Die Geschichte des Herrn Birnbaum

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ikarus-1975

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I

War es Zufall, dass ich ausgerechnet kurz vor Ende der Vorlesungszeit ans Schwarze Brett meines Instituts gesehen hatte? Für gewöhnlich hingen da nämlich nur Bekanntgaben über Workshops zum korrekten sprachlichen Gebrauch von -INNen, Unterstrich und Sternchen in Seminar- und Abschlussarbeiten, sowie das Angebot eines Lektors, wissenschaftliche Texte auf ihre Gendergerechtigkeit hin zu prüfen. Preis auf Nachfrage. Daneben die Einladung zu einem Diskussionsabend der Evangelischen Theologie Von göttlicher Queerness – warum Gott ein Sternchen trägt. Nicht zu übersehen auch ein Plakat der beiden Antidiskriminierungsbeauftragten Micha und Jasmine, die in einem Webseminar über Formen von Diskriminierung aufklärten: Aber es war doch nur ein Lächeln … Null Toleranz für sexualisierte Gewalt an der Uni! Neger. Deine Sprache verrät dich. Ich mag es bunt – na und? Mein Kopftuch gehört mir! – Antiislamischen Rassismus entlarven. Und zum Schluss der Aufruf: Lasst Regenbogen vom Himmel regnen! Ich wollte mich gerade abwenden, als mein Blick an einem kleinen Inserat in der linken unteren Ecke hängen blieb. Ich musste näher herantreten, um es lesen zu können:

Suche Studenten höheren Fachsemesters für Mitarbeit an einer Publikation über galizische Juden. Fundierte Kenntnisse werden vorausgesetzt. Attraktive Bezahlung.

Darunter stand kein Name, nur eine Telefonnummer. Ich rief sofort an.

Über fundierte Kenntnisse verfügte ich nicht. Ich studierte ja erst im vierten Semester Jüdische Studien. Aber ich hatte bereits das Latinum und, viel wichtiger, das Hebraicum mit guten Noten bestanden. Gerade in diesem Semester hatte ich angefangen, Jiddisch zu lernen, um im kommenden Scholem Alejchem, Isaak Bashevis Singer und andere jiddische Schriftsteller lesen zu können. Ebenso plante ich, mich eingehender mit der Geschichte und Kultur des osteuropäischen Judentums zu beschäftigen. Dass die meisten dieser Juden in Schtetlach, kleinen, von ihnen selbstverwalteten Marktflecken, wohnten, war mir bereits bekannt. Auch konnte ich mit der Kabbala und dem Chassidismus etwas anfangen.

All das sagte ich dem Mann am anderen Ende der Leitung und erwartete ein Einfaches: „Unter diesen Umständen tut es mir leid …“ Er aber fragte: „Und warum rufen Sie mich dann an?“

Ich verdrehte die Augen. „Weil ich …“

„Weil Sie es einfach mal ausprobieren wollten“, unterbrach er mich prompt, „… und Sie obendrein die attraktive Bezahlung reizt?“

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, denn natürlich hatte der Mann recht: ich brauchte einen Job für die Ferienzeit. Zwar erhielt ich Bafög, doch wollte ich ein wenig Geld ansparen, um mir den Traum von einer Reise quer durch Europa erfüllen zu können.

„Warum plötzlich so still?“, hörte ich den Mann in meine Gedanken hinein fragen. „Sie scheinen mir engagiert zu sein, also kommen Sie vorbei, dann werden wir weitersehen.“

Er nannte mir seine Adresse und sagte, dass er mich zu um 15 Uhr am nächsten Tag erwarten würde und ich bei Birnbaum klingeln solle. Dann legte er auf.

*****
„Können Sie denn überhaupt etwas mit Galizien anfangen?“, fragte mich Birnbaum anderntags statt einer Begrüßung. Groß und schmal stand er vor mir in der Tür seines Hauses. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah er mich aus braunen Augen durchdringend an. Dazu wippte er leicht auf den Fußballen.

