SuMay
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Die Graue Stadt
Es war einmal ein böser Zauberer, der zog durch die Welt. Seine Reise führte ihn durch viele schöne Länder mit bunten Feldern, kristallklaren Seen und tiefen, geheimnisvollen Wäldern. Er war schon sehr lange unterwegs; eigentlich konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, jemals irgendwo zu Hause gewesen zu sein. Und Graufried – so hieß unserer Zauberer – wanderte schon viele Jahre über diese Erde. Seine Schläfen waren weiß, doch das lange Haupthaar glänzte pechschwarz, genau wie seine Augen. Aber da hatte er natürlich zauberisch nachgeholfen. Graufried war ein wenig eitel. Er achtete sehr auf seine äußere Erscheinung. Und da er böse war befand er, daß seine langen Kleider und sein weiter Umhang unbedingt schwarz wie die Nacht sein mußten. Doch das war gar nicht so einfach. Graufried hatte im Laufe der Zeit viel von seiner Zauberkraft verloren. Das ließ sich auch nur mit einiger Mühe verbergen, denn immer, wenn seine magischen Kräfte nachließen, begann er zu verblassen. Dann wurden nicht nur seine Haare grau, sondern zu seiner Schande auch alle Kleider, die er am Leib trug, sodaß es alle Menschen sehen konnten. Das mochte er gar nicht. Zu allem Unheil fühlte er sich in solchen Zeiten auch schwach und kränklich, ja, sogar ängstlich. Es gefährdete seinen schlechten Ruf als mächtiger Magier. Doch Graufried war klug und hatte einen Weg gefunden, seine Zauberkräfte immer wieder aufs Neue aufzuladen.
An einem warmen, sonnigen Sommertag wanderte unser Zauberer wieder einmal eine Landstraße entlang. Rechts und links lagen malerische bunte Felder mit Sonnenblumen. Vögel sangen fröhliche Lieder, Schmetterlinge, Bienen und Mücken umtanzten die Blüten und nur wenige weiße Wölkchen zogen über den Himmel. Die Luft flirrte vor Lebendigkeit und Lebenslust. Doch Graufried hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Er spürte, daß er dringend seine Zauberkräfte aufladen mußte, denn sein Umhang war schon ziemlich grau geworden. So setzte er einen Fuß vor den anderen, um so schnell wie möglich die nächste Stadt zu erreichen.
Endlich, es war schon Abend und das Licht der Mondin erhellte die Welt, erblickte Graufried die Mauern einer Stadt. Erleichtert trat er nach einer kurzen Weile durch die Tore der Stadtmauer und schritt entschlossen die Hauptstraße entlang. Sein Ziel war das Rathaus, denn er meinte, das wäre das wichtigste Gebäude jeder Stadt und das Zentrum der Macht. Und Macht war ihm wichtig, denn was wäre ein Magier ohne Macht?
In den ersten Stunden der Nacht beobachtete Großmutter Mond besorgt eine große schwarz-graue Gestalt, die das Rathaus der Stadt Draghausen betrat. Sie schob einige Wolken beiseite um eine bessere Sicht zu haben. Sie verfolgte diese Gestalt schon seit einer geraumen Weile mit aufmerksamem Blick. Natürlich wußte sie, daß es der böse Graufried war und sie wußte auch, was er vorhatte. Die Mondin ist uralt und sie kennt uns alle seit der Stunde unserer Geburt. So kannte sie auch Graufried, ja, sie kannte ihn besser, als er sich selbst kannte, denn sie erinnerte sich an Dinge, die er selbst vergessen hatte. Sie erinnerte sich noch an die Zeit, bevor er böse geworden war, doch das war lange, lange her und ist eine andere Geschichte.
