Die Halo-Clique 4 - Der fünfte Roman
Klappentext:
"Moritz hat neben der Schule einen Aushilfsjob bei einem Antiquar angenommen. Als er Bücher einsortiert, macht er eine sensationelle Entdeckung. Auch seine Freunde sind hellauf begeistert. Doch als Lena etwas Seltsames beobachtet, wird ihr Argwohn geweckt. Auch wenn der Rest der Halo-Clique zuerst noch zögert, sind die Vier bald einem äußerst clever ausgeführten Verbrechen auf der Spur."
Kapitel 1 - Aufregung bei Moritz' Job
Die Türglocke klingelte, und der Postbote betrat die Buchhandlung ‚Andresen‘. Er trug zwei Pakete übereinandergestapelt vor sich her und sah kaum, wo er hintrat.
Der quadratische Raum, so lang und breit wie zwei hintereinandergestellte Autos, erhielt durch das große Schaufenster viel Licht. Die Regale an den senfgelb gestrichenen Wänden waren nur teilweise bestückt. Ein grauer Teppich bedeckte den Boden.
„Warten Sie!“, rief Moritz, sprang die kleine Trittleiter herunter und lief zur Tür. Er griff das obere, kleinere Paket und stellte es am Rand des Tresens neben der Kasse ab.
Der Beamte hievte die zweite Sendung, die deutlich schwerer zu sein schien, daneben. „Danke. Bekommt dein Chef die gesamte Ausstattung per Post?“, fragte er keuchend, nahm für einen Moment die blaugelbe Mütze ab und wischte sich über die Stirn.
„Nee“, antwortete Moritz. „Die meisten Bücher sind schon hier. Aber gelegentlich findet Herr Andresen antiquarische Werke bei Haushaltsauflösungen oder auf Flohmärkten. Manches davon kommt dann eben per Post.“
Der Beamte zog das Auftragsbuch aus der inneren Tasche seiner Uniformjacke heraus und klappte es auf. Er blätterte einige Seiten um. „Würdest du mir den Erhalt bitte quittieren?“
Moritz nahm den ihm hingehaltenen Kugelschreiber und unterzeichnete. Der Postbote grüßte und verließ das Geschäft wieder.
Moritz kramte in einer Schublade unter dem Tresen und öffnete mit der Schere das große Paket. Es enthielt ein gutes Dutzend sauber und einzeln in Polsterfolie eingepackte Bücher von Taschenbuch- bis Atlantengröße. Moritz nahm jedes Exemplar in die Hand, vermerkte Autor, Titel, Erscheinungsjahr und eine grobe Qualitätseinstufung auf einer Liste. Wenn er glaubte, durch das Inhaltsverzeichnis oder falls eine kurze Zusammenfassung vorlag, einschätzen zu können, in welche Kategorie das Buch einzusortieren war, notierte er auch dies. Als er fertig war, legte er alles für seinen Chef zur Durchsicht beiseite und wandte sich dem kleineren Paket zu.
Doch als er das erste Buch ausgepackt hatte, wunderte er sich. „Kein Titel?“
Es war daumendick, hatte einen kostbar aussehenden, schwarzen Ledereinband mit je einer Schnur auf Vorder- und Rückseite zum Zubinden und wies die Größe zweier Postkarten auf. Moritz blätterte es vorsichtig durch, doch sämtliche Seiten waren unbeschrieben. Auch ein Erscheinungsjahr fehlte. Doch das, fand Moritz, war bei leeren Seiten auch irgendwie folgerichtig. Neugierig nahm er sich die anderen Bücher des Pakets vor. Sie waren identisch zu dem ersten: unbeschrieben und mit Schnüren versehen.
Da öffnete sich die Tür zum Geschäft, und der Ladeninhaber kam von seinen Besorgungen zurück.
„Hallo, Herr Andresen“, grüßte Moritz seinen Chef.
Der Mittvierziger mit dem leicht ergrauten, kurzgeschnittenen Haar lächelte freundlich. „Hallo, Moritz. Ich sehe, du kommst gut voran. Dann sollten wir den Eröffnungstermin nächste Woche einhalten können.“
Moritz nickte stolz. „Bestimmt. „Ungefähr die Hälfte der Bücher sind bereits gelistet und charakterisiert, die Regale entsprechend bestückt. Gerade kamen noch ein paar per Post. Nur...“ Er hob eins der leeren Bücher hoch. „Wo soll ich dies hinräumen?“
Andresen trat zum Kassenbereich. „Ach, das. Ich dachte, die Tagebücher kämen erst morgen, wenn ich selbst im Laden bin.“
„Tagebücher?“, wunderte sich Moritz. „Da steht doch überhaupt nichts drin.“
Andresens Lächeln wurde ein wenig verbissen, als er ausführte: „Nun, die sind für mich. Erzähle es bitte nicht weiter, aber ich schreibe gerne abends meine Gedanken auf.“
„Ah, ich verstehe. Und weil sie Antiquar sind, möchten Sie dafür keine modernen Hefte oder Tagebücher verwenden. Diese hier sind alt, oder?“
Andresen legte das Buch zurück in die Kiste. „Das stimmt. Ich habe sie kürzlich auf einem Dachboden gefunden, den ich entrümpeln sollte.“
„Weiß man, aus welchem Jahr sie stammen?“, fragte Moritz neugierig.
„Aus den 1920ern.“
„Wow!“, entfuhr es dem Jungen, der sofort an seine Freundin dachte. „Könnte ich Ihnen vielleicht eins dieser leeren Tagebücher abkaufen?“, fragte er spontan.
Andresen zögerte, nickte dann aber. „Nimm dir ruhig eins. Die 10 Mark, die es wert ist, verrechne ich mit deinem Lohn, wenn es dir recht ist?“
„Klasse!“, freute sich Moritz und nahm das ausgepackte Buch wieder an sich.
Das ist ein tolles Geschenk für Lena, dachte er.
Andresen ging Moritz' Liste durch und änderte die ein oder andere Qualitätseinstufung. Er blätterte in verschiedenen Katalogen und schrieb danach Preise hinter die einzelnen Bücher. Dann verschwand er mit dem Tagebücherpaket in seinem Büro im hinteren Teil des Erdgeschosses.
Moritz widmete sich wieder seiner Arbeit, und er kam gut voran. Die thematisch sortierten Regale füllten sich weiter.
***
Wieder läutete die Türglocke, und eine helle Mädchenstimme erklang. „Hi, Moritz!“, rief Lena und kam in den Laden. „Ganz alleine heute?“
Moritz, der hinter dem Tresen gesessen und einen Stapel alter Comics katalogisiert hatte, blickte auf. Als er seine Freundin sah, überzog ein Lächeln sein Gesicht. Er sprang auf und schloss sie kurz in seine Arme. „Hi!“
Lena lehnte für einen Moment ihren Kopf an seine Schulter.
„Herr Andresen ist wieder unterwegs. Er findet gerade eine Menge neuer Dinge“, erklärte Moritz.
Lena blickte sich im Verkaufsraum um. „Du hast ja schon eine ganze Menge hier bestückt. Was willst du eigentlich die nächsten zwei Wochen dann noch tun? Fällt soviel an, wenn das Geschäft erst einmal eröffnet ist?“
Moritz zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Aber wenn Andresen mir drei Wochen lang die vier Stunden täglich bezahlt, soll es mir recht sein. Und wenn nichts zu tun ist, lese ich eben Comics während der Arbeitszeit.“
Er beugte sich über die Holzplatte des Verkaufstresens und zog das zurückgelegte Tagebuch hervor. „Lena, ich habe ein kleines Geschenk für dich.“
Die Augen des Mädchens begannen zu leuchten, als sie das alte Buch sah und es aufschlug. „Wow! Da traut man sich ja gar nicht, etwas reinzuschreiben.“ Sie küsste Moritz auf die Wange. „Danke. - Brauchst du noch lange?“
„Nur noch diesen Stapel hier. Vielleicht zehn Minuten. Wenn du willst, schau dich noch ein wenig um. Herrn Andresen ist es ja recht.“
Lena trat zu dem Regal, welches dem Thema ‚mittelalterliche Schriften‘ gewidmet war. Vorsichtig zog sie das ein oder andere Werk hervor, blätterte hindurch oder schaute sich Zeichnungen von Rüstungen, Lanzen oder Minnesängern an. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie zwei Autos vor dem Laden hielten. Eigentlich wollte sie sich nicht ablenken lassen, denn die Zeichnungen in den Büchern gefielen ihr, doch dann bemerkte sie, dass auf einem der Autos Lichter rotierten.
Ein Polizeifahrzeug!
Zwei uniformierte Beamte stiegen aus. Zusammen mit den beiden zivil gekleideten Männern aus dem dunkelblauen Wagen, der direkt vor dem Schaufenster gehalten hatte, liefen sie zum Eingang.
„Moritz, ich glaube, da...“
Sie beendete ihren Satz nicht, denn die Tür öffnete sich in diesem Moment.
Die beiden Zivilgekleideten traten ein. „Ich bin Kriminalhauptkommissar Haller, dies ist mein Kollege Oberkommissar Böttcher. Wo ist Herr Andresen?“, fragte ein dürrer Mann mit beigefarbenem Jackett. Hinter ihm kamen nun auch die Uniformierten herein.
Moritz war aufgesprungen. „Äh, der Chef ist unterwegs. Er wollte...“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „...in knapp einer halben Stunde, gegen 18:30 Uhr wieder zurück sein. - Kann ich Ihnen helfen?“
„Wir haben einen Haussuchungsbeschluss“, informierte der Hauptkommissar, ging aber nicht näher auf die ihm gestellte Frage ein. „Du arbeitest hier?“
Moritz nickte. „Aushilfsweise am Nachmittag.“
„Gut, dann zeige meinen Kollegen bitte alle Bereiche, welche zum Geschäft gehören. Inklusive Keller-, Lager- und sonstiger Räume.“
Er wandte sich an Lena. „Arbeitest du auch hier?“
Die 14‑jährige schüttelte ein wenig eingeschüchtert den Kopf.
