Die Ketama Connection, Kapitel 1 (Teil 1)

Peter

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I
Ich war seit gut zwei Jahren eingebürgert. Seitdem lebte ich von der Stütze, und was mir an Kohle fehlte, holte ich mit gelegentlicher Schwarzarbeit als Fleischer und beim Zocken rein. Ich lebte nicht schlecht. Bis zum 10. März 1986 jedenfalls, jenem unglückseligen Tag, an dem mich das Fell so sehr juckte, dass ich auf alle meine Prinzipien schiss.
Die Stütze war aufgebraucht, beim Fleischer lief seit Wochen nichts und die zahlungsfreudigen Zocker waren wie vom Erdboden verschluckt. Ich sah es als einen Wink des Schicksals, dass ich an diesem zehnten März von einer Kneipe irgendwo am Westfalendamm hörte, in der beim Zocken die große Kohle den Besitzer wechselte. Zu allem Überfluss auch noch bei meinem Spiel, beim Siebzehnundvier. Es juckte mich wie gesagt gewaltig, und ich verließ Ost-Ende (Ein Stadtteil Herdeckes, der direkt an Dortmund angrenzt) auf meiner RS 500 allein mit der Information „Zockerkneipe am Westfalendamm hinter der Jet-Tankstelle“ und mit 100 Mark in der Tasche fluchtartig. Die Kneipe war schnell gefunden und entpuppte sich zu meinem Entsetzen als ein Balkan-Restaurant.
Ich strich um die Kneipe herum wie die Katze um den heißen Brei. Sollte ich oder sollte ich nicht? Mein Startkapital lag mir mit einem Mal bleischwer auf dem Gewissen. Es war eine freundliche Beihilfe Luis, der mich in den Arsch treten wollte, wenn ich nicht gewann. Ich sah Lui zwar nur noch sporadisch, seit ich nicht mehr in Selm wohnte. Aber Freunde bleiben Freunde. Hätte er geahnt, dass der große Zock in einem Jugo-Laden stattfand, hätte mir was erzählt. Und hätte ich es vorher gewusst, wäre ich nie dort hinzufahren.
Das alles hatte einen guten Grund, und der hieß Ljubiša Petrovi?. Wegen ihm und seiner „Angestellten“ hatte ich zwölf Jahre lang keinen Fuß in ein jugoslawisches Restaurant gesetzt und jeden Kontakt mit Landsleuten gemieden. Ich hätte nicht dort sein sollen!
„Nun bist du aber hier, Igor!“ flüsterte mir eine herausfordernd süße Stimme zu. Das Jucken war längst in seelische Pein übergegangen und lies mich mit Bauchkrämpfen auf meinem Motorradhelm sitzen.

*

Anfang `73 hatten wir in Mostar Wind von einem Regierungswechsel in Dortmund bekommen. Mit Ljubiša Petrovi? war ein wie es hieß äußerst schräger Vogel an die Macht gekommen war, der nicht nur der jugoslawischen Gastronomie im Nacken saß. Weil die griechischen Händler und Gastwirte keiner Verwaltung unterstanden und Ljubiša nichts mehr hasste als Anarchie, saßen sie mit im Boot. In Ljubišas Boot.
Wir waren in Bosnien bestens über Petrovi? informiert. Wir wussten, dass er an jeder Straßenecke seine serbische Abstammung betonte – was zu der Zeit noch ungewöhnlich war - und dass er jedes jugoslawische und griechische Restaurant, das er betrat, zu serbischem Territorium erklärte. Auf diesem Grund und Boden hatte ein Mazedonier oder Kroate wenig und ein Grieche gar nichts zu melden – was nur bestätigte, dass der schräge Vogel eine Riesenmeise hatte. Hinter vorgehaltener Hand nannte man den König bald nur noch „die serbische Schabe“.
Unseren Quellen zufolge konnte ein kleiner jugoslawischer Scheißer im Großraum Dortmund allerdings vom König unbehelligt leben und arbeiten, zum Beispiel unter Tage oder bei der Müllabfuhr - und das wiederum war zu der Zeit auch ungewöhnlich. Man denke nur an die Reaktion des Münchener Königs Mirko Suni?, als sich der Salzburger König im Süden von Suni?´ Reich breitmachte. König Mirko rekrutierte kurzerhand die Jugos aus den Vororten und ließ sie die Restaurants und Nobelkarossen des Konkurrenten abfackeln. Dies- und jenseits der Grenze. Und wehe, wenn einer in den Stoßtrupps nicht spurte oder gar desertierte! Wehe seiner Familie! Und wehe dem Rest der Truppe! Die Könige in Aachen und Kiel reagierten ähnlich angepisst auf Übergriffe aus Belgien oder Dänemark. Über Ljubiša hörten wir so etwas damals nicht. Er ließ das einfache Volk wie schon gesagt in Ruhe.
Als ich im Sommer 1974 in Mostar den Boden unter den Füßen verlor, floh ich Hals über Kopf nach Deutschland, weil Deutsch unsere erste Fremdsprache war. Zumindest die inoffizielle wegen der Touristen. Und die Dortmunder Gegend schien ein sicherer Ort zu sein wegen oder trotz Ljubiša Petrovi?, der den „kleinen Mann“ in Frieden ließ, auch wenn dieser Einssechsundneunzig groß war. Und ich brauchte nichts mehr als Frieden!