Das Rathaus von Draghausen lag gleich neben dem Hauptplatz. Es war ein großes altes Gebäude mit vielen Räumen, in denen tagsüber viele Menschen arbeiteten. Als diese nun so wie jeden Morgen zur Arbeit erschienen und das Magistrat betraten, merkten sie sofort, daß etwas anders war. Ungewöhnliche Kälte empfing sie, und alle Gänge und Zimmer erfüllte ein grauer Nebelschleier. Das fanden die Beamten ziemlich gruselig. Einige drehten sich gleich wieder um, nahmen sich den Tag frei und gingen nach Hause. Die anderen versammelten sich hinter dem Eingang um auf den Bürgermeister zu warten und ihn um Rat zu fragen. Dieser erschien schließlich als letzter, als der Tag schon fortgeschritten war und Vater Sonne sich dem Mittag näherte. Als der Würdenträger das Rathaustor öffnete staunte er nicht schlecht über seine Beamten, die sich, vor Kälte zitternd, ängstlich aneinander drückten und von feinen grauen Nebelschwaden umgeben waren. Der Bürgermeister beruhigte seine Angestellten. Er war ein stattlicher, mutiger Mann und würde für Recht und Ordnung sorgen. Er schritt beherzt durch den grauen Dunst und steuerte auf seinen Arbeitsraum zu, der sich in der großen Bibliothek befand. Entschlossen öffnete er die Tür – und erschrak schließlich doch. Hinter seinem altehrwürdigen Schreibtisch thronte die unheilverkündende Gestalt des Magiers Graufried. Der erhob sich beim Anblick des Bürgermeisters, richtete sich stolz zu voller Größe auf und atmete tief ein. Er sog so viel Luft ein, wie seine Lungen zu fassen vermochten und sogleich wurde sein graues Gewand eine Spur dunkler, während der Bürgermeister eine Spur grauer wurde. Graufried atmete weiter, so tief er konnte und begann seine magischen Kräfte wieder aufzuladen. Erst als der Bürgermeister völlig grau geworden war, setzte er sich zufrieden und satt an den Schreibtisch und lehnte sich genüßlich zurück. Das graue Männchen aber, das noch vor kurzem höchster Würdenträger von Draghausen gewesen war, taumelte durch die nebligen Gänge zurück zum Tor und verschwand in den Gassen der Stadt. Das versetzte die restlichen Beamten dermaßen in Furcht, daß sie Hals über Kopf ebenfalls davonstürzten. Graufried jedoch gönnte sich ein kleines Mittagsschläfchen.
Die Nachricht vom ergrauten Bürgermeister machte schnell die Runde unter den Bewohnern der Stadt. Niemand wagte es mehr, einen Fuß ins Rathaus zu setzen. Die Menschen versammelten sich aufgeregt am Hauptplatz und beratschlagten, was nun zu tun sei. Sie diskutierten heftig, wer der Fremde sei und wie man ihn wieder vertreiben könnte. In all der Aufregung und dem Chaos bemerkten sie gar nicht, wie sich das Tor des Rathauses öffnete und der böse Zauberer hervortrat. Graufried musterte das bunte Treiben auf dem Marktplatz und es gefiel ihm sehr. Er näherte sich der Menschenmenge und erst, als er sie erreichte und mitten unter ihnen stand, bemerkten sie ihn. Aber nun war es zu spät. Der Magier atmete tief ein, und während die guten Leute in panischer Angst in alle Richtungen davon stoben, verschwanden all die bunten Farben und der Marktplatz verblich zu aschegrau. Auch die Menschen, die nicht schnell genug geflohen waren, ergrauten innerhalb von Minuten und wankten benebelt in ihre Häuser und Wohnungen. Graufried jedoch erstrahlte in vollem Glanz. Sein langes Haar glänzte wieder pechschwarz und ebenso alle Gewänder, die er trug. Zufrieden spazierte er durch die Gassen der Stadt. Hier würde er noch eine gute Weile bleiben.
Doch Großmutter Mond wußte es besser. Die Mondin ist alt und weise, sie kennt alle Geschichten und Geheimnisse. Und so kannte sie auch die Geschichte und das Geheimnis von Draghausen. Insgeheim hatte sie stets gehofft, daß Graufried irgendwann in diese Stadt wandern würde, denn hier bestand die Chance, ihn zu besiegen. Ob uns Großmutter Mond diese Geschichte erzählen wird? Fragen wir sie!