„Dann verlasse bitte die Räumlichkeiten.“
Nach einem kurzen Blick zu Moritz, der mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck entschuldigend die Schultern hob, hatte er doch auch keine Ahnung, worum es hier ging, lief Lena hinaus und über den kleinen Parkplatz, den sich Andresen mit drei weiteren Geschäften - einer Bäckerei, einem Waschsalon sowie einer Fleischerei - teilte. Moritz sah, wie seine Freundin sich auf die niedrige Steinmauer hockte und aufgeregt herüber schaute.
Dann zeigte er den Polizisten, was sie sehen wollten: im Erdgeschoss den Verkaufsraum, Andresens Büro, das allerdings abgeschlossen war, ein kleines Zimmer, das als provisorisches Zwischenlager und Pausenraum diente, sowie das Hauptlager im Keller.
Als er mit Böttcher die Treppe nach unten stieg, fragte Moritz: „Worum geht es denn eigentlich?“
Der Oberkommissar blickte ihn streng an. „Das werden wir Herrn Andresen mitteilen, wenn er zurück ist.“
***
Etwa vierzig Minuten später kam Moritz aus der Buchhandlung gerannt.
Lena sprang vom Mäuerchen auf. „Was war?“, fragte sie ganz aufgeregt und lief ihm entgegen.
„Du, der Andresen soll ein super teures, altes Buch, von dem er wusste, dass es gestohlen war, angekauft haben“, erklärte Moritz. „Die Polizei hat wohl einen anonymen Tipp bekommen, soweit ich das belauschen konnte. Die durchsuchen jetzt alles hier und auch oben in Andresens Wohnung.“
„Hehlerei? Das ist ja ein starkes Stück“, erwiderte Lena. Und jetzt? Ist dein Job nun beendet? Ich meine, bist du entlassen und das Geschäft geschlossen?“
Moritz schüttelte den Kopf. „Nee, Andresen meinte, das wäre bloß ein Irrtum, der sich schnell aufklären würde. Für mich liefe alles wie gehabt weiter.“
Lena schaute skeptisch. „Und wenn er wirklich ein Hehler ist?“
Moritz winkte ab. „Also unter den Büchern, die ich einsortiert habe, war das gesuchte nicht dabei, zumindest steht der Titel ‚Das Beet der Verheißung‘ nicht auf meinen Listen. Außerdem - ein anonymer Hinweis. Ob so etwas glaubwürdig ist?“
„Stimmt auch wieder. Und es war ja kein Kapitalverbrechen. Man kann ja nicht jedem, der einer Straftat beschuldigt wird, gleich die Freundschaft entziehen.“
Moritz lachte. „Oder hier besser: die Arbeitskraft. - Komm, die anderen warten ja schon eine ganze Weile.“
Kapitel 2 - Ein sensationeller Fund
„Moritz, hast du die Probe nun endlich fertig gemischt?“, fragte Yvonne am folgenden Morgen im Chemieunterricht in der dritten und vierten Stunde ihren Laborpartner. Sie klang ungeduldig.
Der Junge nickte und zog ein wenig der nun lehmfarbenen Flüssigkeit durch die dünne Kanüle der Spritze auf. Er beugte sich nach vorne und senkte die Metallspitze langsam auf das große Papier ab, ohne es jedoch zu berühren. Mit leichtem Druck auf den Stempel trug er in einem Abstand von jeweils einem Zentimeter drei verschieden große Tropfen auf. Anschließend reichte er die Spritze an Yvonne weiter. Auch sie applizierte drei Probenvolumina knapp oberhalb der hauchdünnen Bleistiftlinie, die zwei Fingerbreit vom unteren Rand des Blatts entfernt horizontal verlief.
Aus dem Bodenschrank hoben die beiden dann zusammen vorsichtig eine der schweren, aus Glas bestehenden Chromatographiekammern heraus und stellten sie auf den großen Experimentiertisch vor der Tafel ab. Auch die anderen Schüler waren, in Zweier- oder Dreiergruppen aufgeteilt, dabei, ihren Versuch aufzubauen.
Moritz begann, langsam Wasser in den hochkant stehenden, quaderförmigen Behälter zu gießen. Yvonne kauerte in der Hocke und starrte auf den untersten Markierungsstrich. Die genaue Wassermenge war nicht so wichtig, aber die Proben sollten auf keinen Fall eintauchen.
„Stopp!“, rief sie, als die Flüssigkeit auf die gewünschte Höhe gestiegen war. „Was machen die Proben?“
Moritz stellte den Wasserbehälter wieder ab und wandte den Kopf zur Seite. „Sind fast eingetrocknet. Sollen wir mit Pusten nachhelfen?“
Yvonne verdrehte die Augen. „Und deine riesigen Placken noch größer machen? Dann kannst du überhaupt keine Rf‑Werte mehr bestimmen.“
Moritz grinste.
Nach drei weiteren Minuten war es soweit. Das Experiment konnte starten. Yvonne spannte die Oberkante des Papiers in den Plastikhalter ein. Dann senkte sie das Blatt langsam in die Kammer und achtete sorgfältig darauf, nicht die Wände zu berühren. Schließlich saß der Halter auf der Oberkante des Glases auf, während das untere Papierende in das Wasser eintauchte.
Nun hieß es warten.
„Wie lange wird das dauern?“, fragte Moritz, doch bevor Yvonne antworten konnte, klatschte die Chemielehrerin Frau Klicker in die Hände, und die Schüler der 10n begaben sich zurück auf ihre Plätze.
Der Chemiesaal des Konrad-Zuse-Gymnasiums war gebaut wie ein Universitätshörsaal mit ansteigenden Sitzreihen, vor denen Klapptische angebracht waren. Die Fenster waren geschlossen und die Rollläden halb heruntergelassen, um das Sonnenlicht abzumildern.
„Die nächsten Minuten können wir das Analyseprinzip noch einmal durchgehen. Das wird für die anstehende Klassenarbeit relevant sein“, verkündete die Lehrerin und ging zur grünen Tafel.
„Yvonne, zwei Sätze zum Thema ‚mobile Phase‘“, forderte sie die Schülerin auf, die wie immer neben Moritz vorne rechts ganz unten saß.
„Wir nutzen Wasser, das über Kapillarkräfte das Papier emporsteigt und die Probe sozusagen mitnimmt, was aber ein Zusammenspiel der Bindung zwischen Stoff und Wasser sowie...“
Sie wurde unterbrochen. „Klaus, ‚stationäre Phase‘. Spontane Antwort!“
„Ähm, die stationäre Phase ist...“ Sein Sitznachbar flüsterte ihm etwas ins Ohr. „...Papier. Die Lebensmittelfarben, die wir gemischt haben, werden vom Papier zurückgehalten.“
„Gut. Stefan weiß es also, vielleicht merkst du es dir dann auch. - Moritz, wie nennt man das Prinzip?“
„Adsorptionschromatographie. Es bilden sich temporäre Bindungen der Farbstoffe mit dem Papier sowie mit dem Wasser aus. Und wer stärker ist, gewinnt den Kampf, der auf jedem Millimeter Steighöhe immer wieder von Neuem ausgefochten wird.“
„Eva, sag uns bitte etwas zum Rf-Wert!“
Ein Mädchen in der obersten Reihe antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Rf‑Wert, das Verhältnis von Laufstrecke der Probe zur Strecke der Lauffront der mobilen Phase. Ein Wert, der charakteristisch für eine Substanz in einem bestimmten System ist.“
Auch die weiteren Antworten gefielen Frau Klicker. Sie nickte zufrieden.
„So, ich glaube, unser Experiment ist beendet. Ihr könnt nun an die Auswertung gehen.“
Die Schüler standen wieder auf und liefen hinunter zu dem breiten, mit dunkelroten ziegelsteinähnlichen Fliesen überzogenen Experimentiertisch.
Moritz nahm vorsichtig den Plastikhalter und das Papier heraus. Auch er vermied eine Berührung der Wände. Er legte das bis gut zur Hälfte feuchte Blatt auf die Glasplatte neben der Kammer. Das Gemisch der drei Lebensmittelfarben hatte sich ausreichend aufgetrennt. Drei deutlich sichtbare, wenn auch verwaschene Flecken unterschiedlicher Farbe waren auf verschiedenen Höhen zu sehen.
Yvonne nahm das Lineal und maß die Laufstrecke des Wassers.
„14,1 cm Lauffront“, sagte sie, und Moritz notierte den Wert. Dann wandte sie sich ihrer ersten Probe zu. „Y1 - Gelb - 4,7 cm.“
Nach und nach maßen sie alle Proben durch, bis schließlich jeder neun Werte ermittelt hatte. Die Hausaufgabe bestand nun darin, gemittelte Rf-Werte jeder Farbbande zu bestimmen und herauszufinden, welche Lebensmittelfarben sie zu Beginn des Versuchs gemischt hatten.
Frau Klicker bat noch einmal um Aufmerksamkeit. „Nächste Woche machen wir dann unter dem Abzug einen Versuch mit einer eher unpolaren mobilen Phase.“
Dann spülten die Schüler ihre Apparate aus und verstauten sie wieder in den Schränken. Es gongte zum Ende der Stunde. Unter Murren mussten einige einen Teil der Pause für den Abbau opfern, da sie während des Unterrichts getrödelt hatten. Moritz und Yvonne aber waren pünktlich fertig, liefen hinunter auf den Schulhof und warteten auf ihre Freunde aus der 10a.
***
Am Nachmittag öffnete Moritz ein weiteres Postpaket, das aus dem benachbarten Bundesland kam. Moritz warf das Stroh, das zwischen den in Zeitungspapier eingewickelten Büchern lag, in den Abfallkorb und notierte wieder jedes Exemplar.
Ein ledereingebundenes Buch mit dem Titel ‚Das Auge der Unterwelt‘ weckte besonders seine Neugier. Die Seiten waren mit dunkelblauer Tinte handbeschrieben, auf der ersten prangte groß ‚Rohfassung‘. Als Moritz die beiden Zeilen darunter las, stockte ihm der Atem.
Es war ein ‚Sherlock Holmes‘-Roman von Arthur Conan Doyle. Groß stand dahinter: ‚Zweiter Entwurf des fünften Romans, März 1913‘.
Es gibt doch nur vier Romane von Holmes, dachte Moritz. Und einen Haufen Kurzgeschichten. Das ist verrückt! Noch einer!
„Herr Andresen!“, rief er laut. Er schob seinen Stuhl zurück und lief rasch nach hinten.
