Die Heimkehr

TaugeniX

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So rückte Petr Lwowjitschs Heimreise, die er über lange Monate des Kuraufenthaltes vor sich wegschob und auf den Entscheid seiner doctores abstellte, wohl bewußt, dass jene einen so gut betuchten wie großzügigen Patienten eher über das Notwendige hinaus zurückzuhalten bemüht waren, von unbestimmten Plänen, die sich auf „eventuell nach dem Abklingen der Sommerhitze“ und „bei vollständiger Remission der Beschwerden“ beliefen, auf ein plötzliches unmittelbares Jetzt. Er erschrak und fühlte sich gleichwohl erleichtert, diese Entscheidung nicht selber treffen zu müssen, nicht aus eigenem Wunsch, sondern einer Pflicht und Notwendigkeit folgend. Dr. Krall gedachte noch die Irrenanstalt seines Kollegen Dr. Ignaz Maier-Maly zu besuchen und lud seinen Begleiter dazu ein, die Eisbadung und die Behandlung mit Elektrizität an hysterisch oder wahnhaft Erkrankten anzusehen. „Ich sah genug“, entgegnete Petr Lwowjitsch so schroff, dass der Mediziner erstaunt und etwas beleidigt die Augenbrauen hochzog, und fügte dann erklärend hinzu „ich wäre doch als Laie bloß wieder aufgebracht und könnte der Durchführung eines gelehrten Experiments hinderlich werden. Es scheint, dass die ärztliche Wissenschaft einer besonderen Abhärtung des Gemüts bedarf.“ Dieser letzte Satz sollte einen sarkastischen und sogar verächtlichen Klang haben, wurde jedoch vom dr. Krall allein dem Wortlaut nach aufgefasst, worauf er Petr Lwowjitsch herablassend auf die Schulter klopfte und von weiterer Beteiligung an seiner Studienreise entließ.

So nahm Petr Lwowjitsch den Dampfer der Sächsischen Schifffahrtsgesellschaft mit der Absicht die Elbe bis nach Hamburg runterzufahren und dann die Reise auf einem russischen Liner über die See fortzusetzen. Doch bereits auf der ruhigen Flussfahrt wurde er erbärmlich seekrank, worüber wir uns nicht wundern wollen, denn der Zustand des unaufhaltsamen Erbrechens entsprach am ehesten dem Bedürfnis seiner Seele, welche die widerwillig geschluckte giftige Erkenntnis hinauswürgte. Nun war an die Fahrt auf hohen Meereswellen gar nicht zu denken, der Geplagte stieg bereits in Dresden ans Ufer. Weiter ging es mit der Königlich Preußischen Ostbahn über Elsterwerda nach Berlin und dann im endlosen Zug nach Werschbolowo, wo das Russische Kaiserreich begann. Dort wurde auf die breite Schiene gewechselt und es kamen noch über fünfhundert Meilen bis Peterburg.

Je weiter ihn der Zug vom Ort seiner Belehrung entfernte, umso mehr zweifelte er an Schlussfolgerungen seines ärztlichen Mentors. „Natürlich war dieses arme Weib wahnsinnig, doch ihren Wahnsinn hat sie nicht von sich hinaus entwickelt, nicht sie hat das Irrsein in ihre widerliche Behausung mitgebracht, sondern es wurde ihr mit Grausamkeit eingepflanzt und die harmlose Bedürftigkeit ihrer Seele zum Üblen und Kranken gewendet und hochgesteigert zur Fallsucht. Aus dem Bestreben das Böse zu finden und zu bekämpfen hat der doctor, Gott möge ihm verzeihen, das Böse und Unreine erst produziert um es dann zum Gegenstand seiner Wissenschaft zu machen. Der mittelalterliche Spruch, dem nach es geringeres Leid bringe, den Feinden in die Hände zu fallen als dem Wundarzt, mag für unsere Mediziner immer noch gelten.“ Doch die Sorge um sein Mädchen pochte wie eine verunreinigte Wunde und ließ sich durch Selbstgespräche nicht lindern. Er war entschieden dagegen, in der seltsamen Liebe zum Schmerz ein Übel oder die Quelle des Übels zu sehen, aber eine besondere Zerbrechlichkeit solcher Gemüter und eine Neigung sich völlig beherrschen und leiten zu lassen wurde ihm bewusst und auch die darin liegende Gefahr.

