Die Ketama Connection, Kapitel 3 (Teil 5)

Peter

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Ich hörte, wie Frau Menke in ihre Wohnung zurückstöckelte. An der Haustür rüttelte es, wie es eben rüttelt, wenn Zweimaleinmeter Einlass begehren. Ich nutzte den Krach, um die Wohnungstür von innen abzuschließen. Schaffte es gerade noch, im Mondschein die Reste der Taschenlampe aufzusammeln. Wo lagen die Batterien?
„Der Krankenwagen ist gleich da.“ war die fiepende Stimme wieder zu hören. „Ich gehe jetzt hoch in die Wohnung ihres Bruders.“ Und einen Ton schriller: „Und hören Sie gefälligst auf, hier so einen Lärm zu machen!“
Tock … tock … tock bewegte sie sich langsam auf die Treppe zu.
Scheiß auf die Batterien! Ich musste dringend mal weg. Frau Menke brauchte etwas mehr als eine Minute, bis sie oben war. Dank der Arthrose. Ich schlich in die Küche.
„Verflixt aber auch!“ klang es von der Treppe her. „Ich habe den Schlüssel vergessen!“ Tock … tock … tock zurück zu ihrer Wohnung.
In der Küchenschublade hatte ich ein gutes Fleischmesser liegen. Ich rollte es für alle Fälle in ein Küchenhandtuch ein und schob mir die Rolle unter die Motorradjacke. Dann war ich auch schon sozusagen auf dem Sprung. Zwischen dem Fenster im Badezimmer und dem Rasen unter mir befanden sich mehr als drei Meter Luft. Auf halber Höhe war ein Mauervorsprung. Dorthin hatte ich mich gerade gehangelt, als Frau Menke die Wohnungstür aufschloss. Ich sprang runter und war im Nu hinter einer Hecke verschwunden. In der Ferne ertönte die Sirene des Krankenwagens.
„Herr Messick? Sind Sie da?“ schallte es leise durch das offene Badezimmerfenster.
Eine Glatze kam selten allein. Saßen die beiden anderen im Pullmann oder …? Ich kroch auf allen vieren zum vorderen Gartentor. Da stand ihr Wagen. Mein feiner „Bruder“ kam um die Ecke und pfiff leise. Dann rief er halblaut:
„?????, ????? ?? ?? ????????!“ (Serbisch: „Los, lasst uns verschwinden!“)
Die Richtung, aus der sie zum Pullmann liefen, gefiel mir nicht. Sie kamen von dort, wo Lui wartete. Ich warf mich hinter die Hecke und wartete, bis die Schränke sich vom Acker gemacht hatten.
Frau Menke stand verstört am Gehweg und rief:
„Herr Messick, wo sind Sie denn auf einmal?“
Der Krankenwagen kam angeschossen. Die Sanitäter stiegen aus und überhäuften die arme Frau mit Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Es gab keinen Bewusstlosen, und der besorgte Bruder war auf einmal weg. Ich kroch aus dem Garten und ging leise, vom Krankenwagen verdeckt die Straße runter zu unseren Fahrzeugen. Von Lui keine Spur. Als ich neben seiner Kuh stand, kam er breitbeinig aus dem Wald.
„Mensch Lui, ich dachte…“
„Halt bloß die Klappe, Igor!“ fauchte er stinksauer und schnallte die Packtaschen von seinem Bock. „Fahr zur nächsten Tanke und kauf so viel Bier, wie du tragen kannst! Das bist du mir schuldig. Wir treffen uns dann mir!“
Sprachs, setzte seinen Helm auf und verschwand.