Die Tür zum Büro stand offen. Der Ladenbesitzer saß an seinem Schreibtisch und verfasste gerade einen Brief. Das Geklapper der Schreibmaschine stoppte, als Moritz hereinplatzte.
„Was gibt es?“, fragte Andresen.
„Hier! Schauen Sie mal!“ Er reichte ihm das Buch.
Andresen nahm es ohne sonderliche Eile. Sein Gesicht zeigte nur mildes Interesse. Er glaubte offensichtlich nicht, dass Moritz etwas Außergewöhnliches gefunden haben konnte. Doch als er ein paar Seiten überflogen hatte, wandelte sich seine Haltung. Aufregung erfasste auch ihn.
„Wo hast du das her?“
„Heute Morgen kam doch das Paket aus Breulingen an. Ich bin erst jetzt dazu gekommen, es aufzumachen. Und da lag dieses Buch drin.“
„Breulingen?“, murmelte Andresen, zog einen Aktenordner aus dem Regal in seinem Rücken und schlug ihn an der Registerkarte für ‚B‘ auf. „Ah, hier haben wir es. Das war vor 10 Tagen. Ein Flohmarkt. Ich habe...“ Rasch überflog er den Text. „...damals zwei Kisten Bücher unbesehen angekauft, war aber auf der Durchreise per Bahn.“
Er packte den Ordner zurück. „Ein fünfter Holmes-Roman! Das wäre eine Sensation. Und dann handschriftlich!“
„Wieviel ist der wert?“
Andresen dachte einen Moment nach. „Ohne Zertifikat nur wenig. Aber wenn die Analyse bestätigen sollte, dass es wirklich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasst worden ist, dann würde der Wert in den 5‑stelligen Bereich gehen.“
„Wollen Sie es einem Museum überlassen?“
Andresen runzelte die Stirn. „Junge, ich bin Geschäftsmann. Ich werde das Buch natürlich verkaufen. Und wenn ich herausfinden kann, wer mir dies auf dem Flohmarkt so günstig überlassen hat - derjenige wusste offenbar nicht, welchen Schatz er besaß -, wird auch der Vorbesitzer einen gerechten Anteil bekommen.“
„Und jetzt?“, wollte Moritz wissen. „Wie geht es jetzt weiter mit dem Buch?“
Andresen klappte den Romanentwurf auf der Übersichtsseite auf, nahm den Photoapparat und schoss ein paar Bilder. Dann öffnete er die Schreibtischschublade und kramte ein wenig darin herum, bis er ein schmales Etui und eine durchsichtige Plastiktüte mit Zipverschluss gefunden hatte.
„Wir müssen eine Papier- und Tintenprobe für die Altersbestimmung einschicken“, erklärte der Buchhändler. „Das mache ich immer so, auch wenn es leider einen Teil der Seite zerstört. - Hältst du bitte das Buch offen?“
Moritz legte vorsichtig einen Zeigefinger auf den linken, einen auf den rechten Buchteil. Fast andächtig starrte er auf die gelblichen Seiten. Sollte er wirklich gerade ein Buch berühren, das der berühmte Schriftsteller in den Händen gehalten hatte? Seine Freunde würden Augen machen!
Andresen nahm die feine Pinzette aus dem Etui und schnitt mit der ebenfalls daraus hervorgezogenen scharfen Schere ein kleines Stück vom Wort ‚Rohfassung‘ ab. Den herausgetrennten Fetzen steckte er in die Tüte und verschloss sie.
„Das muss zum Gutachter. Wärst du so freundlich, schnell zur Post zu laufen? Bitte per Express verschicken, ja?“
Moritz wartete, bis sein Chef einen Umschlag beschriftet und die Probe eingetütet hatte. Dann lief er hinaus, sprang auf sein Fahrrad und radelte in hohem Tempo die breite Straße hinab zur Postfiliale, die nur etwa einen Kilometer entfernt lag. Der Brief war schnell aufgegeben und würde definitiv am Folgetag am Ziel eintreffen. Moritz nahm den Einlieferungsbeleg entgegen und fuhr zurück.
Im Laden hörte er, wie Andresen in seinem Büro eine Reihe an Telefonaten tätigte.
Wahrscheinlich ruft er schonmal potenzielle Kunden an, vermutete Moritz.
Dann kümmerte er sich wieder um die noch nicht eingeräumten Bücher. Nach und nach sortierte er die Bände in die diversen Themengebiete ein.
Doch plötzlich stutzte er. Ein Buch fühlte sich seltsam an. Irgendwie dünn. Und als er es aufschlug, stutzte er ein zweites Mal.
Dem Buch fehlten einige Seiten! Sie waren vollständig herausgerissen worden.
„Häh?“, entfuhr es Moritz. Erstaunt kratzte er sich am Kopf, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dies irgendwo notiert zu haben.
Rasch blätterte er durch seine Listen, bis er den Eintrag ‚Erzählungen. Zeiler, Fritz. 1911‘ gefunden hatte. Das Buch war als qualitativ hochwertig vermerkt worden. Und bis auf die herausgerissenen Seiten stimmte dies auch. Der Einband war unbeschädigt, Eselsohren gab es keine. Und die dunkelblaue Schrift war so gut wie nicht verblasst.
Moritz wunderte sich, dass er so einen Schnitzer begangen hatte. Rasch strich er seine Einstufung durch und schrieb ‚zerstört‘ dahinter. Das Buch verstaute er in der Ausschusskiste in der Ecke.
Dann sortierte er weiter.
***
Es war kurz nach halb sechs Uhr abends, als sich Lena auf ihrem Rad der Kreuzung zur Bahnhofstraße näherte, in der Andresens Geschäft lag.
Der Himmel war wolkenverhangen, das Licht sehr spärlich. Die weit überhängenden Äste der Bäume mit ihrem dichten Laubkleid konnten einen glauben lassen, es wäre bereits Nacht.
Beim Näherradeln erkannte Lena den Antiquar, der sich auf dem Bürgersteig ebenfalls der Kreuzung näherte. Er wandte Lena den Rücken zu, schaute sich nun aber über die Schulter um. Dann ging sein Blick in die andere Richtung, und Lena hatte den Eindruck, er wollte sich vergewissern, dass ihn niemand beobachtete. Offensichtlich konnte er Lena, die gerade den nächsten Baum unterquerte, nicht sehen.
Andresen öffnete die kleine Gartenpforte eines Grundstücks und ging hinein. Lena legte einen Zahn zu. Auf Höhe des Gartentors sprang sie vom Rad und lief über die Straße. Vorsichtig schob sie den Kopf an der Hecke vorbei und blickte in den Garten. Sie sah, wie Andresen sich elastische, gelbe Handschuhe anzog, und dann die Tür eines Wohnwagens aufsperrte, der direkt an der Hecke des Vorgartens, nur einen halben Meter vom Bürgersteig entfernt, parkte. Andresen verschwand in dem weißen Gefährt. Sekunden später drang ein schwacher Lichtschimmer aus den mit Gardinen verhangenen Fenstern.
„Was macht der da so heimlich?“, flüsterte Lena leise.
Doch sie traute sich nicht, ebenfalls das Grundstück zu betreten und näher an den Wohnwagen heranzugehen. Hereinschauen konnte sie ohnehin nicht. Und falls Andresen herauskam und entdeckte, wie sie ihm nachschlich, würde das bestimmt Auswirkungen auf sein Verhältnis zu Moritz haben. So beschloss das Mädchen, das zu tun, weswegen sie ursprünglich hergekommen war. Sie lief zurück zu ihrem Rad und fuhr zum Antiquitätengeschäft.
Moritz hatte seine Arbeit bereits beendet und saß neben Yvonne und Christian auf der Mauer, die den Parkplatz umzäunte.
„Sorry, Leute!“, grüßte Lena außer Atem, war sie doch hierher gerast. „Aber ich hab was Seltsames beobachtet.“ Sie erzählte in knappen Sätzen.
„Was findest du daran seltsam?“, fragte Christian, der neben Yvonne saß und einen Arm um die Schulter seiner Freundin gelegt hatte.
„Na, ich hatte halt den Eindruck, Andresen wollte nicht gesehen werden“, erklärte Lena. „Die Durchsuchung durch die Polizei, dieses Verhalten, die Gummihandschuhe. Also, ich finde das merkwürdig.“
Christian schüttelte den Kopf. „Mich überzeugt das nicht. Ich sehe weit und breit kein Verbrechen.“
Lena gab für den Moment nach. „Stimmt schon.“ Sie wandte sich an ihren Freund. „Warum grinst du so penetrant?“
Moritz erzählte nun seinerseits von dem sensationellen Fund eines fünften Sherlock-Holmes-Romans. Die anderen waren hellauf begeistert.
„Den würde ich super gerne sehen“, rief Lena. „Meinst du, dein Chef lässt uns mal einen Blick hineinwerfen?“
Moritz schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Er hat heute den Geschäftsmann raushängen lassen. So ein richtiger Bücherliebhaber ist er wohl doch nicht. Er sieht da nur ein bombiges Geschäft für sich.“
„Was kam denn bei der Durchsuchung raus?“, fragte Yvonne.
Moritz sprang von der Mauer. „Nichts. Die Polizei hat nichts gefunden. Aber das können wir auch später besprechen. Lasst uns ins Kino fahren.“
Kapitel 3 - Ein lukratives Geschäft
Andächtig klappte der alte Herr das Buch zu. Das Haar des Kunden war fast weiß, seine Haltung ein wenig gebeugt. Er hatte die 70 weit überschritten. Doch seine Augen funkelten unternehmungslustig, und seine Stimme klang energisch, als er verkündete: „Ich kaufe es. Der Preis ist in Ordnung.“
Er zog ein Scheckheft aus der Tasche seiner weißen Anzugsjacke, ebenso einen teuer aussehenden, silbernen Füllfederhalter mit Gravur. Als Moritz sah, welche Summe der Kunde eintrug, blieb ihm der Atem weg.
17.000 Mark!, dachte er entgeistert. Für ein Sherlock-Holmes-Buch. Oder nein, nur für den Entwurf eines Romans. Das ist doch verrückt!