„Ja, natürlich“, erwiderte ich nervös, zwang mich jedoch, seinem Blick standzuhalten. „Es ist eine historische Region, die sich von Südostpolen bis in die Westukraine erstreckt. Ihre Hauptstadt war Lemberg. Bis zum ersten Weltkrieg gehörte sie zum Habsburgerreich, ebenso wie die Bukowina mit der Hauptstadt Czernowitz. Hier wie dort siedelten viele Juden, in der Mehrzahl sehr fromme Menschen, Orthodoxe, Chassidim. Wenn ich mich recht erinnere, waren aber gerade die größeren Städte auch Zentren der Haskala, also der jüdischen Aufklärung.“

„Oha“, nickte Birnbaum, „… und ich habe schon befürchtet, Sie kämen mir mit der gleichnamigen Region in Spanien.“ Ein Lächeln zuckte um seinen Mund. Offensichtlich hatte er sich an einem Witz versucht. Doch als ich nicht lachte, fuhr er sich mit der Hand durchs kurze graue Haar und sagte noch einmal: „Oha“, machte jedoch keinerlei Anstalten, mich hereinzubitten.

„Ja, also, was wollen Sie jetzt …“, begann ich daher wieder, doch unterbrach er mich: „Lassen Sie uns alles Weitere bei einem Spaziergang besprechen.“

Bemüht, meine Verwunderung nicht zu zeigen, nickte ich nur. „Ok, wohin?“

„Hier in der Nähe gibt es einen kleinen Park.“

Birnbaum wohnte in einer Eigenheimsiedlung, die, wie vielerorts, durch umfangreiche Baumaßnahmen verschandelt wurde. Sobald ein Hausbesitzer starb, scharten sich Immobilienhaie um den Erben und versuchten ihm Grundstück nebst Haus abzuluchsen. Gelang es ihnen, wurde das Haus abgerissen, das Grundstück parzelliert und ein Wohnpark mit überteuerten Eigentumswohnungen darauf errichtet. Wie ich auf dem Weg bemerkt hatte, war Birnbaums Grundstück eines der wenigen, die noch unberührt waren. Es erinnerte mit seinem riesigen, leicht verwildert wirkenden Garten, den knochigen Ostbäumen und dem einfachen Vorkriegshaus an eine längst vergangene Zeit. Und mehr noch das Baumhaus in der Linde, das ich durch einen Seitenblick erspäht hatte. Es war alt, gleichwohl gepflegt. Wahrscheinlich nutzten es Birnbaums Enkel. Ihn selbst schätzte ich auf mindestens 60, wenn nicht gar 65. Obwohl das nichts zu sagen hatte: Männer konnten ja noch mit über 80 kleine Kinder haben – um mit knapp 100 bei deren Abiturfeier im Rentner-Rolls-Royce vorzufahren.

„Maria, nicht wahr?“, wandte er sich an mich, als er die Gartentür hinter sich geschlossen hatte.

„Ja, Maria Schmoll.“

„Und wie alt, wenn ich fragen darf?“

„35.“

„Oh.“ Er hielt kurz inne und musterte mich. „Das Studium ist dann doch wohl nicht Ihre erste Ausbildung?“

„Nein.“

„Und was haben Sie …“

„Gelernt habe ich Kinderkrankenschwester und war auch über 13 Jahre in diesem Beruf tätig.“

„Ehe Sie feststellten, dass es Ihnen zu anstrengend wird und sie kurzerhand aufgehört haben?“ Um Birnbaums Mund zuckte wieder ein Lächeln. Leicht spöttisch, wie ich fand.

„Es hatte persönliche Gründe“, gab ich zurück.

„Wollten sich nach all dem Stress endlich selbst verwirklichen?“

„Ja, ich wollte schauen, ob es da noch etwas anderes gibt, außer …“

„… kranken Kindern die vollgekackten Windeln zu wechseln.“

„Das klingt sehr verächtlich.“

Birnbaum zuckte mit den Schultern. „Sollte es nicht.“ Er räusperte sich, dann sagte er: „Ich kann es nur gutheißen, wenn Leute ihren Weg suchen. … Noch eine Frage: Sind Sie jüdisch?“

Ich runzelte die Stirn und sah ihn von der Seite an. Er ging mit weit ausholenden Schritten neben mir her. Ich hatte Mühe, mich seinem Tempo anzupassen. „Wieso? Spielt das eine Rolle?“

„Nein, nein, ich frage nur … wegen Ihres Namens. Schmoll … Das könnte von Schmuel, Samuel kommen.“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Und warum dann Jüdische Studien?“

„Weil ich mich für das Judentum interessiere.“

„Ja, aber woher kommt das Interesse?“ Birnbaum war plötzlich stehengeblieben. Offensichtlich wartete er auf eine Antwort.