*

Ich wollte einfach nur weg sein. Weit weg von den Menschen, die ich kannte und weit weg von mir selbst. Also hielt ich mich in Dortmund gar nicht lange auf, sondern stieg am Hauptbahnhof direkt in einen Regionalbus um und fuhr aufs platte Land. Das Städtchen Selm war weit genug vom Schuss und von Bauernschaften umgeben. Ich stieg aus und hatte binnen einer Stunde einem Bauern gefunden, bei dem ich gegen Kost und Logis arbeiten konnte. Schon am ersten Tag wurde ich quasi seine rechte Hand, was auch Sinn machte, da der arme Kerl, er hieß Karl, im Krieg den rechten Arm verloren hatte. Nach der Feldarbeit ließ er mich in Ruhe meine Wunden lecken, sprich ich konnte mich volllaufen lassen. Meine Kammer verließ ich nur, um ich aufs Klo zu gehen oder um Schnaps zu kaufen.
Das Heimweh nahm auf meinen Kummer allerdings keine Rücksicht und drängte mich keine Woche später in einen Regionalbus nach Dortmund. Ich hatte Sehnsucht nach heimatlichen Gesprächen, Gerüchen, Gerichten und Getränken.
Samstagnachmittag, Eving, Endstation. Die drei Typen auf einer Bank bei der Tankstelle gegenüber fielen mir sofort auf: Ein kleiner Dicker mit Vollbart, akkuratem Seitenscheitel und Hornbrille, ein hohlwangiger langer Lulatsch mit Glatze und ein bullig-untersetzter Kerl mit einer nicht-angeborenen Hakennase, an dem seit Jahren kein Friseur etwas verdient hatte. Die drei passten unter normalen Umständen nicht zusammen, aber sie hatten zwei Dinge gemeinsam: Den Blaumann, den sie würdelos wie eine Häftlingskluft trugen und die matten ins Nichts starrenden Augen. Zu sagen hatten sich gerade auch nicht viel. Ich war davon überzeugt, dass sie Jugos waren und marschierte geradewegs über die Straße auf sie zu.
„Pozdrav! Gdje si ti?“ (Kroatisch „Hallo, wo kommt ihr her?“)
Die Männer sahen mich erschrocken an. Sie verstanden mich also, was ja an sich ein gutes Zeichen war, aber was dann folgte … Sie sprangen auf, und ehe ich mich versah, wurde ich von der Straße weg auf einen schmalen Trampelpfad gedrängt, der sich durch die Büsche hinter der Tankstelle schlängelte. Der Pfad endete an einem Park. Die Drei von der Tankstelle schoben mich auf einen der öffentlichen Wege. Es sollte wie ein zwangloser Spaziergang von Freunden aussehen, nahm sich aber aus wie der Marsch eines Spezialkommandos durch Feindesland. Sie tasteten sich geduckt und langsam vor, wobei Hohlwange als Späher fungierte, Hornbrille mich deckte und Hakennase als Nachhut auf mögliche Hinterhalte achtete.
„Nicht gut, kroatisch zu sprechen!“ keuchte Horni leise und wechselte augenblicklich das Thema, als er neben einer Parkbank ein knutschendes Pärchen rumstehen sah.
„Nicht wahr, Walter“, plauderte er mit einem Mal so laut, dass das Pärchen aufschreckte, „das Wetter ist einfach zu herrlich, um sich nach einer Sonderschicht am Samstag gleich aufs Sofa zu hauen.“
Das Liebespaar zeigte uns einen Scheibenwischer und lachte. Der Himmel war dunkel und wolkenverhangen, der letzte Regenschauer hatte aufgehört, als mein Bus in Eving auf die Endstation zusteuerte.
„Recht hast du, Anton!“ gab Hohlwange ebenso laut zurück, ohne sich umzudrehen. Der Himmel kommentierte das blöde Gerede mit dumpfem Grollen.
„Du … bist neu … hier, … oder?“ fragte die Hornbrille stoßartig, als wir das Pärchen hinter uns gelassen hatten und sah mich mit großen, besorgten Augen an. Er war dem Kollaps nahe. Die anderen drehten von Angst getrieben die Köpfe ständig in alle Richtungen und spähten die Gegend aus.
Ich nickte einfach nur und war froh, dass uns keine Menschenseele mehr über den Weg lief. Auch die Straße, die wir bald betraten, war von einigen wenigen Autofahrern abgesehen menschenleer. Nicht, dass dieser Umstand etwas am paranoiden Verhalten meiner Landsleute geändert hätte. Sie stahlen sich wortlos an einer Häuserreihe entlang. Die Typen waren ansteckend, und ich musste mich sehr beherrschen, nicht ebenfalls geduckt zu gehen. Und sie waren so peinlich: Während der Dünne sich vortastete und der Dicke verstohlen jedes parkende Auto musterte, lief der Breite beim Ausspähen der Balkone gegen einen Briefkasten.