„Gute Oma, erzählst du uns die Geschichte von Draghausen? Was ist das für ein Geheimnis? Wie kann der böse Zauberer besiegt werden?“
„Ihr Lieben, hört zu! Vor langer, langer Zeit lebten Drachen auf der Erde. Da, wo sich heute Draghausen befindet, wohnte damals eine Drachenfamilie. Eines Tages fanden die Drachenkinder beim Spielen im Wald ein Menschenjunges. Sie spielten gemeinsam, und als es Abend wurde nahmen sie es mit nach Hause. Die Dracheneltern wunderten sich sehr darüber und fragten das Kind, ob es sich verlaufen hätte. Sie wollten es zu seinen Eltern zurück bringen. Aber das Kind war eine Waise und Dahle, die Drachenmutter, brachte es nicht übers Herz den kleinen Jungen fort zu schicken. Sie nahm ihn in die Familie auf und liebte ihn wie ihre eigenen Drachenkinder. Sie gab ihm den Namen Waldemar, da sie ihn im Wald gefunden hatten.
Waldemar gefiel das Leben bei den Drachen sehr. Er lernte viele Dinge, die er bei einer Menschenfamilie niemals hätte lernen können. Nach einigen Jahren harten Trainings beherrschte er sogar die Kunst des Feuerspeiens. Da war Drago, sein Adoptivvater, besonders stolz auf ihn und lobte ihn sehr. Die Drachenmutter und seine älteren Adoptivschwestern unterwiesen ihn im magischen Heilen. Und als Waldemar erwachsen geworden war, hatte er sogar gelernt, wie man sich in die Lüfte erhebt. Er flog mit den Drachengeschwistern über viele Länder und sie beobachteten oft von weitem die geschäftigen Menschen. Dabei benahmen sie sich sehr rücksichtsvoll und hielten immer gebührenden Abstand, denn manche Menschen hatten Angst vor ihnen. Sie hatten auch Freunde unter den Menschen. Da war vor allem Sylvie, die Tochter der Waldhexe Ludmilla. Sylvie hatte viel Zauberei von ihrer Mutter gelernt und sie war mutig, stark und unerschrocken. Sie fürchtete die Drachen nicht im geringsten, im Gegenteil, sie fühlte sich ihnen verbunden und war fasziniert. Sie freute sich stets auf ihre Besuche, unterhielt sich gerne mit ihnen und sie tauschten ihr Wissen über Zauberei und Heilmagie aus. Sie wagte es sogar, auf dem Rücken der Drachen zu reiten und jauchzte dann jedes Mal vor Vergnügen. Dabei beherrschte sie selbst die Kunst des Fliegens, aber das war ihr Geheimnis.
Es kam, wie es kommen mußte. Sylvie und Waldemar verliebten sich. Das wäre Grundzur Freude gewesen, wenn sich nicht einer seiner Drachenbrüder ebenfalls in die schöne Hexentochter verliebt hätte. Zum ersten Mal, seit Waldemar bei der Drachenfamilie lebte, kam es zum Streit. Die Adoptivbrüder zankten sich erst, stichelten und machten boshafte Bemerkungen. Jeder meinte, Sylvie würde ihn lieben. Tatsächlich mochte die junge Frau den Drachen und den Menschen gleich gerne und konnte sich gar nicht recht entscheiden, mit wem sie lieber zusammen sein wollte. Schließlich artete der Streit der Brüder aus. Sie kämpften miteinander und trugen dabei oftmals Verletzungen davon, die Dahle wieder heilen mußte. Drago sah dem Treiben eine Zeit lang zu, aber als kein Ende des Streits abzusehen war griff er ein. Er war ein sehr friedliebender Drache.
Eines Tages, als die Brüder wieder einmal miteinander kämpften und feuerspeiend durch die Lüfte wirbelten, erhob er seine Donnerstimme und brüllte „Genug!“
Das kam so unerwartet, daß die beiden Kampfhähne sofort innehielten und sich erstaunt umsahen. In diesem Moment packte Drago sie am Kragen, flog mit den strampelnden und zeternden Verliebten zum Kristallsee und ließ sie dort ins Wasser platschen. Sie sollten sich abkühlen. Davor jedoch hatte er die Nixen darum gebeten die beiden erst aus dem Wasser zu lassen, wenn sie sich wieder vertragen würden.