„Schon immer“, setzte ich an. „Seit Kindertagen ist das Interesse da. Viel übers Judentum gelesen. Manches lässt sich eben nicht in Gänze erklären.“

Er sah mich noch einen Moment lang an, dann sagte er leise, den Blick abwendend: „Stimmt schon, manches lässt sich nicht in Gänze erklären.“

„Ja“, gab ich zurück. „Und was ist nun … was wäre meine Aufgabe?“ Wir hatten den Park erreicht. Ein kleiner See empfing uns. Auf ihm schwammen einige Enten und zwei Schwäne mit noch graugefiederten Jungen. Ich versuchte mich an diesem Bild festzuhalten, denn ich empfand die Art, wie Birnbaum das Bewerbungsgespräch führte, sehr unangenehm. Schon überlegte ich, ihm zu sagen, dass ich es mir anders überlegt hätte, als er mich zu einer Bank führte. „Verzeihen Sie, sollte ich Ihnen zu aufdringlich erscheinen, doch möchte ich mir zunächst ein Bild von Ihnen machen.“

Instinktiv zog ich die Schultern hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. Mein Blick weilte weiterhin auf den Enten und den Schwänen, als ich ihn fragte: „Verstehe. Und Sie? Sind Sie jüdisch?“

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er nickte.

„Und nun möchten Sie eine Publikation über das galizische Judentum herausbringen?“

Wieder nickte er.

„Ein Lehrbuch?“

„Nein, nein.“

„Was dann?“

Wieder sahen wir uns in die Augen. Er zog die Brauen hoch und vollführte mit den Händen eine Geste, die besagte, dass er darüber schweigen wolle.

„Aber Sie lehren an einer Uni?“

„Nein, nein. Es ist reines Privatinteresse, oder besser: es ist mir ein Bedürfnis, endlich das Schweigen zu brechen.“

„Wie?“ Ich verstand nicht und ertappte mich dabei, dass ich ihn fragend ansah. „Das Schweigen brechen?“

„Ja, ja“, nickte er, „... aber das tut jetzt noch nichts zur Sache.“

„Ok, aber wenn Sie mir nichts über den Job …“

„Arbeit!“, platzte es aus ihm heraus. „Wenn schon, dann ist es eine Arbeit.“

Ich holte tief Luft. „Ok. Wenn Sie mir also nichts über die Arbeit erzählen, kann ich nicht entscheiden, ob ich sie wirklich machen wollen würde.“

„Das würden Sie schon“, erwiderte er – selbstgefällig, wie ich fand. „Jeder würde das, denn sie schließt eine bedeutende Forschungslücke, wie man so sagt.“

Mir lag auf der Zunge, dass er dann doch auch jeden fragen könne, verkniff es mir aber. Ich war noch nie ein Mensch großer Worte gewesen, mochte es aber ganz und gar nicht, wenn man mich hinhielt, um mit meiner Neugier zu spielen. Ich hätte aufstehen und gehen sollen. Warum ich blieb, konnte ich mir nur so erklären, dass ich wohl offensichtlich eine Schwäche für kauzige und komplizierte Menschen hatte. Einen Moment wollte ich das noch mitmachen und dann den Weg nach Hause antreten – um eine Erfahrung reicher.

„Gut, Maria“, hob Birnbaum da an. „Ich darf Sie doch Maria nennen?“ Unsere Blicke trafen sich.

„Für Sie Frau Schmoll, Herr Birnbaum“, gab ich zurück und erhob mich.