„Da hin!“ keuchte der Dicke. Seine ersten Worte nach dem Gequassel im Park. Er zeigte auf eine Pizzeria. Unfassbar! Wollten die mich allen Ernstes zu Pizza oder Pasta einladen? Und das bei meinem Heimweh? Was war mit Pita oder Baklava?
Sie betraten die Pizzeria mit dem Rücken zur Tür … und als die Tür mit leisem Klack hinter ihnen ins Schloss fiel, kippten bei ihnen alle Hebel auf „normal“ um: Hier ein Gruß an den Wirt, dort ein anzügliches Kompliment an die dralle Kellnerin, und an der Theke bestellten sie lautstark, bei einem Italiener wohlgemerkt, auf Kroatisch mit bosnischem Akzent Sliwowitz und Pivo vorweg und zum Essen Sarma mit Petersilienkartoffeln und eine Flasche Steinwein.
Mein Appetit war vergangen. Ich verlangte Aufklärung, kein Essen. Als die Teller mit dampfendem Essen serviert wurden, schob ich meinen gleich zur Seite und schaute das Trio böse und fragend an.
Die Hornbrille sah kurz auf und nickte verständnisvoll.
„Also“, sagte er zwischen zwei Bissen, „du solltest erst mal essen. Du bist eingeladen. Schon mal was von Höflichkeit gehört? Ich heiße übrigens Ante. Und der Typ neben dir“ – er zeigte auf den Lulatsch – „zu dem ich immer aufschauen muss, ist Erik. Und Dario ist der, der nur spricht, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“
Er betupfte seine Lippen gekonnt weltmännisch mit der Serviette.
„Ich weiß, dass wir uns draußen völlig bescheuert benommen haben, aber das ‚warum und wieso‘ besprechen wir nach dem Essen, klar? Jesti, brate (Kroatisch: „Iss, Bruder!“) !“
Also gut. Wir aßen schweigend. Die Aufklärung musste warten, bis auch Dario gesättigt war, der Nachschlag verlangte.
Als er rülpsend seinen Teller zur Seite schob, orderte Ante für uns Kaffee. Er lehnte sich auf seinem Stuhl gemütlich zurück, legte wartend seine Hände auf den Bauch, der die Nähte des Blaumanns gefährlich strapazierte.
„Weißt du …“, sprach er wie zu sich selbst, als der Kaffee endlich vor uns stand, führte seine Tasse grazil, den kleinen Finger abgespreizt, zum Mund und trank erst einen Schluck, bevor er weitersprach. „Bei einem Kaffee lässt sich besser reden. Beziehungsweise fragen, brate! Und mich bewegt gerade eins …“ Er stellte die Tasse vorsichtig ab, fixierte mich und fragte plötzlich scharf:
„Wer oder was hat dich auf die bescheuerte Idee gebracht, hierher zu kommen?“
Ich haute reflexartig beide Handflächen gegen die Tischkante. Die Wucht konnte ich gerade noch bremsen und rammte ihm den Tisch nicht in den Bauch. Knarrend schob ich meinen Stuhl nach hinten und stand langsam mit geballten Fäusten auf.
„Ich stelle hier die Fragen!“ zischte ich. „Und wenn mir die Antworten gefallen, kommst du hier heile raus!“
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Dario sich bückte und ein Messer aus seinem Stiefel zog. Gebückt wie er war packte ich ihn im Nacken und haute seinen Kopf, besser gesagt seine Nase auf die Tischplatte.
„Her damit!“ forderte ich das Messer, ohne die anderen aus den Augen zu lassen. Er schob es mir stöhnend mit dem Griff zuerst rüber und hielt sich seinen blutenden Zinken. Ich schaute finster in die Runde. „Möchte noch jemand etwas abgeben?“
Ante saß leichenblass und mit offenem Mund da. Eriks Adamsapfel hüpfte beim nervösen Schlucken auf und ab. Dario war mit seiner Nase beschäftigt. Ich nahm mir vor, in einer Kneipe oder einem Restaurant nie mehr mit dem Rücken zum Raum zu sitzen. Weil ich den Wirt nicht im Blick hatte und nur hörte, wie er hinter mir an der Theke mit dem Telefon hantierte.
Ich hielt das Messer noch in der Hand und befahl dem Dicken:
„Sag dem Wirt, wenn er hier keine Schweinerei haben will, soll er den Hörer auflegen!“
 



 
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