Schlimmer jedoch als die Überlegungen war das Gefühl, - eine körperlich spürbare schmerzliche Vorahnung der Katastrophe, die ihn nach Übertritt der russischen Grenze ergriff, als er Russisch um sich hörte und seine Gedanken vom Begrifflichen und Rationalen des Deutschen ins dichterisch Ungenaue seiner Muttersprache entgleisten. Als er in staubigen Kleidern und reisemüde den Schmiedehof betrat, sprang ihm die klägliche Vernachlässigung und Kargheit der Wirtschaft ins Gesicht: so konnte der Haushalt eines alten Eigenbrötlers aussehen, dem keine pflegende Frauenhand zur Hilfe kam. Mit stechender Angst in der Brust lief er ins Haus hinein und sah den Schmied allein am ungedeckten Tisch hocken. „Maschenjka?“ flüsterte Petr Lwowjitsch tonlos vor Entsetzen. Als der junge Mann zu ihm mit reuiger Miene aufsah und mit dem umständlichen Gruß ausholte, der seinem Stand als Freibauer gar nicht entsprach: „Mein Herr, Dein Knecht bin ich“, hielt er es nicht aus und schrie mit erhobener zitternder Faust „Wo ist dein Weib, Vasilij?“ „Sie schläft, sie ist schwer leidend“, klagte er auf und machte Anstalten, sich Petr Lwowjisch vor die Füße zu werfen, was dieser, vom schrecklichsten Verdacht erlöst, mit ungelenken Bewegungen abwehrte.

Petr Lwowjitsch sah das Bubengesicht an, das weder durch den hübschen weizenfarbenen Vollbart, den er wachsen hat lassen, noch durch die raue, von Glut des Schmiedeeisens versengte Haut erwachsener wirkte. „Was auch immer passiert ist, ist es meine Schuld“, musste Petr Lwowjitsch denken, „arme Kinder.“ Er ersparte dem Jungen die übereilten Vorwürfe, die ihm auf der Zunge lagen, nahm sich zusammen, ersparte ihm selbst die bohrenden Fragen, ließ ihm Zeit, ließ ihn erzählen.

Nach dem kurzen süßen Honigmonde wurde die junge Frau immer mehr von seltsamer Unruhe geplagt und bedrängte Vasilij mit Geständnissen ihrer Schlechtigkeit und Schuld, die nach gerechter Strafe schrien, wie sie ihm flehend und fordernd deutete. Vasilij hörte geduldig und geneigt zu und wunderte sich maßlos über die Nichtigkeit der Vergehen, die seine Frau in den Zustand so rasender Reue versetzten. Er bat sie wiederholt zur Beichte zu gehen und verstand die Welt nicht mehr, als sie weinend vom Pfaffen zurückkehrte und ihn beschimpfte so geizig zu sein mit der Buße, dass er sie am ausgestreckten Arm verhungern lasse mit seinen paar Vaterunser und Ave Maria, wo doch ihr Körper, ihr armseliger schuldbeladener Körper büßen muss um leben, um atmen zu können. „So hoch – so hoch steht mir die Schuld zum Halse und würgt mich, dass ich nicht atmen kann. Dass ich daran vergehen muss, Vasilij!“ Hat sie geschrien. Es war der Satz, - Petr Lwowjitsch hatte ihn nicht vergessen, - mit dem sie bei ihm damals um ihre erste Züchtigung flehte und die süßen Ruten bekam aus seiner Hand. Doch der junge Ehemann verstand seine Maschenjka nicht und gab ihr anstatt der erlösenden Strafe nur hilflose Trostworte und hilflose Umarmungen.

In einer unseligen sternlosen Nacht wurden am herrschaftlichen Gut von böser Hand die Stallungen aufgesperrt und die Pferde kamen alle fort. Man suchte verzweifelt nach dem Missetäter, der den Pferdedieben Hilfe leistete, doch das Dorf stand den Gendarmen noch feindseliger gegenüber als jedem Dieb und begegnete ihren Fragen mit sturem und stumpfem Schweigen. Da lauerte Maschenjka dem Wachtmeister auf, als er zum abermaligen Ausforschungsversuch anreiste, und bekannte sich als Diebeshelferin, die dem nahe lagernden Zigeunertrupp den Schlüssel beschaffte. Ohne weitere Fragen wurde ihr wirres und lückenhaftes Geständnis als Beweis angenommen. Die Zigeuner waren samt Pferden längst dahin und ihre Verfolgung durch die endlosen Weiten völlig ohne Hoffnung. So war der Beamte Gott dankbar in diesem Fall wenigstens einen gefassten Verbrecher vorweisen und bestrafen zu können. Obwohl keiner ihre Schuld wirklich glaubte, obwohl der Pfaffe und die Ältesten des Dorfes für sie vorsprachen, oder vielleicht gerade deswegen, gab es für Maschenjka keine Gnade. „Wo der Sachverhalt so unklar und die Beweislage so wackelig“, dachte der Wachtmeister, „soll wenigstens die Strafe überdeutlich sein, damit dieser verdammte Fall irgendwie abgeschlossen ist. Vermutlich deckt das Weib ihren Buhlen oder jemanden aus der Verwandtschaft, das soll nicht meine Sorge sein. Der liederliche Schwachsinn wird sie schon reuen, da gebe was drauf.“