„Also gut, Frau Schmoll“, grinste er ironisch und erhob sich ebenfalls. „Zwar haben Sie mir noch immer nicht überzeugend dargelegt, warum Sie sich auf mein Inserat gemeldet haben, doch werde ich mir unsere Gespräche durch den Kopf gehen lassen und Sie meine Entscheidung spätestens morgen Nachmittag wissen lassen.“

Mit diesen Worten reichte er mir die Hand. „Sie finden die Bushaltestelle allein? Nur die Straße runter, an der Allee links ab.“ Ich konnte nur nicken, schon war er gegangen.

Kopfschüttelnd sah ich ihm nach. Mir kamen Zweifel daran, ob er wirklich einen Job zu vergeben hatte, oder sich nicht einfach nur einen Spaß daraus machte, Studenten zu sich zu locken, um sie auszuhorchen.


II

„Frau Schmoll, ich habe es mir überlegt.“

Ich saß gerade am Schreibtisch, um etwas für meine Hausarbeit über die neuzeitliche Kabbala zu lesen, als der Anruf von Birnbaum auf meinem Handy anschien.

„Ja?“, erwiderte ich. „Und?“

„Ich möchte Ihnen etwas geben.“

„Wieso? Habe ich den … die Arbeit?“

„Das hängt davon ab, wie Sie … Nein, anders! Wenn Sie …“ Ich hörte, wie er die Luft geräuschvoll ausstieß. „Wann können Sie an der Universität sein?“

„Heute noch?“ Ich war perplex, immerhin war es bereits 18 Uhr.

„Natürlich! Und ich meine, dass Sie dann nicht so weit zu fahren haben, wenn ich Ihnen auf halbem Weg entgegenkomme. Oder haben Sie kein Interesse mehr?“ Birnbaum schien verunsichert.

„Doch, doch, nur hätte ich eben gern gewusst, worum es geht.“

„Um eine Publikation, das wissen Sie doch. Also, wann können Sie an der Universität sein?“

Ich sah auf die Uhr, obwohl ich die Abfahrtszeiten des Busses auswendig kannte. Aber ich wollte Zeit schinden, weil mich Birnbaums Ansinnen irritierte.

„Ja, frühestens in einer halben Stunde“, sagte ich gedehnt.

„Gut, dann bis gleich.“

„Ja, sind Sie denn auch …“ Weiter kam ich nicht, denn er hatte schon aufgelegt.

*****

„Sie können Jiddisch.“

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, an der zu rütteln, mir nicht zustand. Jedenfalls kam es mir so vor. Allein, wie Birnbaum mir entgegentrat, zackig, forsch, mich wiederum musternd.

Ich verzichtete auf das „Hallo“ und sagte nur: „Grundkenntnisse besitze ich. Wieso?“ Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, doch ging er nicht auf sie ein.

„Jiddisch – sehr gut. Das war es letztlich, was mich dazu bewog, Sie unter all den Bewerbern auszuwählen.“

„Ach“, machte ich, „gab es denn tatsächlich noch mehr?“

„Was glauben Sie denn?“

„Und keiner darunter, der bessere Kenntnisse vorzuweisen hat als ich?“

„Ja, doch, natürlich“, erwiderte Birnbaum, „aber die haben mir nicht gefallen. Es muss ja auch rein menschlich stimmen, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Er sah mich einen Moment lang an. Dann räusperte er sich: „Nennen Sie mir einen Personaler, der jemanden nur aufgrund seiner Kenntnisse einstellt.“

Ich zuckte mit den Schultern: „Na ja nein, sicher nicht“, und fragte mich, wer von uns Studenten sich noch bei Birnbaum beworben haben mochte. Vielleicht sollte ich rumfragen? Unwillkürlich musste ich grinsen.

„So, ja, nun“, setzte er wieder an, „ich möchte Ihnen etwas geben, aber bevor ich das tue, wollte ich Sie fragen, ob Sie mit mir Essen gehen würden.“

Ich muss ihn wohl ziemlich entgeistert angesehen haben, denn er schob rasch hinterher: „Heute ist Erew Schabbat.“ Als wäre das eine Erklärung.