Dann flog er geradewegs zu Ludmilla, die eine alte Freundin von ihm war. Als junger Drache war er sehr in sie verliebt gewesen, doch die Waldhexe war eine freiheitsliebende Frau und wollte ihn nicht heiraten. Obwohl sie eine Tochter von ihm gebar, zog sie es vor, alleine zu leben um sich ihrer Zauberei zu widmen. Ludmilla war sehr erstaunt über den Besuch ihres ehemaligen Geliebten. Aber insgeheim freute sie sich doch, denn sie mochte ihn sehr gerne und hatte ihn viele Jahre lang nicht mehr gesehen. Drago paffte würzig riechende Rauchwölkchen in die Luft und seine Schuppen glühten vor Freude als er erfuhr, daß Sylvie seine Tochter war. Er war sehr glücklich, denn diese Tatsache mußte den Streit seiner Söhne endgültig beilegen. Sein leiblicher Sohn konnte Sylvie nicht zur Frau nehmen, da sie seine Halbschwester war.
Als er am Abend heimkehrte schlurften gerade ein bis ins Drachenherz aufgeweichter, aus allen Schuppen triefender Jungdrache und ein pudelnasser Menschenjüngling ins Drachennest. Seine Frau und er mußten sich sehr zusammenreißen um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Und als später alle um den großen Topf mit Kräutersuppe versammelt waren, erzählte Drago seiner Familie die Geschichte, wie er als Jungdrache in die Waldhexe Ludmilla verliebt gewesen war. Dahle blies einige Male kleine Feuersäulen aus ihren Nüstern. Sie war ein wenig eifersüchtig. Aber sie sagte nichts. Das war schließlich gewesen, bevor sie ihn kennengelernt hatte.“
Großmutter Mond legte eine Pause ein. Was waren das für Zeiten gewesen, als Drachen noch mit Menschen befreundet waren und sich nicht irgendwo am Ende der Welt in Höhlen unter der Erde versteckten wie in späteren Zeiten. Nach einem tiefen Seufzer fuhr sie fort:
„In unserer Drachenfamilie herrschte fortan wieder Friede und schon nach kurzer Zeit wurde Hochzeit gefeiert. Das Drachennest wurde festlich mit Zweigen, Blumen und Edelsteinen geschmückt. Das Brautpaar war überglücklich und schickte Einladungen in alle Reiche: zu den Menschen, den Feuergeistern, den Nixen, Zwergen, Elfen und Feen. Die Trauung übernahm Ogard, der älteste Drachenfürst, der dafür eine weite Reise hatte zurücklegen müssen. Er verfügte über die stärksten magischen Kräfte der damaligen Welt und wußte, daß seine Lebensreise bald zu Ende sein würde. Deshalb verbrachte er die letzten Jahre damit, sein reiches Erbe aufzuteilen und an würdige Wesen zu verschenken.
Ogard segnete Waldemar und Sylvie und überreichte ihnen ein ganz besonderes Hochzeitsgeschenk: einen feuerroten Kristall in Form einer Flamme. Er sollte das Symbol für ewige Freundschaft zwischen Drachen und Menschen sein. Der alte Drachenfürst hielt den Kristall hoch und lud ihn vor den Augen der staunenden Hochzeitsgesellschaft mit seinem magischen Feueratem auf. Sofort fing der Kristall an aus seinem Inneren heraus zu pulsieren und zu leuchten. Seine Kraft war so stark, daß sie die ganze Umgebung viele Meilen weit in rotes Licht tauchte und alle Lebewesen, die darin badeten, fühlten sich augenblicklich bärenstark, verjüngt und energiegeladen. Doch war mit diesem Geschenk auch eine Aufgabe verbunden: Waldemar und Sylvie sollten den magischen Kristall hüten und ihn in ihrer Familie von einer Generation an die nächste weitergeben. Und die Brautleute gaben ihr heiliges Ehrenwort, so zu tun.
Die Feierlichkeiten dauerten noch viele Tage und Nächte an. Es waren ja so viele Lebewesen der verschiedenen Reich versammelt, und so entstanden in jener Zeit viele neue Bekanntschaften, Freundschaften und wohl auch Liebschaften. Oh, wie gut ich mich daran erinnere! Ela, die kleine Rosenelfe und Bu, der knurrige Zwerg, der eigentlich für einen Zwerg ziemlich groß geraten war, und wie die beiden die Nächte durchtanzten, und Bu nicht mehr knurrte und nur noch schnurrte. . . . Oh, ich könnte tagelang nur von diesem Fest erzählen! Naja, es war ja auch das letzte dieser Art. Schon kurz danach veränderte sich die Welt.