Andresen nahm den Scheck lächelnd entgegen, faltete ihn einmal und schob ihn in die Innentasche seines grauen Sakkos. „Vielen Dank, Herr von Ortmann. Es ist mir eine Freude, mit Ihnen ins Geschäft zu kommen.“
Moritz legte das verkaufte Buch vorsichtig in eine samtgepolsterte Schatulle, welche von Ortmann mitgebracht hatte. In das kleine Seitenfach daneben steckte er das Alterszertifikat, das am Vortag vom Institut für Analytische Chemie der Universität eingetroffen war. Moritz klappte den Glasdeckel der Schatulle zu und breitete die äußere Samtabdeckung darüber. Dann reichte er die edle Holzschachtel über den Tresen. Er behandelte sie unbewusst, als lägen rohe Eier darin.
Moritz überlegte, ob er den Kunden vielleicht einfach rundheraus fragen sollte. Und dies schien Herr von Ortmann zu bemerken.
„Was hast du auf dem Herzen, mein Junge?“
„Nun“, begann Moritz zögerlich. „Also, meine Freunde und ich würden uns dieses Buch unheimlich gerne mal näher anschauen. Dürfen wir Sie eventuell mal besuchen?“
„Herr von Ortmann“, mischte sich Andresen ein, dem dieses Ansinnen offensichtlich unangenehm war. „Bitte entschuldigen Sie den Übereifer der Jugend. Mein Angestellter...“
Von Ortmann lächelte gütig und winkte ab. „Aber Herr Andresen, ich freue mich über diesen Eifer, die alte Literatur kennenlernen zu wollen.“ Er wandte sich an Moritz. „Wie viele seid ihr denn?“
„Vier, mit mir zusammen.“
„Gut, dann kommt heute Abend um 19:30 Uhr. Dann habe ich eine Stunde Zeit für euch.“
Moritz' Gesicht überzog ein strahlendes Lächeln. Er dankte überschwänglich, und wappnete sich innerlich für ein Donnerwetter seines Chefs, als der Kunde den Laden verließ.
Die Glocke war noch nicht ganz verhallt, als es auch kam.
„Das nächste Mal sprich so etwas bitte mit mir ab“, sagte Andresen. In seiner Stimme schwang Ärger mit. „Nicht jeder Kunde reagiert so wohlwollend. Und ein Geschäft über 17.000 Mark möchte ich mir nicht von dir vermasseln lassen. Ist das klar?“
Moritz nickte. „Natürlich, Herr Andresen. Es tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen. Aber das Finden des Buches war einfach ein Hammer.“
„Nun gut. - Ich bringe den Scheck zur Bank“, erwiderte Andresen und verließ das Geschäft durch den Vordereingang.
Moritz rief sofort bei Lena an und informierte sie über die Einladung. Danach kümmerte er sich um seine Arbeit. Wieder vergaß er die Zeit. Er bemerkte nur am Rande, wie Andresen zurückkam. Erst als seine Freundin den Kopf durch die Tür steckte, realisierte er, dass es bereits nach 18 Uhr war. Rasch verabschiedete er sich von seinem Chef, der ihm freundlich zunickte und die Verärgerung vom Mittag vergessen zu haben schien. Moritz atmete erleichtert auf.
„Weiß jemand, wo die Albertinen-Allee ist?“, fragte er, als er auf den Parkplatz kam.
„Klar“, antwortete Christian und zog einen Stadtplan aus der Satteltasche seines Rennrads. „Wir sind vorbereitet. Außerdem hat Lena deine Kamera mitgebracht.“
„Warum das denn?“, wunderte sich Moritz.
„Ich würde das Buch gerne photographieren. Oder glaubst du, das fällt negativ auf dich zurück? Andresen war es ja schon nicht wirklich recht, dass du von Ortmann überhaupt gefragt hast.“
Moritz winkte ab. „Warum sollte es? Unser Besuch hat doch nichts mit Andresen zu tun. Ich weiß eh nicht, warum der so komisch reagiert hat. - Also, wollen wir los?“
Christian fuhr der kleinen Gruppe voran. Er hatte sich den Weg eingeprägt. Nach zwanzig Minuten erreichten sie eine noble Gegend, in welcher die Grundstücke groß und die Häuser schon eher als Villen zu bezeichnen waren. Auch von Ortmann wohnte in einem prachtvollen, zweistöckigen Gebäude, das hinter einem großen, sorgsam gepflegten Vorgarten lag.
Christian klingelte, und fast hatten sie erwartet, dass sich ein Butler melden würde, aber Herr von Ortmanns Stimme drang durch die Gegensprechanlage. Kurz darauf summte es, und das schmiedeeiserne Einfahrtstor mit den gefährlich spitzen Zacken öffnete sich automatisch.
Die vier radelten die gepflasterte Auffahrt bis zur hellgrau gestrichenen Villa, wo sie ihre Fahrräder auf dem Kies neben dem Eingangsportal abstellten. Noch bevor sie erneut klingeln konnten, hatte der Hausherr bereits geöffnet. Er musste sie durch das kleine, vergitterte Fenster der Tür gesehen haben.
Moritz stellte seine Begleiter vor. „Das ist meine Freundin Lena. Und das sind Christian und unsere Chefin Yvonne.“ Er grinste, als er auf die Älteste der Halo-Clique wies.
„Na, dann kommt mal herein“, bat von Ortmann und ging voran ins Wohnzimmer.
Dunkles, edles Holz dominierte die Einrichtung. Es war sehr warm, denn im Kamin glommen ein paar Scheite. Die Schatulle mit dem Holmes-Buch lag auf dem schweren Esstisch. Das äußere Samttuch war zurückgeschlagen.
„Wow!“, entfuhr es Yvonne. Sie war begeistert, genau wie Lena und Christian auch. „Das sieht wirklich edel aus. Haben Sie schon darin gelesen?“
Von Ortmann nickte. „Das erste Kapitel.“
„Und worum geht es?“, wollte Lena aufgeregt wissen. Man sah ihr an, dass sie die Glasabdeckung am liebsten weggenommen und selbst in dem Buch geschmökert hätte.
„Nun, junge Dame, das kam bis jetzt noch nicht vollständig heraus. In der Geschichte ist es Nacht. Gerade läuft eine adlige Dame durch die Gassen einer Kleinstadt. Sie scheint verwirrt zu sein. Aber woher sie kommt, wo ihr Ziel liegt, warum sie überhaupt unterwegs ist - das ist noch völlig unklar.“
Er sah die Begeisterung in Lenas Augen und lächelte breit. „Ich hätte dir ja gerne angeboten, das Buch hier zu lesen, aber ich muss gleich zu einem Termin.“ Er pausierte für einen Moment und schien nachzudenken.
„Doch...“ Dann blickte er sich um. „...ihr könntet das Buch abphotographieren. Wartet, ich hole nur schnell meinen Apparat. Für ein paar Seiten wird der Film noch reichen.“
„Oh, das ist nicht nötig“, sprudelte es aus Lena heraus. Sie warf einen triumphierenden Blick zu ihren Freunden. An ein solches Angebot hatte sie zwar nicht gedacht, denn sie selbst hätte nur gefragt, ob sie den Einband ablichten dürfe. Aber dass sie die Kamera mitgebracht hatte, war nun ein Segen. Und da Moritz immer einen zweiten, leeren Film in der Kameratasche mitführte, würde es vielleicht sogar für das ganze Buch reichen.
Auf ein Nicken des Hausherrn öffnete Lena vorsichtig den Glasdeckel und nahm das Buch heraus. Sie blätterte zum ersten Kapitel und drückte die beiden Seiten nach unten. Moritz nahm die Kamera und suchte den richtigen Abstand, um die Schrift möglichst großformatig ablichten zu können. Auf das Blitzlicht verzichtete er, denn dessen Intensität konnte dem Buch vielleicht schaden. Außerdem war es im Raum hell genug, um die Schrift auch durch den Sucher gut erkennen zu können.
Währenddessen unterhielten sich Yvonne und Christian mit Herrn von Ortmann.
„17.000 Mark, das ist ein hoher Preis“, sagte Yvonne.
Von Ortmann nickte. „Ist es, ohne Zweifel. Aber wenn das Buch echt ist, dann ist es diese Summe auch mehr als wert.“
Christian hob erstaunt eine Augenbraue. „Sie zweifeln daran? Und haben es dennoch gekauft?“
„Nun, das Alterszertifikat belegt ja, dass das Papier nicht nach 1925 hergestellt worden ist. Und auch, dass die Tinte eine Zusammensetzung aufweist, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war. Es wurden auch winzige Verunreinigungen gefunden, wie sie heute nicht mehr vorkommen. Außerdem kenne ich als Sammler die Handschrift von Arthur Conan Doyle. Auch wenn ich noch kein graphologisches Gutachten in Auftrag gegeben habe, so spricht doch vieles dafür, dass das Werk echt ist.“
„Aber“, warf Yvonne nach einer Sekunde, in der nur das Klicken des Photoapparats zu hören war, ein, „es wäre doch möglich, dass jemand bereits damals eine Fälschung hergestellt hat. Jemand, der dem Erfolg der Holmes-Bücher nacheifern wollte. Vielleicht, weil er selbst ein nur wenig erfolgreicher Schriftsteller war.“
Von Ortmann hustete. Er zog ein kleines Pillendöschen aus der Tasche seiner Weste. Von der großzügigen Bar nahm er sich eine Mineralwasserflasche. „Bedient euch, wenn ihr durstig seid.“
Als er die Pille geschluckt hatte, beantwortete er die Frage. „Das könnte natürlich sein. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass ich auf ein Falsifikat hereinfalle. Aber, ein Teil des Thrills meines Hobbys ist die Jagd nach den Schätzen. Nicht alleine nur das Besitzen. Und falls dieses Buch eine Fälschung ist, dann wird hoffentlich wenigstens die Geschichte unterhaltsam sein.“ Er lachte.
„Und dafür geben Sie soviel Geld aus?“, wunderte sich Christian.
„Du hast bestimmt auch ein Hobby, in das du viel investierst“, vermutete von Ortmann.