Maschenjka wurde zu einer schweren Prügelstrafe verurteilt, zu der sie völlig angstlos, mit einem vertrauensvollen Lächeln hinging wie eine kleine Heilige zu ihrem Martyrium. Das Urteil wurde vorgelesen und die Bauern, welche polizeilich angewiesen wurden, diesem Triumph der Staatsgewalt beizuwohnen, entsetzten sich über die Härte. Im Allgemeinen war eine Züchtigung keine Angelegenheit, die ihre Gemüter besonders aufregen konnte, vielmehr gehörte sie im Dorf zum alltäglichen Gebrauch und Kommunikation zwischen Vorgesetzt und Untertan; fast jeder von ihnen hatte den schneidenden kurzen Schmerz eines Rutenstreichs in Erinnerung und man müßte lügen, um diese Erinnerung als besonders dramatisch zu beschreiben. Doch diese Strafe hier galt auf Peitschenhiebe und ein gut gesetzter Schlag mit Nagaika - so wussten es die Männer - schleuderte einen Reiter aus dem Sattel. Entwürdigend und beschämend war für das Dorf die Einmischung der fremden städtischen Gewalt in eine Sache, in der sie sich nur ihrem Besitzer verantwortlich fühlten. In manchen Herzen kochte die Wut auf, doch die Scham und das Gefühl vom weit verreisten Herrn im Stich gelassen zu sein, nahm ihnen den Mut zum Widerstand.

Traumselig schaute Maschenjka ihre Henker an. „Habt doch Erbarmen, seht ihr nicht, dass sie irre ist?“ Rief jemand aus dem Volk. Als man ihr mit grober Hand die Kleider vom Körper riß, schrie sie wie aus tiefem Schlaf geweckt entsetzt und erstaunt auf, sie bekam Panik und wehrte sich in äußerster Verzweiflung; da packte sie einer der Gendarmen an den Haaren und warf mit so roher Gewalt auf die Strafbank, dass sie sich das Gesicht aufs Blut zerschlug; da verstummte sie auf einmal, als hätte man ihr die Stimmbänder durchgeschnitten, auch ihr Körper leistete keinen Widerstand mehr. Sie empfing die Schläge klaglos, ohne einen einzigen Schmerzlaut, doch keiner von den rumstehenden Männern bewunderte ihren Mut: auch die einfachsten Gemüter begriffen, dass es nicht die Tapferkeit ist, die ihr das Schreien genommen hat. Als man sie nach vollzogener Exekution von der Bank hob, war ihr Gesicht ohne Ausdruck und die Augen starr. Sie konnte selber, nur leicht gestützt, gehen, sah aber keinen Menschen an und sprach kein Wort, ihre Seele hat sich von der Welt abgewandt, die ihr so bittere Enttäuschung und Kränkung angetan hat. Seitdem ist ihre Befremdung so tief, dass sie einer Geistesumnachtung gleicht. – Am Leibe längst genesen, erhebt sie sich nicht vom Bett und hört weder auf das gute Zureden von Vasilij, noch auf Ermahnungen ihrer Mutter, nicht mal auf den Pfaffen, der mit der Krankensalbung kam.

„Bestien!“, Fluchte Petr Lwowjitsch, „Satrapen! Ich werde bis zum Zaren gehen! Bis zum Kaiser Alexander gehe ich, ihm werde ich berichten, dass hier das unschuldigste Kind, mein Gott, das unschuldigste Kind fast zu Tode geschlagen wurde. Ich verspreche Dir, Vasilij, ich schwöre Dir bei allem was mir Heilig ist, dass dieser Wachtmeister samt seinen Männern in sibirische Einöde, in die Eisenminen kommt. Und wenn mein ganzes Vermögen für Schmiergelder und Amtsgeschenke aufgeht, diese Bestien werden es mir büßen.“

„Ich hatte auch viel Zorn“, - der junge Schmied sprach leise und fast unglaubwürdig mild, „aber er ist mir mit Tränen rausgegangen in den langen Abenden mit ihr, als sie nicht tot und nicht lebendig neben mir lag und in die Leere sah. Was hilft es, wenn sie alle in den Eisenminen sterben?“
 



 
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