Aber kehren wir wieder zurück zu unserer Drachenfamilie. Waldemar und Sylvie hatten also geheiratet und bauten gleich neben dem Drachennest ein kleines Haus. Darin lebten sie glücklich viele Jahre lang und wurden mit zwei Töchtern und zwei Söhnen gesegnet. Doch schon in der Zeit, als diese Kinder heranwuchsen, begannen die großen Wanderungen. Die Menschen hatten begonnen, Drachen zu jagen und allen Wesen der Natur gegenüber respektlos zu werden. Manche behaupteten sogar, sie würden überhaupt nicht existieren, und Elfen, Nixen und was es sonst noch an wunderbaren Wesen gibt wären nur ein Produkt der Phantasie. Das traf diese Geschöpfe tief ins Herz und kränkte sie so sehr, daß sie beschlossen, die Menschen zu verlassen. Die Geister der Natur sprachen einen Zauber aus, der sie fortan unsichtbar für Menschenaugen machte. Die Drachen aber machten sich traurig auf die Wanderung und zogen in Höhlen unter die Erde, wo sie noch heute leben und darauf warten, daß die Menschen wieder freundlicher werden.
So war das Drachennest bereits verwaist als die Kinder von Waldemar und Sylvie das Erwachsenenalter erreicht hatten. Sie gründeten Familien und bauten neue Häuser, die bald erfüllt waren mit fröhlichem Kinderlachen. So entstand bald ein Dorf und später eine Stadt: Draghausen.
Nun kennt ihr also die Geschichte. Und das Geheimnis? Das Hochzeitsgeschenk von Waldemar und Sylvie existiert immer noch. Die beiden hielten ihr Wort, hüteten den Kristall und gaben ihn weiter. Aber es gibt noch ein Geheimnis. Wollt ihr es wissen?
Sylvie war die Tochter eines Drachen und in ihrer Brust schlug das Herz eines Drachen. Das hatte sie von ihrem Vater geerbt. Sie wiederum vererbte es ihrer ältesten Tochter und diese einem ihrer Söhne. In jeder nachfolgenden Generation gab es immer ein Kind mit einem Drachenherzen. An dieses wurde der rote Kristall weitergegeben um seine Magie zu hüten. Und ein Hüter des magischen Drachengeschenkes lebt iauch heute noch in Draghausen. Diesen Menschen gilt es nun zu finden, denn er allein ist stark genug um die Zauberkraft des bösen Magiers zu besiegen.“
Hier gähnte Großmutter Mond und blinzelte. Sie war müde vom Erzählen und auch etwas aufgewühlt. Sie verzog sich kurzer Hand hinter eine Wolke um in alten Erinnerungen zu schwelgen. Es wurde ohnehin bald Tag und Vater Sonne würde schon bald am Himmel erscheinen.
Ein neuer Tag brach an. In Draghausen war es ganz still geworden. Man sah kaum noch Menschen auf den Straßen. Die Stadt war vollständig ergraut. Die Bewohner der einstigen Drachenwohnstatt schlurften ziellos mit hängenden Köpfen durch die Gassen. Sie hatten vergessen, wer sie waren, ihre Gedanken waren von grauem Nebel verhüllt, ihre Haut, Haare und Kleider waren verblaßt. Es gab keinen einzigen Tupfen Farbe mehr in Draghausen.