„Laufschuhe“, rief Moritz vom Tisch herüber. „Er rennt furchtbar gerne sinnlos über den Sportplatz.“
Von Ortmann lächelte wieder, was sein Gesicht gleich zehn Jahre jünger aussehen ließ. „Siehst du, das ist bei mir vielleicht einfach nur eine Größenordnung teurer. Und, immerhin habe ich einen Hinweis auf die Echtheit, der andere Werke als Fälschung entlarvt hat.“
Yvonne machte ein nachdenkliches Gesicht. Sie schien zu ahnen, worauf der alte Herr hinauswollte. „Sie meinen das Papier?“
Von Ortmann nickte. „Ich sehe, du verstehst mich.“
„Könnt ihr mich auch aufklären?“, bat Christian.
„Nun, mein Junge, vor Kurzem ging doch durch die Nachrichten, dass einige alte Tagebücher gefunden worden waren, die eine ganze Zeitungsredaktion genarrt hatten. Ein damals nicht verwendetes Papier hat alles als Fälschung entlarvt.“
Christian nickte langsam. „Ja, da war irgendwas.“
Moritz und Lena traten zu ihren Freunden an den Kamin.
„Habt ihr alles?“, fragte von Ortmann.
Lena nickte. „Ja, es hat gereicht. Vielen, vielen Dank, Herr von Ortmann! Ich werde das Buch gleich lesen, sobald Moritz die Bilder entwickelt hat. Wenn Sie wollen, bringen wir Ihnen Abzüge. Sozusagen als Sicherheitskopie, falls das Buch mal zerfallen sollte.“
Der alte Mann lachte laut auf. „Gott bewahre! Das mit dem Zerfallen wollen wir doch nicht hoffen. Aber die Abzüge nehme ich gerne.“
Die vier verabschiedeten sich.
Kapitel 4 - Ein Blick um die Ecke
Am frühen Nachmittag des folgenden Tages befanden sich die Mädchen in Yvonnes Zimmer und gingen die Photos des Holmes-Buches durch. Lena lag auf dem Bett, nutzte die Lupe, da die Handschrift an manchen Stellen in ihrer Verschnörkelung schwer zu entziffern war, und diktierte ihrer Freundin die englische Geschichte. Yvonne tippte sie in die Textverarbeitung ihres 8-bit Heimcomputers ein. Der blinkende Cursor huschte nur so über den Farbmonitor.
Nach ein paar Seiten aber stutzte Lena.
„Was ist?“, fragte Yvonne und drehte den Schreibtischstuhl um. „Kannst du etwas überhaupt nicht entziffern?“
„Das ist es nicht“, erwiderte Lena. „Nur, das Papier dieser Seite hier auf dem Photo ist am oberen Rand nicht ganz gerade abgeschnitten. Man sieht es eindeutig.“
„Na, vielleicht wurden die Seiten damals per Hand zurechtgeschnitten, und da ging etwas schief“, vermutete Yvonne.
„Möglich“, dehnte Lena das einzelne Wort. Ihr Blick wanderte nach innen. Aber plötzlich fiel es ihr ein. „Genau! Ich habe so etwas schonmal gesehen! Und zwar bei Moritz' Geschenk!“
Sie beugte sich vom Bett herunter, hob ihre Schultasche hoch und zog das alte Tagebuch heraus. „Die ersten Seiten sollen ja ein Freundschaftsbuch werden. Ihr habt ja alle schon etwas reingeschrieben. Und dort war alles glatt. Aber...“ Sie blätterte durch die Seiten und fuhr mit dem Zeigefinger dabei über den oberen Rand hin und her.
„Hier, fühle mal!“, forderte sie die Freundin auf und hielt ihr das aufgeschlagene Buch hin.
Yvonne strich mit einem Finger ebenfalls darüber. „Ja, diese Seite ist etwas unsauber geschnitten. Man merkt es, wenn man ein paar davor oder danach gleichzeitig greift. Aber was willst du damit sagen?“
Lena zuckte die Achseln. „Nichts. Noch nicht. Aber es ist schon auffällig, dass das leere Buch hier und der Detektivroman denselben Fabrikationsfehler aufweisen. Meinst du nicht auch?“
„So ungewöhnlich finde ich das aber nicht. Vielleicht kam beides aus derselben Manufaktur?“, spekulierte Yvonne und wandte sich wieder dem Monitor zu. „Wie geht der Text weiter?“
Die nächste halbe Stunde digitalisierten sie die Geschichte weiter, dann aber hatte Lena keine Lust mehr. Zwar bekam sie ungefähr mit, worum es in der Story ging. Aber es war kein Vergnügen, auf diese Art in eine neue, fremde Welt einzutauchen. Lena setzte sich auf und legte die Photos zur Seite. Ihre Gedanken kreisten um ein anderes ungewöhnliches Ereignis.
„Du, Yvonne“, sagte sie, „ich würde gerne wissen, was Andresen in diesem Wohnwagen gemacht hat.“
„Du klingst, als hättest du etwas vor.“
Lena lächelte. „Du kennst mich gut. Das habe ich nämlich wirklich. Wir sollten versuchen, einen Blick hineinzuwerfen.“ Sie sprang vom Bett auf und wollte die Freundin hochziehen. „Komm, lass uns mal hinfahren.“
„Du wirst aber nichts sehen, wenn die Gardinen vorgezogen sind.“
„Spaßbremse!“, konterte Lena. „Komm schon, ja?! Wir fahren kurz bei Moritz vorbei und holen das Steckperiskop, das er gebastelt hat. Vielleicht steht ja ein Fenster im Wohnwagen auf Kipp.“
***
Eine Dreiviertelstunde später bremsten die Mädchen ihre Fahrräder auf der Straßenseite gegenüber dem Gelände ab, auf dem der Wohnwagen unsichtbar hinter der hohen Hecke stand.
Die beiden überquerten die Fahrbahn und gingen zur Gartenpforte. Noch konnte sie niemand vom Wohnwagen aus sehen. Und auch die Bürgersteige waren in beide Richtungen frei.
„Wir müssen wissen, ob jemand drin ist. Ich klopfe einfach“, sagte Yvonne.
„Und falls Andresen wirklich da ist?“
„Er kennt mich ja nicht. Ich war ja nie im Laden, sondern immer nur draußen auf der Mauer. Ich frage ihn einfach, wo er den Wohnwagen gekauft hat, weil meine Eltern ebenfalls so einen haben wollen.“
Lena nickte und hielt sich zurück, während die Anführerin der Halo-Clique die Pforte öffnete und zielstrebig zum Wohnwagen ging. Deutlich vernehmbar klopfte sie an die Tür und wartete ein paar Sekunden.
Doch nichts geschah.
Auch nicht, als sie noch einmal klopfte und ein „Hallo?“ rief. Niemand öffnete.
Yvonne lief zur Pforte zurück und machte Lena ein Zeichen, den Garten zu betreten. „Die Luft ist rein. Dann wollen wir mal schauen.“
Die beiden gingen langsam um den Wagen herum. Ein dickes Kabel ging von dessen Unterboden ab, verlief gerade über den Rasen und verschwand durch ein Kellerfenster im nur wenige Meter entfernten Haus. Die Eingangstür war mit Brettern vernagelt. Hier wohnte sicherlich niemand mehr, doch es schien offenbar noch Elektrizität zu geben. Innen an einer Fensterscheibe angebracht, klebte ein Blatt Papier, das verkündete, dass dieses Haus ab dem übernächsten Monat zum Verkauf stünde. Darunter prangte die Telefonnummer eines Immobilienbüros.
Yvonne drückte die Klinke der Wohnwagentür, doch es war abgesperrt. Die Fenster auf dieser Seite waren klein, mit Gardinen verhangen und geschlossen, ebenso das breite Fenster am Ende des Wagens. Das gegenüberliegende Ende, das an das Zugfahrzeug angehängt wurde, war fensterlos.
Die andere lange Seite stand aber so dicht an der Hecke, dass weder Lena noch Yvonne sich dazwischenquetschen konnten. Die vielen Äste der ungeschnittenen Hecke erlaubten auch keinen eindeutigen Blick. Sie konnten nicht sehen, ob es gekippte Fenster gab.
Lena deutete nach oben. „Es geht nur über das Dach.“
Yvonne schüttelte den Kopf. „Viel zu gefährlich. Wer weiß, ob das Dach dich trägt.“
Doch Lena blieb hartnäckig. „Ich robbe mich vorsichtig darüber. Dann blicke ich an der Seite hinunter. Wenn dort alles dicht ist, gehen wir wieder. Aber das will ich jetzt auch noch wissen.“
Mit festem, entschlossenem Blick schaute sie die Freundin an. „Mach mal eine Räuberleiter.“
Yvonne gab nach. Sie stellte sich mit dem Rücken an die hintere, schmale Seite des Wohnwagens und faltete die Hände ineinander. Lena griff Yvonnes Schulter, setzte einen Fuß in die Steighilfe und schwang sich nach oben. Mühelos kletterte sie auf das Dach hinauf und blieb für einen Moment flach liegen, um ihr Gewicht möglichst breit zu verteilen. Langsam robbte sie nach vorne, bis sie an der Seitenkante angekommen war.
Sie blickte nach unten und triumphierte lautlos. Eins der beiden Fenster war leicht nach außen geklappt, die Öffnung zeigte im Gegensatz zu normalen Fenstern zum Boden. Mit dem Periskop müsste sie hineinschauen können. Vorsichtig glitt sie zurück. Lena hatte den Eindruck, dass der Wagen ein wenig wackelte. Aber das war vielleicht nur Einbildung und ihrer Aufregung geschuldet. Wieder an der Kante angekommen, ließ sie sich von Yvonne herunterhelfen.
„Wir müssen aus den Steckröhren ein U bauen, das an einer Seite rechtwinklig abgeht. Dann könnte ich von oben versuchen, es durch das Fenster hineinzufriemeln“, schlug Lena vor.
