jahre sind seitdem vergangen. Die junge Frau, A. heißt sie, und R., der junge Mann, hatten letztes Jahr geheiratet. A. stand am Küchenfenster, diesmal an einem anderen. Der Himmel war bewölkt, sodass das Licht nur fahl und kalt seinen Weg in die Küche fand.
A. lachte nicht. Ihr Blick ging hinaus in den Garten. Dort stand R., zusammen mit M., der Nachbarin. Sie kam "nur kurz" vorbei, sie brauche "Tipps für ihren eigenen Garten" und wollte deshalb mit R. sprechen.
A. sagte nichts, aber sie wusste alles. Dass der Garten von ihr blühte und strahlte, lag nicht an R., sondern an ihr. Vielleicht wusste M. das, vielleicht auch nicht. Vielleicht dachte sie wirklich, sie hätte eine kluge Idee gefunden, unbefangen mit R. reden zu können, auch wenn A. in der Nähe wäre.
Doch R. wusste es. R. wusste, dass er nichts von Blumen und Böden, vom Schneiden und Säen verstand und spielte dennoch mit.
Das Summen einer Fliege riss A. aus ihren Gedanken. Immer wieder prallte die Fliege gegen das Fenster, den Weg in die Freiheit suchend. Abfällig schaute A. die Fliege an. Was für ein dummes Ungeheuer!, dachte sie, während ihr Blick zu R. glitt.
Sie lachten. Wie beifällig berührte M. die Schulter von R., der sich unter dieser Berührung noch mehr aufzublähen begann.
Wie lange ging das schon...? Wieder unterbrach sie die Fliege. Zu lange!, dachte A., griff nach der Fliegenklatsche... Dann war es still.

Es regnete. Zunächst versuchte A. mithilfe der Kapuze ihres Regenmantels die Nässe abzuwehren, doch der wiederkehrende Wind zog ihr immer wieder, gleich einem neckenden Schulburschen, die Kapuze vom Kopf. Schließlich gab A. auf. Das Süßwasser des Himmels mischte sich nun ungehindert mit dem Salzwasser auf ihren Wangen.
Die Menge um sie herum drängte zusammen, der Lärm nahm zu, der Zug fuhr ein.
Nach einigem Schubsen und Drängeln gelangte A. zu ihrem Sitzplatz. Mit Schwung hievte sie den Koffer nach oben. Ihr ganzes Leben passte nun in einen Koffer, wo es vorher noch ein ganzes Haus aufgefüllt hatte.
Sie war gegangen. Hatte den Entschluss gefasst, dieses Theaterstück zu verlassen und ihr eigenes zu schreiben. Keine leidende Zuschauerin mehr, sondern die glanzvolle, mutige Heldin sein. Sie schrieb einer Freundin, bat um Aufnahme. Offene Arme und Türen waren die Antwort. R. war bestürzt, doch A. war entschlossen.
R. sagte nicht "Ich liebe Dich!", sondern "Was sollen die anderen denken? Was soll ich ihnen sagen?". Und da stand für A. fest, dass sie gehen musste.
Der Zug fuhr bei Regen los, im gleißenden Sonnenlicht kam er zum Stehen. A. schaute aus dem Fenster. Sie war angekommen. Das Summen einer Fliege, vertraut und nah, suchte nach ihrer Aufmerksamkeit. A. schloss die Fliege sanft in ihre Hand. "Komm", sagte sie, "komm, wir gehen."
 



 
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