Doch – eine Ausnahme gab es! Im Keller eines Hauses lebte die alte Dora. Sie hatte weder Besitz, noch eine Familie. Sie lebte von dem, was gütige Menschen ihr schenkten und verließ nur selten ihre Wohnung. Schon in jüngeren Jahren zog sie sich vor der hektischen Geschäftigkeit und Geschwätzigkeit der Leute zurück, und je älter sie wurde, desto weniger verließ sie ihre kärgliche Kellerwohnung. In ihrem alten Sofa saß sie oft stundenlang und träumte von einem anderen Leben in einer anderen Zeit, von Drachen, Feen, Elfen, Sylphen, Nixen und Zwergen. Dora war schon seit Tagen nicht mehr auf die Straße gegangen und wußte deshalb auch nichts von dem bösen Zauberer. Nun hatte sie aber schon länger nichts mehr gegessen, ihre wenigen Vorräte waren verbraucht und es war auch niemand gekommen, um ihr wie sonst üblich ein paar Reste vorbeizubringen. Da mußte sie sich aufraffen und nach draußen gehen, wenn sie nicht verhungern wollte. Also nahm die alte Dora ihren Korb und ging in die Stadt. Auf ihrem Weg staunte sie sehr als sie sah, daß alle Farben entwichen waren und die ganze Stadt samt ihrer Bewohner grau geworden war. Sie marschierte durch alle Gassen und versuchte auch mit den Menschen zu sprechen, aber diese schlurften wie ferngesteuert mit hängenden Köpfen an ihr vorbei. Kalte Nebelschwaden standen in der Luft und Dora begann zu frieren. Ihre Kleider waren abgetragen und zerschlissen und wärmten nicht genug. Doch im Gegensatz zum allgegenwärtigen Grau fielen sie durch ihre Farben auf.
„Die letzte Alte“, dachte Graufried, als er sie erspähte, „die hole ich mir noch und dann ziehe ich weiter.“ Er begab sich sogleich zu Dora, baute sich vor ihr auf und atmete tief ein. Die alte Frau stand vor ihm, betrachtete ihn neugierig und lächelte ihn freundlich an. Graufried wunderte sich über das seltsame Weib. Amüsiert dachte er, die Alte wäre nicht mehr ganz richtig im Kopf. Hochmütig sagte er: „Ich bin Graufried, der große Magier und ich atme dir die Lebenskraft aus dem Leib, so wie ich es mit allen Menschen tue.“ Und er inhalierte tief. Doch nichts geschah. Er atmete wieder und wieder, aber es half nichts, die alte Dora blieb so farbig, wie sie war. Sie ließ den verdutzten Magier einfach auf der Straße stehen, drehte sich um und ging nach Hause. Graufried aber flüchtete ins Rathaus und schloß sich dort ein um nachzudenken.
Am Abend erschien Großmutter Mond am Himmel und lugte durch das kleine Kellerfenster in die Stube der alten Dora. Die Mondin sprach: „Mein Kind! Hüterin des Kristalls! Du bist der letzte Mensch auf der Welt, in dessen Brust das Herz eines Drachen schlägt. Nur du kannst den bösen Zauberer besiegen!“
Die alte Frau wußte mit diesen Worten gar nichts anzufangen. Ihre Mutter war nämlich sehr früh gestorben und hatte das Geheimnis ihrer Familie mit ins Grab genommen. Da mußte Großmutter Mond wohl oder übel die ganze Geschichte noch einmal erzählen, die wir schon kennen. Erinnert ihr euch?
Die alte Dora lauschte den Worten der guten Mondin und dabei wurden ihre Bäckchen ganz rot vor Aufregung.
„Du kennst nun die Geschichte dieser Stadt und deiner Familie. Nun ist es an der Zeit, die Magie des roten Kristalls zu nutzen und den bösen Zauberer zu besiegen.“ Damit beendete die Göttin der Nacht ihre lange Rede und zog sich zurück. Der Morgen dämmerte.
Dora war ratlos. Sie hatte keine Ahnung, wo ihre Mutter den Kristall versteckt hatte und wie sie seine Magie nutzen sollte. Aber sie sah ein, daß Graufried besiegt werden mußte und so begann sie zu suchen. Ihre Kellerwohnung war sehr klein, da gab es nicht viele Verstecke und sie war bald fertig. Doch sie erinnerte sich daran, daß ihrer Familie früher einmal das ganze Haus gehört hatte. Sie ging in alle Wohnungen und stellte alle Zimmer auf den Kopf. Die Bewohner des Hauses sahen grau und wortlos durch sie hindurch. Sie waren schon so schwach geworden, daß sie wie Gespenster wirkten.
Nach drei Tagen Suchen war klar, daß der Kristall nicht im Haus sein konnte. Müde und verzweifelt ging Dora in den kleinen Garten hinter dem Haus, wo früher Gemüse angebaut worden war. Sie setzte sich an den alten Brunnen, der schon lange nicht mehr genutzt wurde, da schon alle Wohnungen mit Wasserleitungen ausgestattet waren. Wenn sie schon nichts zu essen hatte, dann wollte sie wenigstens etwas trinken. Sie ließ den Eimer hinab in die Tiefe, füllte ihn mit Wasser und zog ihn wieder hoch. Doch gerade als sie zum Trinken ansetzen wollte hielt sie plötzlich inne – und stieß ein lautes, helles Jauchzen aus, wie ein junges Mädchen. Im Wasser funkelte ein roter Kristall.