„Ja …“ Ich zuckte mit den Schultern. „Eigentlich wollte ich daheim noch etwas für meine Seminararbeit tun. Isaak Luria …“ Ich fühlte mich unwohl und wieder kam in mir der Gedanken hoch, all das sein zu lassen und nach Hause zu gehen. Stattdessen sagte ich: „Ok, aber nur, wenn ich endlich erfahren darf, worum es geht.“

„Sie handeln wohl frei nach dem Motto: Geduld, Geduld ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ Birnbaum schien sich wieder an einem Lächeln zu versuchen, wirkte jedoch verkrampft. Bereits bei unserem ersten Treffen schien er nicht entspannt. Was war nur mit ihm los? Schwer einschätzbar und daher auch ein wenig unheimlich. Aber was sollte mir in einem Restaurant schon geschehen? Ich müsste nur aufpassen, dass er es nicht zu sehr ausdehnte. Bei dem Gedanken packte mich Unruhe, denn es tat sich ein ungleich bedrohlicherer Verdacht auf. Ich sollte tatsächlich so schnell wie möglich nach Hause verschwinden.

Dass ich mich trotz des miesen Bauchgefühls keine 10 Minuten später mit Birnbaum in einem Restaurant der gehobenen Preisklasse wiederfand, war allein meiner Neugier geschuldet. Würde er mir aber jetzt nicht Rede und Antwort stehen, wollte ich die Sache endgültig beenden. Gut, dass er nur meine Telefonnummer hatte, durchzuckte es mich, als ich die Speisekarte zu lesen begann.

Und so, als wollte er mich beruhigen, schob er mir einen DIN A5-Umschlag über den Tisch zu. „Hier“, sagte er, „aber bitte erst daheim öffnen. Lesen Sie es in Ruhe und sagen mir, was Sie davon halten. Ich bin auf Ihre Meinung gespannt.“

„Gut“, erwiderte ich und nahm den Umschlag an mich.

„So, und nun wollen wir nicht mehr daran denken und Schabbat feiern und uns des Lebens freuen.“ Er klatschte in die Hände, wirkte dabei aber wieder sehr bemüht, ja geradezu angestrengt. Ich betrachtete ihn. Nur mit Mühe konnte ich ein verständnisloses Kopfschütteln unterdrücken. Mehr noch, als er sich die Kippa aufsetzte, sich erhob, kurz verschwand, im Wiederkommen einen Wein bestellte und alsbald ein Glas füllte, sich erhob und den Kiddusch, den Segen über den Wein, anstimmte: wajehi erew, wajehi woker, jom haschischi … baruch ata adonaj, elohenu, melech ha-olam, boré peri ha-gafen … (Und es war Abend und es war Morgen – der sechste Tag … Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, Schöpfer der Frucht des Weinstocks …). Ohne mich umzusehen, wusste ich aller Blicke auf uns gerichtet. Doch das schien Birnbaum nicht zu stören. Sich niedersetzend, nahm er einen Schluck, ehe er mir das Glas reichte.

Geistesgegenwärtig sagte ich: „Oh, vielen Dank, aber ich bevorzuge doch lieber mein eigenes Glas.“
 
Zuletzt bearbeitet:
Den Text finde ich insgesamt vorzüglich geschrieben, nur fehlt mir zum rechten Verständnis ein für mich nachvollziehbarer Schluss. Für diesen bedauerlichen Umstand sehe ich jetzt zwei Möglichkeiten der Erklärung; 1. Hier wurde nur der Anfang einer längeren Erzählung veröffentlicht. - 2. Oder mir ist beim zügigen Durchlesen etwas Wichtiges entgangen, das die Geschichte des Herrn Birnbaum hinreichend erläutert. Evtl. müsste man auch vertrauter mit dem Ritus der Schabbat-Feier sein, als ich es bin, um den Schluss hier besser zu verstehen.

Beim jetzigen Stand bin ich noch nicht in der Lage, den Text näher zu beurteilen. Was ich schon gelesen habe, ist jedoch vielversprechend.

Freundliche Grüße an ikarus 1975
Arno Abendschön
 

Sonja59

Mitglied
Hallo Ikarus,

der Hauptstadt Cernowitz
Meintest Du hier vielleicht doch eher die Czernowitz im Südwesten der Ukraine?