„Du musst kein Mathe-Wurzelzeichen konstruieren. Das Hineinschauen geht auch einfacher“, widersprach Yvonne, die sich in der Wartezeit Gedanken über das weitere Vorgehen gemacht hatte. Zwei Möglichkeiten waren ihr eingefallen. „Wir können vom Bürgersteig aus das Periskop durch die Hecken schieben.“
„Das finde ich zu gefährlich. Gut, viele Fußgänger scheint es hier nicht zu geben. Aber dennoch. Außerdem könnte Andresen kommen und uns schon von Weitem sehen. Vergiss nicht, er kennt mich ja, so oft wie ich Moritz besucht habe.“
Yvonne war überzeugt. „Gut, dann probieren wir es vom Boden aus. Von der Eingangstür kriecht eine von uns unter dem Wagen hindurch auf die andere Seite. Dann liegt die Öffnung des Fensters genau darüber, und man kann mit einer simplen L‑Konstruktion hineinschauen.“
Lena war einverstanden. Sie öffnete ihren Rucksack und nahm eine Schachtel heraus. Fünfzehn Röhren mit rechteckigem, doppelt fingerdickem Querschnitt lagen darin. Sie waren zwanzig Zentimeter lang. Manche waren hohl und konnten aneinandergeschraubt werden und so eine über zwei Meter lange gerade Hohlröhre ausbilden. Andere wiesen kurz vor einem Ende ein Loch mit Gewinde in der Seite auf und besaßen dort einen Spiegel, der das Licht um 90 Grad in genau diese Öffnung ablenkte.
Es war damit möglich, im Zick-Zack zu schauen, hatte Moritz bei seiner Vorführung den Freunden erklärt.
Yvonne baute einen etwas über einen Meter langen Stab und setzte an ein Ende im rechten Winkel eine weitere Röhre an. Testweise blickte sie hindurch.
„Es klappt“, sagte sie, „ich kann um die Ecke schauen.“
Dann legte sie sich auf den Rücken und schob sich langsam unter dem Wohnwagen hindurch. Sie verrenkte sich fast den Hals, als sie die Hecke erreichte, und konnte gerade so mit einem Auge nach oben blicken. Aber sie sah das offenstehende Fenster.
Jetzt musste sie das lange und starre Periskop nach oben bringen. Yvonne winkelte den rechten Arm eng an ihren Körper und schob die Hand mit der Röhrenkonstruktion zur Hecke hin. Sie griff fester zu, rotierte die Faust und klappte das Periskop langsam nach oben. Leicht lehnte sie es gegen die Wohnwagenwand, die eine haptische Unterstützung bot, um ihr Ziel nicht zu verfehlen. Schließlich hatte sie das Periskop senkrecht nach oben ausgerichtet.
Yvonne schob das abgeknickte Ende in das gekippte Fenster hinein, glitt zur Seite und konnte mit ein wenig Trial-and-error an dem schweren Vorhang vorbei ins Innere schauen.
„Geschafft“, sagte sie leise.
„Was siehst du?“
Yvonne schloss das linke Auge und schaute mit dem rechten durch das Guckrohr. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich das Auge an die dunklere Umgebung im Wohnwagen angepasst hatte. Aber das Restlicht des Sommertages reichte noch aus, sodass sie die Einrichtung recht gut überblicken konnte.
„Hier ist was. Es sieht nach einer elektrischen Apparatur aus. Kommst du mit der Kamera nach?“
Auch Lena schob sich rücklings unter dem Wagen bis zur Hecke vor. Sie hielt die flache Kamera und hatte den Finger schon auf dem Auslöser. Yvonne zog ihren Kopf ein wenig vom Periskop zurück, achtete aber darauf, das Konstrukt nicht zu bewegen. Lena hielt das Objektiv vor das untere Ende des Guckrohrs und drückte zweimal den Auslöser.
Dann schaute Yvonne wieder durch das Sichtrohr und blickte sich weiter um. „Hier liegt ein Stapel Papierseiten, daneben ein Gefäß. Da ist etwas dunkles drin.“
Wieder machten sie ein paar Photos.
Plötzlich wisperte Lena. „Psst! Auf dem Bürgersteig kommt jemand.“
Sicherheitshalber zog sie ihren Rucksack unter den Wohnwagen. Dann verhielten sich die Mädchen mucksmäuschenstill. Die Schritte passierten ihren Standort, doch zwei Sekunden später ertönte das Quietschen der Gartenpforte. Mit vor Aufregung stark klopfendem Herzen zogen die Freundinnen blitzschnell die Beine an und verschwanden so vollständig unter dem Wohnwagen. Sie getrauten sich nur, flach und selten zu atmen. Yvonne begann, das Periskop so leise wie möglich zurückzuziehen. Schließlich hatte sie es im Freien und zog es zu sich.
Schritte ertönten auf dem kleinen Weg, der von der Pforte zum Abstellplatz führte. Yvonne, die den Kopf ein wenig gedreht hatte und an ihrem linken Arm vorbei blickte, konnte zwei dunkle Schuhe sehen, die für einen Moment stehenblieben. Dann klimperte ein Schlüsselbund, und die Gestalt verschwand im Wohnwagen. Die Federung gab ein wenig nach.
Die Mädchen warteten noch eine Minute. Dann krochen sie stückweise, immer wieder von Pausen unterbrochen, unter dem Wohnwagen hervor. Sie hofften inständig, dass sie so leise waren, und Andresen - denn wer sonst sollte in den Wohnwagen gehen? - nichts hören konnte. Lena hatte sich ganz nach links orientiert, Yvonne ganz nach rechts, sodass sie zwar weiter auf der Seite der Tür herauskommen würden, aber wenigstens nicht direkt unter dieser.
Schließlich waren sie fast zeitgleich im Freien angekommen. Gebückt schlichen sie auf Zehenspitzen am Wohnwagen vorbei zur Pforte. Das Quietschen war ihnen jetzt egal, sie wollten nur weg. Die Mädchen rannten über die Straße, ketteten ihre Fahrräder ab und fuhren in halsbrecherischem Tempo davon. Yvonne blickte sich immer wieder um, doch niemand schaute aus dem Garten heraus.
Es war noch einmal gutgegangen.
***
Am Abend saßen die Vier in Moritz' Zimmer und schauten sich die Fotos aus dem Wohnwagen an. Moritz hatte den Sichtbereich des Rohres stark vergrößert. Teilweise war die Aufnahme nun schon recht unscharf geworden.
Der Junge zeigte auf ein längliches Objekt auf einem der Bilder, die er durchschaute. „Also, ich denke, das ist ein Füllfederhalter. Ziemlich klobig, wenn ihr mich fragt.“
„Und bei mir ist eine Flasche mit dunklem Zeugs. Was auch immer das ist. Ich kann aber nicht erkennen, ob es fest oder flüssig ist. Du hast es ja auch gesehen, Yvonne“, steuerte Christian bei.
Auch Lena beschrieb etwas Ungewöhnliches. „Ein Netzteil, das ausgeschaltet ist. Zwei Kabel führen zu einer Plastikabdeckung. Durchsichtiges Plastik. So groß wie ein halber Zeichenblock. Aber da schimmert etwas.“
Nur Yvonne blieb still. Sie starrte auf ein Photo, das eine große, rechteckige Schale zeigte, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Das legten zumindest die Reflexionen nahe. Die beiden Steckkontakte an den schmalen Seiten der Schale passten genau zu den Aussparungen von Lenas Deckel.
Christian wandte sich seiner Freundin zu und legte ihr die Hand auf den Unterarm. „Was ist?“
„Sie denkt wieder“, unkte Moritz und nahm sich einen Keks aus der Packung. Er reichte sie herum. Auch Lena bediente sich.
Die drei Freunde verhielten sich ruhig, während Yvonne stumm auf dem Boden saß und vor sich hinstierte. Gedankenverloren zupfte sie an den Fransen des kleinen, roten Teppichs, der vor ihr endete. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. „Ich habe dieses Gefäß schon einmal gesehen. - Moritz, hol mal unser Chemiebuch!“
Der Klassenkamerad reichte ihr den dicken Wälzer, der unter ein paar Comicheften auf dem Bücherregal versteckt gelegen hatte. Yvonne setzte sich in den Schneidersitz, legte das schwere Buch auf ihre Jeans ab und überflog das Schlagwortverzeichnis am Ende. Dabei murmelte sie immer wieder das Wort „präparativ“ vor sich hin. Ihre Freunde schauten sich gegenseitig an. Doch alle zuckten nur mit den Schultern.
Schließlich schlug Yvonne die entsprechende Seite auf und deutete auf ein abgedrucktes Bild.
„Stimmt“, kommentierte Moritz nach einem raschen Blick erstaunt. „Das Ding sieht wirklich genauso aus.“
„Wofür ist es gut?“, wollte Lena wissen.
Yvonne schob das Buch vor sich auf den Boden. „Das ist eine Elektrophoresekammer. Wir haben euch ja von unseren Chromatographieversuchen in Chemie erzählt. Mit diesem Behälter hier kann man so etwas Ähnliches machen, nur bewegen sich die Substanzen nicht über Kapillarkräfte und Adsorption, sondern durch Strom und zwängen sich durch kleine Sieblöcher hindurch. Meist in einer Art Gel, also nicht in Papier.“
„Also trennt Andresen damit irgendetwas auf“, schlussfolgerte Moritz. „Was interessiert es uns?“
„Ich finde schon, dass das zumindest ungewöhnlich ist“, sprang Christian seiner Freundin bei. „Die Papierseiten da hinten sehen nämlich aus, als wären sie irgendwo herausgerissen worden. Der Rand ist so gezackt. Und hast du...“, er blickte Moritz an, „nicht erzählt, dass du ein Buch im Laden hast, in dem Seiten fehlen?“
Moritz nickte. „Ja, hab ich wohl beim Auspacken übersehen.“
Christian aber war begeistert von seiner Idee. „Was, wenn nicht? Was, wenn Andresen Seiten aus einem Buch rausreißt und damit hier in dem Wohnwagen irgendetwas anstellt?“ Doch was, das war ihm völlig unklar.
„Was hast du eigentlich mit diesem Wort ‚präparativ‘ gemeint, das du eben gemurmelt hast?“, fragte er seine Freundin.