Dora vergaß Hunger und Durst. Sie griff nach dem roten Kristall, nahm ihn aus dem Wasser und betrachtete ihn von allen Seiten. Nach wenigen Minuten begann in seinem Inneren ein Licht zu leuchten. Ohne wirklich zu wissen weshalb, hielt sie den Kristall an ihr Herz und erneuerte damit den Schwur ihrer Ahnen. Und wie sie so tat, begann die pulsierende rote Flamme im Rhythmus ihres Drachenherzens zu schlagen und das alte Erbe in ihr zu erwecken.
Graufried saß in der Bibliothek des Rathauses und grübelte. Seit er denken konnte hatte sich noch niemals ein Lebewesen seiner Magie entziehen können. Tagelang hatte er sich nun schon verkrochen und alles Mögliche herbei gezaubert um seine Kräfte zu überprüfen. Einmal rief er einen Dschinn. Dieser war sofort gehorsam zur Stelle und servierte wie gewünscht sein Lieblingsgericht: Krötenschleimsuppe mit gebackenen Mäusen, garniert mit knusprigen Spinnenbeinen. Doch trotz des leckeren Mahles wurde sein Unmut immer größer. Nicht einmal die Nachspeise aus kandierten Schnecken, die der arme Dschinn eilfertigst herbeibrachte konnte ihn milde stimmen und er jagte den armen Geist unter lautem Schimpfen davon. In seiner Verzweiflung zauberte er sprechende Hasen, ein Zebra mit drei Köpfen und eine giftgrüne Giraffe herbei. Alles gelang mühelos. Graufried verstand die Welt nicht mehr.
Nun hatte er alles wieder weggezaubert und saß müde am Schreibtisch des Bürgermeisters. Dort nickte er schließlich ein, schlief die ganze Nacht und träumte von der alten Frau, bei der sein Zauber versagt hatte. Großmutter Mond betrachtete ihn durchs Fenster und lächelte ihn an. Sie liebte ihn, wie alle Großmütter ihre Enkel lieben, auch wenn sie manchmal Dinge tun, die ihr nicht gefallen.
Am nächsten Morgen war es wieder ein wenig kälter geworden und die Strahlen von Vater Sonne schafften es kaum, den grauen, Nebel zu durchdringen. Draghausen schlief einfach weiter.
Graufried erwachte schweißgebadet aus seinen Träumen. Sein langer Mantel hatte begonnen sich in ein dunkles Grau zu verfärben, und das bedeutete, daß er sich bald auf den Weg in eine neue Stadt machen mußte. Er seufzte tief. Das Wandern wurde mit jedem Jahr anstrengender. Wie lange lebte er schon auf Mutter Erde? Er wußte es nicht mehr.
Langsam erhob sich der böse Zauberer und trat ans Fenster, um einen letzten Blick auf Draghausen zu werfen. Er blickte über den vereinsamten grauen Hauptplatz und wäre fast ein bißchen rührselig geworden, da stieß ein roter Drache das Fenster auf, steckte seinen Kopf hinein und entfachte ein Feuer im Kamin. Und noch ehe Graufried seinen vor Schreck geöffneten Mund wieder schließen konnte, schwang sich der Drache in die Lüfte und kreiste über der Stadt. Er stieß nach und nach alle Fenster auf und entfachte mit seinem Atem Feuer in den Kaminen. Dora Drachenherz spürte die Kraft des Feuers tief in ihrem Inneren. Sie fühlte sich wieder jung, mächtig und lebendig. Sie konnte in Brand setzen, was immer sie wollte. Das fühlte sich gut an, aber die Stadt unter ihr war immer noch grau. Die Atmosphäre erwärmte sich zwar und der Geruch von verbranntem Holz verbreitete sich in der Luft. Doch der Rauch war auch grau.