Zudem bin ich beim Lesen noch über ein paar kleinere Schusselfehler gestolpert.


Unterstrich und Sternchen in Seminar- und Abschlussarbeiten,kein Komma sowie das Angebot eines Lektors, wissenschaftliche Texte auf ihre Gendergerechtigkeit hin zu prüfen.
Daneben die Einladung zu einem Diskussionsabend der Evangelischen evangelischen Theologie Von göttlicher Queerness – warum Gott ein Sternchen trägt (Um es als einen Titel hervorzuheben, wären Anführungszeichen angebracht. Sonst sieht das großgeschriebene "Von" des Titels irgendwie falsch aus). Nicht zu übersehen auch ein Plakat der beiden Antidiskriminierungsbeauftragten Micha und Jasmine, die in einem Webseminar über Formen von Diskriminierung aufklärten: Auch hier Anführungszeichen Aber es war doch nur ein Lächeln … Null Toleranz für sexualisierte Gewalt an der Uni! Neger. Deine Sprache verrät dich. Ich mag es bunt – na und? Mein Kopftuch gehört mir! – Antiislamischen Rassismus entlarven Ausführungsstriche.

Ich studierte ja erst im vierten Semester Jüdische jüdische Studien. Aber ich hatte bereits das Latinum und, kein Komma viel wichtiger, das Hebraicum mit guten Noten bestanden. Gerade in diesem Semester hatte ich angefangen, Jiddisch zu lernen, um im kommenden Scholem Alejchem, Isaak Isaac Bashevis Singer und andere jiddische Schriftsteller lesen zu können.

Zwar erhielt ich Bafög BAföG, doch wollte ich ein wenig Geld ansparen, um mir den Traum von einer Reise quer durch Europa erfüllen zu können.

Er nannte mir seine Adresse und sagte, dass er mich zu um 15 Uhr am nächsten Tag erwarten würde und ich bei Birnbaum klingeln solle. Dann legte er auf.

Bis zum ersten Ersten Weltkrieg gehörte sie zum Habsburgerreich, ebenso wie die Bukowina mit der Hauptstadt Cernowitz Czernowitz.

„Ehe Sie feststellten, dass es Ihnen zu anstrengend wird und sie Sie kurzerhand aufgehört haben?“ Um Birnbaums Mund zuckte wieder ein Lächeln. Leicht spöttisch, wie ich fand.

„Und warum dann Jüdische jüdische Studien?“

Auf ihm schwammen einige Enten und zwei Schwäne mit noch graugefiederten grau gefiederten Jungen.

Ok (Ich glaube nicht, dass Du nur Ok sagst. Also doch lieber ausschreiben) Okay, aber wenn Sie mir nichts über den Job …“

Wenn schon Wennschon, dann ist es eine Arbeit.“

Ok Okay. Wenn Sie mir also nichts über die Arbeit erzählen, kann ich nicht entscheiden, ob ich sie wirklich machen wollen würde.“

„Grundkenntnisse besitze ich. Wieso?“ Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, doch er ging er nicht auf sie ein.

„Jiddisch – sehr gut. Das war es letztlich, was mich dazu bewog, Sie unter all den Bewerbern auszuwählen.“

„Ach“, machte ich,kein Komma sondern Punktgab Gab es denn tatsächlich noch mehr?“

„So, ja, nun“, setzte er wieder an, „ich möchte Ihnen etwas geben, aber bevor ich das tue, wollte ich Sie fragen, ob Sie mit mir Essen essen gehen würden.“

Ich muss ihn wohl ziemlich entgeistert angesehen haben, denn er schob rasch hinterher: „Heute ist Erew Erev Schabbat.“

Ok Okay, aber nur, wenn ich endlich erfahren darf, worum es geht.“

Und so, als wollte er mich beruhigen, schob er mir einen DIN hier gehört ein Bindestrich dazwischen A5-Umschlag über den Tisch zu. „Hier“, sagte er, „aber bitte erst daheim öffnen. Lesen Sie es in Ruhe und sagen Sie mir, was Sie davon halten. Ich bin auf Ihre Meinung gespannt.“

