Die Geburt

Anonym

Gast
Die Geburt

Die Mutter spürt ihre Wehen abebben. Erleichtert nimmt sie wahr, dass ihr Kleiner in der Welt angekommen ist und nun kann sie es kaum erwarten, ihn in die Arme zu nehmen. Doch dazu kommt es nicht. Hektisch wickelt die Hebamme den stillen Säugling in ein Tuch, rennt gar ernst und wortlos weg mit ihm. Der Vater löst sich vom Sessel und taumelt Sohn und Hebamme hinterher, die Tür hinter seiner Frau schließend. Diese registriert sein Jammern und Klagen. Dumpf dringt es durch die Wände: "Warum wir? Wie konnten Sie das nur übersehen?" - Dann Schluchzen und schließlich Stille.

Währenddessen wächst in ihrem Kopf kühl und riesengroß eine Frage: "Was ist bloß, wenn ... ?"
Draußen in der Raucherecke des Spitals wummert eine JBL - genau im Takt ihres Herzschlags. Ein Jugendlicher rülpst laut und ein paar Mädchen kichern.
Sie und ihr Mann haben doch gemeinsam vielfältige Vorsorge getroffen, gesund gekocht, moderate Spaziergänge gemacht und klassische Musik gehört, sogar ihr Fruchtwasser untersuchen lassen. Auch ein Privatgymnasium haben sie schon für ihr Kind ausgeguckt.

Als die Mutter es so nicht mehr aushält, quält sie sich aus dem Bett, ins andere Zimmer. Sie will jetzt ihr Kind sehen, endlich wissen, was mit ihm ist - schleppt sich hinein und blickt ins aschfahle Gesicht ihres Gatten, der zusammengesunken neben dem Kinderbett kniet. "Es tut mir so Leid", scheint er zu flüstern, aber sie hört ihn nicht wirklich, vernimmt stattdessen ein Wimmern aus dem Bettchen. Als sie Anstalten macht, hineinzusehen, ergreift der Assistenzarzt ungeschickt ihr Handgelenk, um sie zurückzuhalten, vorzubereiten auf das, wofür es keine Vorbereitung gibt. Er öffnet seinen Mund, um ihr Trost zu spenden, besinnt sich aber eines Besseren, wohlwissend, dass seine Schicht bald endet. Er ist froh, dass es nicht sein Kind ist, das dort liegt und schämt sich dafür. Irgendetwas musste wohl gründlich schiefgelaufen sein. In der Haut seines Vorgesetzten möchte er jetzt nicht stecken, hatte der doch alle Voruntersuchungen durchgeführt.

Jetzt schafft es die Frau, sich vom Griff des Arztes loszureißen und ins Bettchen zu sehen. Sie starrt und starrt, in ihren Ohren braust und rauscht das Blut. Da, das winzige Gesicht und die Fäustchen! Eindeutig. Ihr wird schwarz vor Augen und sie zerrt das Bild ihres Kindes mit in die Dunkelheit: Ihr Sohn ist - ein Hauptschüler!
 
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