Dora Drachenherz schwang sich in die Lüfte und flog davon. Sie zog weite Kreise über der Landschaft. Tief unter ihr lagen Wälder und Felder, Seen und Meere, Städte und Dörfer. Sie schlug Purzelbäume in der Luft und drehte Pirouetten. Immer wieder atmete sie Feuer aus, nur so zum Spaß, einfach nur, weil sie es konnte. Es fühlte sich großartig an! Ihr ausgespiehner Feueratem tanzte vor und mit ihr in der Luft. Kleine Feuergeister zogen darin ein und begleiteten sie ein Stück weit. Sie flog frohgemut herum und merkte plötzlich, daß sie der Sonne schon ziemlich nahe gekommen war. Da spürte sie einen Anflug von Übermut, fing an zu lachen und startete direkt auf die Sonne zu. Was für ein Bild! Ein roter Drache fliegt direkt in die Sonne hinein und lacht aus vollem Hals!
Und was machte die Sonne? Zuerst glaubte sie es gar nicht, als sie den Drachen bemerkte, der seine Kreise zog, umgeben von fröhlichen Feuergeistern, und ihr immer näher kam. „Oha“, schoß es ihr urplötzlich durch den Kopf, „was kommt denn da?! Ein lachender Drache?!“
Da stürzte Dora Drachenherz mitten in die Sonne hinein. Sie kitzelte die Sonne in ihrem Bauch, und die Sonne begann ebenfalls zu lachen.
Sie lachte so heftig, wie schon lange nicht mehr, sie krümmte sich, hüpfte am Himmel auf und ab und pustete Sonnenstürme durch die Gegend. Sie lachte aus vollem Sonnenbauch. Und der Drache in ihrem Inneren lachte aus vollem Drachenbauch.
Aus einem heiteren Himmel schien eine lachende Sonne und sendete ihre Strahlen auf Mutter Erde. Auf einer dieser Strahlen ritt ein lachender roter Drache, steuerte direkt auf eine graue Stadt zu und landete mitten auf dem Hauptplatz. Erschrocken wichen die grauen Männer und Frauen vor ihm zurück. In einigem Abstand bildeten sie einen großen Kreis um ihn. Zum ersten Mal seit langem richteten sie ihre Augen weg vom grauen Boden unter ihren Füßen und blickten auf.
Vor ihren erstaunten Blicken verwandelte sich der rote Drache in die alte Dora. Sie stand da, in ihren zerschlissenen bunten Kleidern und lachte immer noch – das Flugabenteuer hatte ihr großes Vergnügen bereitet! In ihren Händen hielt sie den Drachenkristall. Er leuchtete und pulsierte. Sie hielt ihn hoch und die Magie des alten Drachenfürsten Orad tauchte die ganze Umgebung meilenweit in rotes Licht. Alle, die darin badeten, fühlten sich augenblicklich bärenstark, verjüngt und energiegeladen.
Nebel und Kälte waren verschwunden, die Sonne schien und tauchte die Stadt in bunte Farben. Die Menschen unterhielten sich aufgeregt. Der Marktplatz füllte sich mit Leben. Erst spät am Abend, als sich alle wieder ein wenig beruhigt hatten, begann Dora zu sprechen. Die ganze Nacht lang lauschten die Bewohner von Draghausen der Geschichte über die Geheimnisse ihrer Stadt.
Großmutter Mond gefiel das sehr. Draghausen und seine Bewohner waren gerettet und Dora Drachenherz würde auch alle anderen Städte, die der böse Zauberer ergrauen lassen hatte in neuen Farben erstrahlen lassen. Darum mußte sich die Mondin nun keine Sorgen mehr machen. Sie war auch ganz sicher, daß Menschen und Drachen sich nun bald wieder versöhnen und von neuem Freundschaft schließen würden. Naja, zumindest einige. Und so machte sich die alte Göttin der Nacht bereit für ihre nächste Aufgabe.
Aus dem Hintereingang des Draghausener Rathauses schlich eine gekrümmte, graue Gestalt. Großmutter Mond hüllte sie in gütiges Licht und begleitete sie, als sie die Stadt hinter sich ließ und einsam die Landstraße entlang wanderte. Sie liebte Graufried, wie alle Großmütter ihre Enkel lieben, auch wenn diese manchmal Dinge tun, die ihr nicht gefallen.