Die Gelegenheit

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Inga

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Noch zwei Zimmer, zweimal Betten beziehen, Toiletten und Waschbecken putzen, dann ist Feierabend.

Irena strich sich eine dunkle Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Bis 15 Uhr sollten die Zimmer fertig sein.
Erst seit zwei Monaten arbeitete sie im Housekeeping eines renomierten Hotels.
Der Hotelchef hatte ihr einen Ausbildungsplatz zur Hotelfachfrau versprochen, insofern er mit ihren Leistungen zufrieden wäre.
Irena war bereits 29 Jahre alt, hatte viele Jobs in ihrem Leben ausprobiert, aber bisher keine Berufsausbildung abgeschlossen.
Bei ihr stellte sich sehr schnell das Gefühl der Unzufriedenheit ein.

Mit ihrer Kollegin Stefanie betreute sie heute die Zimmer im zweiten Stockwerk.
Sie dachte, eine kleine Zigarettenpause könnte ihr ein wenig Entspannung bringen und meldete sich bei ihrer Kollegin für ein paar Minuten ab.
Während sie die Treppe hinunterging, fiel ihr eine schwarze Ledertasche ins Auge, die auf der Treppenstufe lag.
Sie hob die Tasche auf, die sich durch einen Reißverschluss öffnen ließ.
Ihre Augen weiteten sich, als sie die Zweihundert-Euro-Scheine zu jeweils zwanzig Scheinen gebündelt sah.
Es waren tatsächlich vierzigtausend Euro. Noch nie in ihrem Leben hatte Irena so viel Geld gesehen.
Für sie hieß es immer: ,,das kann ich mir nicht leisten!" Und das hatte sich bis zum heutigen Tag nicht geändert.
Meistens war ihr Monatsgehalt überzogen, bisher hatte sie keine Lösung für ihre finanzielle Lage gefunden und von einem Mann wollte sie auch nicht
abhängig sein, nein, das kam für sie gar nicht in Frage.

Sie überlegte nicht lange und steckte die Geldscheine unter ihre Schürze. Ihr Blick fiel auf die Kreditkarte in der Tasche, sie las: Anton Holderbach,
war das nicht dieser ältere, feine Herr, der sich oft für mehrere Wochen eine Suite im Hotel mietete?
Sie legte die Karte zurück in die Ledertasche, die sie wieder verschloss und an die Treppenstufe lehnte.
Irena ging wieder an ihre Arbeit und in Gedanken stellte sie sich vor, was sie mit dem Geld anfangen könnte.
Zuerst würde sie sich neu einkleiden ,,eine Garderobe vom Feinsten," dachte sie. Ein schönes Abendkleid würde wunderbar zu ihrer schlanken Figur
passen. Auch an eine große Reise dachte sie:,,sich einmal die weite Welt anschauen", war einer ihrer langgehegten Wünsche.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Die Personalchefin Frau Bremer bat sie zu einem Gespräch in den Besprechungsraum im ersten Stock.
Irenas Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das Geld in ihrer Tasche verstaute, bevor sie das Zimmer verließ.
Ihre Kolleginnen saßen bereits im Raum, als sie eintrat. Frau Bremer bat um Ruhe: ,,Meine Damen, ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit!
Denn einer unserer angesehensten Stammgäste Herr Holderbach hat heute seine Banktasche verloren. Ich bitte Sie, ihn bei der Suche zu unterstützen,
denn, wie Sie wissen, hat er sich uns gegenüber stets als sehr großzügig erwiesen.
Nun wünsche ich Ihnen noch weiterhin einen angenehmen Arbeitstag."
Mit diesen Worten entließ Frau Bremer die Damen vom Housekeeping.