Nur mit Mühe konnte ich ein verständnisloses Kopfschütteln unterdrücken. Mehr noch, als er sich die Kippa aufsetzte, sich erhob, kurz verschwand, im Wiederkommen einen Wein bestellte und alsbald ein Glas füllte, sich erhob und den Kiddusch, den Segen über den Wein, anstimmte: wajehi erew wajehierew , wajehi woker wajehiwoker , jom haschischi haschisch… baruch ata adonaj adonai, elohenu, melech ha-olam, boré peri ha-gafen…


So, das wäre es von meiner Seite. Was den Textinhalt angeht, so stimme ich mit Arno überein. Wäre schön, wenn diese Geschichte noch weitergeht.

Viele Grüße
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Ikarus-1975,

da möchte ich mich mit kleinen Einschränkungen Arno anschließen.

Ich empfinde den Text auch als gut geschrieben und das Ende fehlt mir gleichfalls, weil die Geschichte quasi verpufft.

Ich sehe da noch ein paar zu viele 'Nebenkriegssschauplätze' z.B. die lange Szene vor dem Schwarzen Brett. Da sind noch mehr Statements, die eher dem Autor zuzuschreiben sind als dass sie aus der Persönlichkeit der Protagonistin gewonnen wären, über die man auch zu wenig erfährt - oder anders gesagt, würde ich gerne mehr über sie wissen wollen, weil ihre Lebensentscheidung eine Reife impliziert, der ihre Antwort auf die Nachfrage Herrn Birnbaums nicht gerecht wird.

Und was mich regelrecht stört, ist dieses wiederholte 'sich nicht wohlfühlen' in einer Situation. das ist so ein woker Sprech, der auf mich kindlich bis kindisch wirkt. Unsere spontanen Reaktionen auf Situationen können die unterschiedlichsten Ursachen haben und sind quasi eine Zwischenstation, bis wir diese Eindrücke rationalisiert haben und dann eine Entscheidung treffen, welchen Wert diese Impulse haben (den wir ihnen beimessen) und inwieweit wir ihnen Folge leisten wollen. Wenn wir vor dem Prüfungszimmer Herzrasen haben, sollten wir eher nicht davon laufen, wenn wir einem Raubtier begegnen, eher schon.

Mal sehen, ob wir eine Aufklärung oder gar eine Fortsetzung bekommen.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Ikarus,
warum fehlt das Ende? Sonst interessant. Macht neugierig. Du hast bei Storyhub schon immer Sachen geschrieben, die Fragmente waren und blieben. Irgendwie war da doch mal was mit einer Reise nach Czernowitz zu einem Rabbiner. Plötzlich ging sie nicht weiter, oder habe ich da was verpasst. Du hast großes Interesse an jüdischen Themen. Eventuell Familie? Wir warten alle auf den zweiten Teil der obigen Erzählung.
Gruß Friedrichshainerin
 

ikarus-1975

Mitglied
Hallo Sonja

Vielen Dank für deine Korrekturvorschläge. Auf einige möchte ich gerne eingehen:

Meintest Du hier vielleicht doch eher die Czernowitz im Südwesten der Ukraine?
Ich meinte tatsächlich die historische Bukowina, deren Hauptstadt Czernowitz war. Danke für das «z». Du meinst die moderne Oblast Czernowitzi? Da es sich an der von dir genannten Stelle nicht um eine wörtliche Rede handelt, sollte hier tatsächlich die Oblast genannt werden. Wobei mich das auf eine andere Idee bringt. Würde ich es in eine wörtliche Rede einfließen lassen, könnte das für eine zusätzliche Charakterisierung einer der Figuren, wahlweise Birnbaum, gereichen …

Daneben die Einladung zu einem Diskussionsabend der Evangelischen evangelischen Theologie ...
Ich studierte ja erst im vierten Semester Jüdische jüdische Studien ...
Da es sich bei beidem um die Eigennamen von Studienfächern handelt, sollten diese auch großgeschrieben werden. Vgl. dazu deine Korrektur:

ersten Ersten Weltkrieg gehörte ...
Ich kann mir allerdings vorstellen, wie es zu diesem Missverständnis gekommen ist und präzisiere demzufolge: «Einladung zu einem Diskussionsabend in der Theologischen Fakultät.»