„Ich habe da eine Idee. Sie klingt ein wenig verrückt.“ Yvonne holte tief Luft. „Ihr seht die Flasche mit der dunklen Substanz. Ich glaube, das ist eine Flüssigkeit. Und dann der Füllfederhalter. Das sieht doch so aus, als wollte Andresen etwas aufschreiben.“
Moritz war nicht überzeugt. „Mit so altem Equipment? Der Füller sieht ja uralt aus. Und ich verstehe nicht, was das mit dem Elektrogerät zu tun hat. Mein Chef macht offenbar chemische Experimente. Gut, in einem Wohnwagen und nicht bei sich zuhause. Vielleicht hat er Angst, dass was explodiert.“ Er grinste. „Aber was geht es uns an?“
Lenas Gesicht hellte sich auf. Mit Bewunderung blickte sie die Cliquenchefin an. „Ich glaube, ich weiß, was Yvonne meint. Du hast gesagt: ‚Meist mit Gel.‘ Aber es geht auch mit Papier? Die Seiten aus dem Buch sind doch beschrieben gewesen, oder?“
Moritz nickte. „Sicher. Es war ein Sammelband alter Erzählungen. Auf den noch vorhandenen Seiten davor und danach sind solche Geschichten niedergeschrieben. Und laut Inhaltsverzeichnis waren auf den fehlenden ebenfalls Volksmärchen. Ich hab extra nachgeschaut.“
„Schade, dass wir nicht sehen können, ob die Erzählungen jetzt immer noch auf den Blättern stehen“, wählte Lena eine bewusst seltsame Formulierung. Sie grinste vergnügt.
Yvonne nickte ihr zu. „Gute Frage. Du vermutest also dasselbe wie ich?“
Moritz seufzte laut. „Ich vermute nix. Ich bin müde. Das viele Arbeiten in der Dunkelkammer schlaucht. Also, kann mich jemand aufklären?“
„Moritz, wir haben doch unser Farbgemisch aufgetrennt. Und danach das Chromatogramm ins Heft eingeklebt. Bei diesen kleinen Mengen wie in der Schule nennt man das ‚analytisch‘. Man kann aber auch die getrennten Farben wieder aus der stationären Phase herauslösen. Und macht man das großmaßstäblich, so heißt es ‚präparativ‘.“
„Und wie?“
„Mit Strom zum Beispiel. Man legt senkrecht zum Papier ein elektrisches Feld an, dann wandern die Substanzen gemäß ihrer Ladung in die eine oder andere Richtung. Und solange die Farbe nicht stabil an das Papier gebunden ist, kriegt man die Einzelteile so wieder heraus.“
„Du glaubst also, Andresen trennt etwas auf, und isoliert dann die Einzelbestandteile nacheinander?“, fragte Christian nach.
Yvonne schüttelte den Kopf. „Das wäre unnütze Arbeit, wenn er danach alles wieder zusammenmischt. Ich glaube nämlich, er setzt bedruckte Buchseiten einem elektrischen Feld aus, und die Tinte wandert in die Flüssigkeit, die eigentlich zum Stromübertragen da ist.“
„Aber dann ist die Tinte doch ultraverdünnt?“, warf Moritz ein. „Wie will er damit schreiben?“
„Aufkonzentrieren“, antwortete Yvonne ohne Zögern. „Eindampfen im Vakuum oder vielleicht erwärmen, wenn die Farben das aushalten. Extraktion mit Alkohol. Da gibt es unzählige Verfahren.“
Lena sprang auf. „Fassen wir zusammen. Andresen reißt beschriebene Seiten aus alten Büchern, extrahiert daraus die Tinte und hat einige leere, ebenfalls alte Tagebücher gekauft, deren Seiten unregelmäßig geschnitten sind. Was macht er damit?“ Sie blickte auffordernd in die Runde.
„Er fälscht Bücher“, meinte Christian.
„Genaugenommen, teure Bücher wie einen unbekannten fünften Sherlock-Holmes-Roman, den er sich wohl ausgedacht hat“, sekundierte Moritz, der nun auch verstanden hatte.
Lena stellte die wichtigste Frage: „Aber wie beweisen wir das?“
Yvonne rieb sich nachdenklich über das Kinn. „Es muss doch eine Methode geben, nachzuweisen, dass die Farbe bei von Ortmanns Buch erst kürzlich zu Papier gebracht worden ist, auch wenn alles ungefähr so alt ist, dass es zu Doyles Schaffensperiode passen würde.“
Christians breites Lächeln zeigte an, dass er davon überzeugt war, eine gute Idee zu haben. Seine Freunde schauten ihn erwartungsvoll an.
„Wir scheuchen ihn auf.“
Dann erklärte er seinen Plan.
Kapitel 5 - Strafrabatt
Yvonne lief nervös vor der gelben Telefonzelle auf und ab. Die Straße hinunter, die einen kleinen Bogen nach rechts machte, hatten sich ihre Freunde versteckt und warteten auf das vereinbarte Signal. Yvonne schaute zum x-ten Mal auf die Armbanduhr.
Endlich war es 19:30 Uhr.
Sie öffnete die Tür der Telefonzelle und wählte die Privatnummer von Andresen. Es knackte im Hörer, dann läutete es mehrmals. Yvonnes Anspannung wuchs, doch endlich wurde abgehoben.
Ein Mann sagte schlicht: „Andresen.“
Yvonne senkte ihre Stimmlage so tief wie möglich ab und flüsterte zusätzlich auch noch. Sie hatte, wie sie es in Filmen gesehen hatte, ein Stofftaschentuch über die Sprechmuschel gelegt, um ihre Stimme weiter zu verfremden. „Hau ab, Mann! Die Polente ist auf dem Weg. Sie kennen deinen Trick mit der Elektophoresekammer.“
Dann hängte sie sofort ein und verließ die Zelle. Mit Moritz' Morsegerät sandte sie ‚Kurz - Pause - Kurz - Lang - Kurz - Kurz‘ und signalisierte mit der Buchstabenfolge EL, dass der Anruf zum Aufscheuchen, den Christian sich ausgedacht hatte, abgesetzt worden war. Nun würde sich zeigen, ob Andresen zum Wohnwagen eilte. Das wäre der Beweis, dass er dort nicht einfach nur private Experimente durchführte.
Ein paar Sekunden später leuchtete ihre rote Lampe im Rhythmus ‚Kurz - Lang - Kurz - Pause - Lang - Lang - Lang‘. Lena hatte mit RO, der Abkürzung für ‚Roger‘, geantwortet.
Yvonne fluchte leise. Sie wäre jetzt viel lieber am Wohnwagen, um ihre Freunde zu unterstützen. Doch die Stimmen der anderen drei hatte Andresen alle schon einmal gehört und hätte sie wiedererkennen können. Yvonne hatte den logischen Grund akzeptiert, aber es gefiel ihr nicht, so passiv zu sein. Doch ihre Aufgabe war eine andere. Sie musste bereitstehen für den finalen Anruf.
„Langweilige Aufgabe“, maulte sie und trat gegen einen kleinen Kieselstein, der wegsprang und im Gebüsch verschwand. Dann begann sie wieder, nervös hin- und herzulaufen. Das Morsegerät hielt sie fest umklammert und starrte verbissen auf die kleine Lampe.
***
„Unser Plan geht los“, sagte Lena, als Yvonnes EL-Signal ankam und die Lampe aufleuchtete. Sie antwortete rasch mit RO.
Christian, Moritz und sie hatten die Mülltonnen an der Hauswand etwas nach vorne geschoben, sodass alle drei dahinter Platz fanden. Ein kleiner Spalt erlaubte ihnen, die Pforte im Blick zu behalten. Auch der Wohnwagen war gut zu sehen.
Die Freunde schwiegen, während sie warteten. Ihre Anspannung wuchs mit jeder verstrichenen Sekunde.
Plötzlich hörten sie von jenseits der Hecke Schritte, die rasch näherkamen und lauter wurden. Lena krallte sich mit einer Hand in den Arm ihres Freundes und hielt unwillkürlich den Atem an. Da öffnete sich die Pforte - und Andresen betrat den Rasen. Er trug eine große Kiste unter dem Arm.
Er will sein Zeug verschwinden lassen, dachte Moritz aufgeregt. Lena hat recht gehabt. Der hat was zu verbergen. Harmlos und legal ist das nicht, was er hier macht.
Sofort signalisierte Lena mit dem Morsegerät den Code PO. Nun würde Yvonne die Polizei verständigen und ihren Verdacht, Andresen sei ein Fälscher, der gerade im Begriff war, seine Werkstatt auszuräumen, melden. Und sie würde ihren Namen angeben, darauf hatten sich die Vier geeinigt.
Hastig schloss Andresen den Wohnwagen auf und verschwand darin. Die Tür knallte leicht, als er sie hinter sich zuwarf. Christian und Moritz liefen sofort los. Sie bemühten sich, leise zu sein. Die Füße in den Boden gestemmt, drückten sie nach vorne gelehnt mit den Händen gegen die Tür. Lena verharrte kauernd hinter den Tonnen, denn sie musste auf die Bestätigung von Yvonne warten. Erst mit dieser Sicherheit im Rücken wollte auch sie eingreifen. Dann würden auch die Jungs wissen, dass Hilfe unterwegs war.
Hoffentlich reicht das, dachte Moritz. Wenn der Typ sich von innen gegen die Tür wirft, bin ich nicht sicher, ob wir sie zuhalten können.
Der mutmaßliche Ganove schien etwas gehört zu haben, oder er hatte schon alles zusammengepackt. Christian spürte, wie die Tür sich ein wenig in den Angeln bewegte.
Für einen Moment herrschte Stille. Doch dann ließ ein gewaltiger Stoß die Tür regelrecht erbeben. Die Jungs, die von der Wucht total überrascht wurden, stolperten nach hinten. Drei Meter vor dem Wohnwagen fingen sie sich wieder.
Die Tür schwang auf. Andresen blickte nach draußen. Nach einer Sekunde begann Wut, sein Gesicht zu verzerren. „Moritz!“, rief er laut. Seine Stimme klang gehetzt. „Was soll das? Hast du gerade bei mir angerufen?“
Er wartete keine Antwort ab, sondern trat mit einem großen Schritt aus dem Wagen heraus. Die offensichtlich schwere Kiste stellte er hinter sich ab. Dann aber wirbelte er blitzschnell herum und griff nach Moritz' Arm. Der Junge wich mit einer Körperdrehung aus. Doch das war ein Fehler. Er wäre besser einen weiteren Schritt zurückgegangen. Denn mit der anderen Hand packte Andresen ihn am Ärmel und riss den Jungen zu sich.
„Heh! Lassen Sie Moritz los!“, rief Lena aufgebracht, die nun herbeigerannt kam. Die Polizei war verständigt, Yvonne hatte entsprechend signalisiert. Nun ging es darum, Zeit zu gewinnen.