Zurück im Zimmer stieg in Irena ein mulmiges Gefühl hoch, ein Schauer lief ihr über den Rücken und Übelkeit setzte sich in ihre Magengrube.
Die Freude über das viele Geld war plötzlich verflogen.
Eine innere Stimme sagte ihr:,,Dieses Geld gehört dir nicht!" Irena versuchte diese Stimme zu ignorieren, indem sie sich zuredete:,,Dieser ältere Herr hat genug Geld,
es wird ihm nicht fehlen." Aber die Stimme in ihr wurde immer lauter:,,Das Geld gehört dir nicht, bringe es zurück!"
Sie fröstelte und gleichzeitig schwitzte sie, mit zittrigen Händen wischte sie über das Waschbecken.
Sie schaute in den Spiegel und sagte:,,Ich bin keine Diebin!"
Das war der Moment, indem sie entschied das Geld zurückzubringen. Sie verließ das Zimmer, fast hatte sie das Treppenhaus erreicht,
als Karl, der Hausmeister, ihr aus dem oberen Stockwerk entgegenkam und sagte:,,Stell dir vor Irena, den alten Holderbach haben sie bestohlen.
Seine Tasche wurde gefunden und das ganze Geld ist weg, einfach weg. Die Polizei ist schon unterwegs.
Jetzt werden sie uns alle verhören, das gibt wieder Überstunden, bis sie damit fertig sind."
Irena wurde weiß wie die Wand, der Boden unter ihren Füßen schwankte.
Karl bot ihr einen Stuhl an und sagte im Weggehen:,,Nimm es dir nicht so zu Herzen, sie werden den Dieb schon fassen!"
Irena atmete tief durch und überlegte, wie sie das Hotel, ungesehen, auf dem schnellsten Weg verlassen könnte, jetzt blieb ihr nur noch die Flucht.
Schnell holte sie ihre Tasche aus dem Zimmer, warf sich einen Mantel über, der in der Garderobe hing.
Sie ging schnell, aber nicht zu schnell, um nicht aufzufallen.
Ihre Kolleginnen saßen bereits im Besprechungszimmer, deshalb konnte sie, ohne ihnen zu begegnen, die Treppe hinuntergehen.
Noch gab es keine offizielle Ansage, die zum Bleiben aufrief.
Im Erdgeschoss sah sie zwei Polizisten und Herrn Holderbach im Gespräch mit dem Rezeptionisten.
Sie wendete ihren Blick ab, innerlich vollkommen ruhig geworden, entschied sie sich das Hotel durch die Tiefgarage zu verlassen.

Das alte Fahrrad in der Garage kam ihr sehr gelegen, um schnell noch das Nötigste aus ihrer Wohnung zu holen.
Sie trat in die Pedalen, erreichte nach wenigen Minuten ihre Einzimmerwohnung, stopfte ein paar Kleidungsstücke und Toilettenartikel in ihren Rucksack.
Das Geld hatte sie ebenfalls darin verstaut.
Sie hetzte durch den Hausflur, dann die Treppe hinunter zu ihrem Fahrrad und radelte in Windeseile zum Bahnhof.
Nichts und niemand konnte sie mehr aufhalten.
In ihrem Kopf hatte sie bereits einen fertigen Plan. 15:27 Uhr fuhr ein Zug nach Wien, dort würde sie in der Nacht ankommen und bereits 5:12 Uhr in den Zug nach
Budapest steigen.
Dann würde sie weitersehen, weiterreisen, immer weiter, alles hinter sich lassen, unterwegs sein.
Ein Gefühl der Freiheit überkam sie, schon lange nicht mehr hatte sie sich so lebendig gefühlt.
Vor lauter Glück hätte sie laut schreien können, unterließ es aber, um nicht aufzufallen.
Am Bahnhof angekommen, stellte sie das Fahrrad ab, eilte die Bahnhofstreppe hinauf zu Gleis vier.
Schnell buchte sie mit ihrem Mobiltelefon ein Ticket nach Wien.
Erst in Budapest würde sie bar bezahlen, keine Spuren hinterlassen.

Der Zug nach Wien kam pünktlich, Irena stieg ein und die Türen schlossen sich hinter ihr.
Sie war davon überzeugt ihrem Glück entgegenzufahren.
 

Inga

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Danke, das freut mich, dass du meine Geschichte gelesen hast und sie ab der Mitte spannend fandest.
Liebe Grüße
Inge
 



 
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