wajehi erew wajehierew , wajehi woker wajehiwoker , jom haschischi haschisch… baruch ata adonaj adonai, elohenu, melech ha-olam, boré peri ha-gafen…
1. Umschriften sind Krücken. Gefühlt jeder besitzt sein eigenes Umschriftsystem. Eindeutigkeit schafft nur der hebräischen Text selbst. ;-)

2. Ich hatte mich zur besseren Lesbarkeit für den Absatz zwischen dem Verbum «wajehi» (und es war) und den sich daran anschließenden Nomina «erew» (Abend) und «boker» (hier «woker») (Morgen) entschieden. Gerade «wajehierew» stellt selbst für Kundige ein Lesemonstrum dar. Will man den Masoreten folgen, sollte man das Maqqef in Form eines Bundestrichs in die Umschrift übertragen, d.h.: wajehi-erew und wajehi-woker.

3. «jom haschisch» ist falsch. Es heißt in der Tat jom haschischi. Bei haschischi (der/die sechste) handelt es sich um die von der Kardinalzahl schesch (nicht schisch!) abgeleitete Ordinalzahl.

4. «adonai» taucht zwar immer wieder als Umschrift von אֲדֹנָי auf, wird aber dem Alt-Hebräischen nicht gerecht. Bei dem jod am Ende des Wortes handelt es sich nämlich um einen Konsonanten und nicht um einen verstummten Buchstaben, wie etwa in יָדׅי (jadi = meine Hand), daher ist die Transkription «adonaj» stimmig. (Zur Frage, wie ein jod nach vorangehendem Vokalen zu analysieren ist, vgl. Neef (82021), S. 23f.)

5. Deine Anmerkungen haben mich dazu bewogen, meine Umschrift nochmals kritisch zu betrachten.

Nochmals vielen Dank und liebe Grüsse

ikarus
 

Sonja59

Mitglied
Hallo Ikarus,

nichts von dem, über das ich gestolpert bin, ist fest geschrieben. Ich übernehme in meinen Texten auch nicht alle Korrekturen, die von anderen angeregt wurden. Aber ich hinterfrage sie für gewöhnlich nochmals kritisch. Das hilft und man lernt daraus. Nichts anderes sollte das auch hier sein.
Vielleicht solltest Du bei dem Segen auch dazuschreiben, dass es sich um einen der drei Segenssprüche der Chanukka handelt.
Ich bin der Meinung, dass man da einiges für Nichtjuden verständlicher umschreiben, bzw. zusätzlich erklären sollte. Etwas, was wirklich schwer zu bewerkstelligen sein dürfte, wenn man keine Abhandlung aus der gelungenen und sehr interessanten Geschichte machen möchte. Anders gesagt, dürfte Dir da noch ganz schön der Kopf rauchen. ;)
Wenn ich kann, helfe ich dabei gern. Zumindest könnte ich dabei helfen, das für Aussehende Unverständliche hervorzuheben, damit es für sie verständlicher erklärt werden kann. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man ganz schnell ins Fachspezifische abrutscht, von dem aber andere, die mit der Materie nicht vertraut sind, nichts anfangen können. Eben so ist es hier bei diesem Thema. Aber ich finde es auch wichtig und gut, es Außenstehenden nahezubringen.

Wie geschrieben, so ich kann, helfe ich gern.

Viele Grüße und noch einen schönen Abend
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Ikarus-1975,

ich sehe, dass Du immerhin Sonja geantwortet hast - das ist ja auch das Mindeste, was man erwarten kann, wenn sie sich so viel Mühe macht mit Deinem Text.

Ich wundere mich nur, dass Du die vier anderen Kommentare bisher 'übersehen' hast - und auch auf die Frage des Schlusses nicht eingegangen bist.

Da bekomme ich den Eindruck, dass Du nur kommunizieren möchtest, wo für Dich ein Nutzen entsteht, was ich traurig fände.
Noch hast Du Gelegenheit, diesen Eindruck zu widerlegen.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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