Andresen lachte kurz trocken auf. Er hatte einen spitzen Gegenstand in der Hand, den er dem Jungen an den Hals drückte. „So, ihr Kinder. Das ist zwar nur ein alter Füllfederhalter. Aber er ist sehr spitz. Bleibt zurück! Egal, was ihr glaubt zu wissen, jetzt ist erst einmal Endstation für euch. Ich nehme Moritz mit. In zwei Stunden lasse ich ihn frei. Dann könnt ihr tun, was ihr wollt. Solange aber verlasst ihr dieses Grundstück nicht.“
Lenas Gesicht war weiß geworden. Sie hatte Angst um ihren Freund. Auch Christian schaute verbissen.
„Herr Andresen“, sprach Moritz bedächtig. „Egal, was Sie da drin tun, es ist bestimmt keine Freiheitsberaubung wert. Lassen Sie mich los, und wir versprechen Ihnen, dass wir davon nichts erzählen werden. Sie werden nur wegen Betrugs und Fälschung angeklagt.“
„Angeklagt? Es wird keine Anklage geben. Aber nun genug der Worte. Komm mit!“
Er drehte sich um und zog Moritz mit zur Gartenpforte. Langsam folgten Lena und Christian, obwohl ihre ratlosen Gesichter zeigten, dass sie nicht wussten, was sie tun sollten. Mit einer Hand drückte Andresen die Klinke der Gartenpforte herunter und ging rückwärts, Moritz mit sich ziehend, hindurch. Dann drehte er sich um, und die beiden waren im nächsten Moment verschwunden.
Lena morste KH zu ihrer Freundin, das Zeichen dafür, dass Yvonne so schnell wie möglich zum Wohnwagen kommen sollte.
„Sie wird Andresen und Moritz sehen und sich ihren Teil denken“, war das Mädchen sich sicher.
Christian nickte. „Komm, wir linsen um die Ecke. Wenn wir Andresen nicht mehr sehen, gilt dasselbe umgekehrt auch für ihn. Und dann schleichen wir ihm nach. Er wird vermutlich zu seiner Wohnung gehen.“
***
Als Yvonne das KH-Zeichen erhielt, runzelte sie die Stirn.
„Die Polizei kann doch noch gar nicht dort sein. Warum soll ich jetzt schon zum Wohnwagen kommen?“, murmelte sie.
Dennoch schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr los. Irgendwie hatte sie kein gutes Gefühl, und so beschloss sie, auf dieser Straßenseite zu bleiben und den Bürgersteig zu nutzen. Die am Rand parkenden Autos boten immerhin ein wenig Sichtschutz.
Sie war gerade erst dreihundert Meter gefahren, da sah sie in der Ferne auf dem anderen Bürgersteig einen Punkt, der rasch näherkam. Yvonne sprang vom Rad, lehnte es gegen ein Gebüsch und duckte sich hinter eine Limousine. Vorsichtig schob sie den Kopf seitlich am Heck vorbei.
Eine Minute später erkannte sie den Freund und seinen Chef. Und sie sah auch, dass Moritz offensichtlich in der Zwickmühle steckte, denn er bewegte sich unnatürlich eckig.
„Warum hält er seinen Kopf so schief?“, fragte sich Yvonne, als die beiden unter einer Straßenlaterne vorbeikamen. Zwar hatte die Dämmerung erst eingesetzt, aber die Lampen brannten schon.
Und dann sah sie, wie etwas aufblitzte. Da war ihr klar, dass Moritz bedroht wurde. Yvonnes Gedanken rasten. Suchend blickte sie sich auf dem Boden um. Am straßenfernen Rand des Bürgersteigs fand sie zwei große Kieselsteine.
„Damit müsste es gehen“, sprach sie sich selbst Mut zu.
Wieder wartete Yvonne.
Erst als Moritz und Andresen auf der anderen Straßenseite vorbeigegangen waren, huschte sie in deren Rücken über die Fahrbahn. Sie holte aus, warf einen Stein direkt neben Moritz auf die Fahrbahn und drückte sich in das Gebüsch. Es knallte laut, als der Stein auf dem Asphalt aufprallte.
Sofort blieb Andresen stehen und blickte sich um. Doch er sah niemanden. Yvonne hoffte, dass Moritz nun alarmiert war und gleich richtig reagieren würde. Als Andresen seinen Weg wieder aufgenommen hatte, sprintete Yvonne los. Im Laufen holte sie aus und schrie: „Moritz! Zur Seite!“
Dann schleuderte sie den Stein nach vorne. Mit voller Wucht knallte er Andresen aus fünf Metern Entfernung ins Kreuz. Der Mann zuckte zusammen, und wie Yvonne gehofft hatte, vernachlässigte er für eine Sekunde seinen Griff um Moritz' Arm. Der Freund riss sich los und sprang sofort zur Seite.
Nun, aus unmittelbarer Gefahr befreit, ging er langsam zurück. Auch Yvonne machte keine Anstalten, Andresen überwältigen zu wollen.
„Geben Sie auf, Herr Andresen!“, rief Moritz, als der Mann sich anschickte, loszurennen.
Die beiden Freunde folgten im Laufschritt, hielten aber Abstand. Als sie wenig später, noch gut einhundert Meter vor Andresens Geschäft, in der Ferne das an- und abschwellende Geräusch eines Martinshorns hörten, wussten sie, dass sie gewonnen hatten.
***
Am Nachmittag des übernächsten Tages - es war Samstag - schnitt Yvonne zuhause einen großen Zeitungsartikel über den Buchfälscher Andresen aus dem Stadtecho aus und legte ihn in die Fallkiste, die sie mit ‚Sherlock Holmes‘ betitelt hatte.
Es polterte im Erdgeschoss, und unzählige Schritte rannten die Treppe hinauf. Ohne anzuklopfen, riss Moritz als Erster die Tür auf, und der Rest der Clique stürzte in Yvonnes Zimmer.
„Hi, Schatz!“, grüßte Christian und gab seiner Freundin einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Yvonne legte kurz die Hand an seine Wange.
„Hi, große Chefin“, grinsten Moritz und Lena, die sich auf das Bett fallen ließen. Der Lattenrost quietschte ein wenig unter der Belastung.
„Alles verstaut?“, fragte Christian.
Yvonne nickte. „Sämtliche Abzüge, unsere Notizen sowie die Zeitungsartikel, die ich finden konnte.“
„Aber ein paar Dinge blieben noch offen“, merkte Christian an. „Wer hat Andresen anonym bei der Polizei angezeigt?“
Yvonne zuckte die Achseln. „Das wird nirgends erwähnt. Und die Polizei wird uns darüber bestimmt keine Auskunft geben, falls sie etwas herausgefunden haben sollte. Aber die Zeitung schreibt, Andresen sei vorbestraft - und das wegen Hehlerei.“
„Vielleicht kommt später noch raus, wann er das Holmes-Buch gefälscht hat“, hoffte Lena. „So etwas dauert doch seine Zeit. Das macht man nicht mal eben am Abend.“
„Ich hab nicht alles gelesen“, meinte Christian. „Steht irgendwas in den Artikeln, warum Andresen seinen Wohnwagen genau auf diesem einen Grundstück abgestellt hat?“
Yvonne nickte. „Er hat diesen Platz unter falschem Namen bei der Immobilienfirma gemietet. Für einen Monat.“
„Schön blöde“, sagte Moritz verächtlich. „So muss er ja auffallen.“
„Nicht blöde, sondern notwendig. Ansonsten wäre der Strom abgestellt worden.“
„Wie fühlt man sich denn so“, stichelte Christian und boxte Moritz freundschaftlich auf den Arm, „wenn man nach Strich und Faden veräppelt worden ist?“
Moritz grinste schief. „Ich sehe ja ein, dass Andresen mich mit voller Absicht engagiert hat. Ich war der nützliche Idiot, der den Holmes-Roman finden sollte.“
Lena setzte sich auf und drückte Moritz für einen Moment tröstend an sich. „Das war viel glaubwürdiger, als hätte er ihn selbst irgendwann aus dem Hut gezaubert. Auf die Idee, dass er das Buch gefälscht und sich selbst geschickt hat, kommt doch keiner.“
„Richtig“, stimmte Yvonne zu. Sie griff nach Christians Hand und verschränkte ihre Finger in seinen.
Moritz machte seine Freundin darauf aufmerksam. Lena nickte und flüsterte: „Sie ist in der letzten Zeit viel selbstbewusster geworden, was diese kleinen Zärtlichkeiten angeht.“
Yvonne warf einen nicht ganz freundlichen Blick zu Moritz, als sie fortfuhr: „Und beim Verkauf einen kleinen Schuljungen dabeizuhaben, war schon ziemlich clever.“
Doch Moritz lachte nur. Die verbale Retourkutsche zur ‚großen Chefin‘ hatte er erwartet.
„Von Ortmann hat überhaupt keinen Verdacht geschöpft. Welcher Ganove nimmt schon Jugendliche zu einem Betrug mit?“
„Es war ein sehr seltsamer Fall, finde ich“, meinte Christian. „Zu Beginn wussten wir überhaupt nicht, welches Verbrechen da abgelaufen sein sollte. Und eigentlich wissen wir es jetzt auch nur, weil Andresen alles gestanden hat.“
„Das aber war taktisch klug von ihm“, führte Yvonne aus, „denn so bekommt er in der Summe eine geringere Haftstrafe als für die Freiheitsberaubung und Nötigung an Moritz alleine.“
Moritz nahm sich eines der vollen Saftgläser, die auf einem kleinen Tablett auf dem Nachttischchen standen, und trank einen Schluck. „Jetzt müssen wir nur noch die erfundene Geschichte lesen. Hoffentlich ist sie wenigstens gut.“
Lena kramte in ihrem Rucksack und holte fünf Disketten hervor. „Ist sie. Ich habe sie gestern alleine fertig abgetippt, weil ich einfach neugierig war, wie es weitergeht.“
Sie reichte ihren Freunden je einen Datenträger und verstaute einen weiteren in der Fallkiste. Dann stand sie auf.
„Lasst uns zu von Ortmann fahren und ihm die Abzüge und auch eine Diskette bringen. So wie ich ihn einschätze, wird er noch nicht einmal richtig sauer sein, dass man ihn hereingelegt hat. Er hat einen wirklich spannend geschriebenen, erfundenen Holmes-Roman bekommen. Wenn auch stark überteuert.“
ENDE