lietzensee
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Die Kapelle St. Rochus zu Wudinsdorf
Sie haben in Wudinsdorf schon alles gesehen? Der Urlaub auf dem Lande wird ihnen langweilig? In der Heimatstube können Sie die größte Pflaumenmuskelle Thüringens besichtigen. Falls sie auch die schon kennen, dann schauen Sie doch mal zur Kapelle St. Rochus. Am Friedhof folgen Sie dem kaputten Zaun bis zur Brücke über den Bach. Dann noch ein Stück die Wiese hinauf. Wenn im Sommer das Gras hoch steht, gibt es zumindest einen Trampelpfad. Ein paar Minuten geht es bergauf, bis Sie ins Schwitzen kommen, dann stehen sie vor der St. Rochus Kapelle. Die Aussicht von hier oben ist gut. Oder sie wäre gut, wenn jemand mal das Eschengehölz freischneiden würde. Ach, im Naturschutzgebiet fällen die Dörfler heimlich Bäume, doch das Gestrüpp hier lässt man wuchern. Sie müssen das nicht verstehen. So sind sie die Wudinsdorfer. Es ist ein Menschenschlag, der Fremden ungern Erklärungen gibt und die Früchte des eigenen Gartens vergöttert.
Gleich neben St. Rochus entspringt eine Quelle. Die ist nach den trockenen Sommern natürlich nur noch ein Schlammloch. Im Dorf beharrt man aber trotzig, dass die Quelle nie versiegen könne - und das beste Wasser zum Kaffeekochen liefere.
In dieser zutiefst evangelischen Gegend ist die Kapelle St. Rochus katholisch geblieben. Die Wudinsdorfer sind in Glaubensfragen besonders altmodisch. Seien Sie aber nicht enttäuscht, von außen sieht die Kapelle unscheinbar aus. Kein Fassadenschmuck, die Mauern sind etwas schief und das Dach bucklig. "Die Kapelle ist so wie wir", sagen alte Wudinsdorfer gerne. Sie begegnen Spott von Außenstehenden auf ihre ganz eigene Art.
Treten Sie ruhig ein, die Kapelle ist immer offen. Darauf legt man hier wert. Warten Sie, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt haben, dann sehen Sie sich um. Nein, barock ist diese Innenausstattung nicht. Wer hätte das auch bezahlen sollen? Wudinsdorf war immer arm, zu weit abgelegen von den Handelswegen aber nicht so versteckt, dass Plünderer es übersehen hätten. Die Fenster sind sehr hoch, sehr klein und unverglast. Im Innenraum stehen keine Bänke und eigentlich ist die Kapelle fast leer. Nur an der Stirnseite springt das Kreuz mit dem gemarterten Jesus Christus ins Auge. Dass er nicht mittig an der Wand hängt, stört hier keinen. Vögel fliegen durch die offenen Fensterchen aus und ein. Sie lassen ihre Hinterlassenschaften überall fallen. Aber welche Kirche hat schon zu bieten, dass über dem Sohn Gottes eine leibhaftige Taube thront?
Der Zustand der Kapelle hat mal den Zorn des Bischofs erregt. "In der Kapelle St. Rochus", schrieb er in einem Brief an die Gemeinde, "ist der Dreck eine Schande." Die Wudinsdorfer aber lassen sich von außen nicht reinreden. "Das ist vierzig Jahre lang viel zu oft passiert", sagen sie immer und wollen von niemanden Vorschriften, wie sie private Andachten zu gestalten haben. Süffisant antworteten sie dem Bischof, dass Jesus im Dreck auf dem Land lebte. Aber in der prunkvollen Stadt wurde er ermordet.
Betrachten sie das Kruzifix genauer. Es ist nicht schön, aber durchaus interessant. Haben Sie sowas schon mal gesehen? Die Züge des Leidenden sind grob geschnitzt und sein Gesichtsausdruck dadurch schwer zu deuten. Wie seltsam verdreht der Körper scheint. Selbst hier im Ort gibt man zu, dass ihn kein großer Künstler aus dem Kiefernholz geschnitten hat. Aber gerade darum gehört das Kruzifix für die Leute im Dorf hierher.
Ja, die Wudinsdorfer sind stur. Wollen Sie noch einen Beweis, dann drehen sie sich um. Nicht erschrecken! Als Sie hereinkamen, hatten Sie die schiefe Tür ja im Rücken und konnten nicht sehen, was darüber hängt. Jetzt starren sie in ein halb verkohltes Gesicht. Die Nase fehlt, ein Auge ist schwarz verkrustet, aber das Andere blickt noch blau und leidend. Es ist die Mutter Gottes - oder was von ihr übrig ist. Die Stürme der Zeiten haben um Wudinsdorf nie einen Bogen gemacht. Die offizielle Geschichtsschreibung formuliert zarter: "Hier wehte der Geist der Reformation." Vor fünfhundert Jahren nämlich, die Wudinsdorfer glauben noch zu wissen, dass es in einer Neumondnacht war, überfielen Bilderstürmer die Kapelle. Zuvor waren in einer nahen Kleinstadt Prediger aufgetaucht. Fanatisiert von Ideen aus Wittenberg, hatten sie den angeblichen Willen Gottes verkündet. Darauf wollte der Pöbel dessen Haus demolieren. Aber nicht die Stiftskirche der Stadt hat man angegriffen, nicht deren vergoldeten Altar. Nein, man schlich durch Nacht und Gehölz zu St. Rochus. Am nächsten Morgen bargen die Wudinsdorfer ihre Maria aus einem Scheiterhaufens und hängten sie einfach wieder über die Tür. Dort hängt sie nun, seit 500 Jahren. Eine Restaurierung lehnen alle im Dorf ab. Maria erinnert sie daran, was man von Fremden zu erwarten hat.
Von der Kapelle St. Rochus hat man nie Postkarten gedruckt. Dafür ist sie zu unansehnlich. Aber im Vertrauen, es ist schade, dass ihr Besuch in den Sommer fällt. Kein Tourist bleibt ja in Wudinsdorf, wenn die Herbstwinde einsetzen. Dann erst wird es um die Kapelle lebhafter. Menschen kommen, Arm in Arm und meist direkt von den Feldgärten. Dabei tragen sie keine Sonntagskleidung.
Gummistiefel hinterlassen feuchte Erde, Laub und Samen auf dem Kapellenboden. Der Bischof fände den Dreck sicher schrecklich. Jesus selbst aber hat das Senfkorn und den fruchtbaren Boden gepriesen. Diese Besuche steigern sich bis zum Sankt Michaelstag. Dann feiern die Wudinsdorfer Erntedank. Sie feiern, wie man es nirgendwo sonst tut, hier im Dorf aber schon immer getan hat. Junge Burschen schleppen eine Erntefigur in die Kapelle. Die ist gebunden aus Ähren, Rüben und Pflaumenzweigen. Die Figur ist groß. So groß, dass man sie durch die kleine Kapellentür pressen muss. Der Türsturz klebt dann von Pflaumensaft.
Andächtig platzieren sie die Erntefigur auf einem Klotz mittig vor der Giebelwand. Leute wie Sie wären erstaunt. Aber die Wudinsdorfer bleiben lieber unter sich, wenn ihre Erntefigur die Kapelle ausfüllt. Sie gibt dem Raum Schmuck, ja Festlichkeit. Schweigend entzünden sie davor eine Kerze. Selbst das unförmige Kruzifix wirkt am Rand nun nicht mehr deplatziert. Im Flackern der Flamme scheint Jesus sich vor der Figur zu verbeugen.