*

Versucht mal, um zwei Uhr eine Tankstelle zu finden, bei der ihr noch Bier kaufen könnt! Immerhin schreiben wir 1986. Das klappte nur an Autobahnraststätten. Glücklicherweise lag die nächste fast auf dem Weg an der A 40. Ich gehorchte Lui aufs Wort und packte die beiden Taschen voll. Und für mich 1 l Cola. Ich musste einen klaren Kopf behalten. Das Ganze kostete mich mehr Geld, als mir lieb war. Gegen drei Uhr schlug ich bei Lui auf.
Der hatte sich inzwischen fast schon wieder abgeregt. Ich spürte aber, dass noch etwas in ihm arbeitete. Lui nahm sich ein Bier und grummelte:
„Mann, ich dachte du hast eine 30-Quadratmeter-Butze. Hat ja gedauert, als hättest du einen Palast auf den Kopf gestellt. Und
was sollte das mit dem Krankenwagen?“
Ich grinste und zeugte meinem alten neuen Reisepass.
„Hat halt etwas länger gedauert. Außerdem kamen mir die Glatze und Frau Menke in die Quere. Ich weiß gar nicht, was ich ihr erzählen soll, wenn ich der wieder unter die Augen trete. Immerhin hat sich mein so genannter Bruder vor der Haustür ziemlich danebenbenommen. Schätze, ich brauch nach Marokko ´ne neue Bleibe. Kannst ja schon in die Zeitung gucken und mir was Nettes raussuchen, während ich in Marokko rumhänge.“
Lui grinste schief und prostete mit zu:
„Geht klar, Mann!“
„Das mit dem Krankenwagen war übrigens ihre Idee. Die Glatze hat an der Haustür das Blaue vom Himmel herunter gelogen, damit sie ihn rein lässt. Er wollte mich auf dem schnellsten Weg zu einer Notfallbehandlung ins Krankenhaus bringen kann. Weil ich selbstmordgefährdet bin und bestimmt schon wieder eine Überdosis Tabletten genommen habe. Er und meine beiden anderen Brüder und der Vati machen sich ernsthaft Sorgen um mich, musst du wissen. Tja, Frau Menke hat ihn stumpf vor der Tür stehen lassen und die 112 gewählt. Taffe Frau. Schade, dass ich da bald wieder ausziehen muss.“ Ich schaute ihn fragend an. „Und was war mit dir? Warum warst du so angepisst?“
Da kam seine Wut langsam wieder hoch. Er griff sich ein neues Bier und schaute mich bitterböse und mit feuchten Augen an.
„Ich hab´ mehr als 2 Stunden auf dich gewartet, Alter. Und hab´ mir
die ganze Zeit das Scheißen verkniffen. Irgendwann musste ich einfach in den Wald gehen. Genau in dem Moment schwebte Ljubišas Luxuslimousine heran und stoppte vor unseren Karren. Ich stand gerade mal drei Meter entfernt hinter einem Baum und rührte mich nicht vom Fleck. Zwei der Serben stiegen aus. Sie checkten, ob die Motorhaube und der Auspuff meiner BMW heiß waren. Waren sie natürlich nicht, hatten ja schon zwei Stunden Zeit zum Abkühlen gehabt. Sie gaben dem dritten Serben ein Zeichen. Der fuhr dann bei dir vor. Die beiden blieben ratlos vor meinem Bock stehen. Einer hob meinen Helm von der Sitzbank. Sie unterhielten sich leise. Hab natürlich kein Wort verstanden. Vermutlich fragten sie sich, wo ich war. Sie gingen nicht in den Wald, um mich zu suchen. Hatten wohl keine Taschenlampen dabei. Ich stand wie gesagt gerade mal drei Meter von ihnen entfernt und schwitzte Blut und Wasser. Weil ich einen Wahnsinnsdruck im Hintern hatte. Ich konnte mir aber unmöglich die Hosen runterziehen und mich hinhocken. Keinen Mucks konnte ich machen. Sonst hätten die mich beim Kacken erwischt. Ich hab´s dann irgendwann nicht mehr ausgehalten und mir stumpf im Stehen in die Hosen geschissen. Weißt du eigentlich, wie Scheiße sich das anfühlt? Ich war gerade fertig, da wurden die beiden von ihrem Kumpel zurückgepfiffen. Geiles Timing! Ich bin im Stehen nach Hause gefahren und habe vor Wut geflennt!“
Lui fing an zu weinen. Er stand ruckartig auf und ging ins Badezimmer.
Scheiße nein! Ich saß wie versteinert mit meiner Cola in der Hand auf dem Sofa und suchte nach den passenden Worten. Eine Träne lief mir über die Wange. Ich wischte sie ab, schniefte und sagte leise:
„Lui, danke! Du bist echt der Held!“
„Weiß ich, du Arsch!“ antwortete er ebenso leise und kam zurück. Ich stand auf und wir lagen uns minutenlang in den Armen. Dann löste er sich und schaute mich an.
„Hör zu“, meinte er mit bebendem Gesicht und klatschte mir mit der flachen Hand auf die Brust, „du kannst da nix für. Ich hab´ versprochen, dir zu helfen! Dazu stehe ich, egal was mir vorhin passiert ist. Du trinkst Cola, also hast du heute Nacht noch was vor. Schieß los!“
Lui ist echt ein Freund.

*
Ich fuhr mit Luis Bock nach Dortmund. Mit dem Motorrad konnte ich besser türmen, wenn es Schwierigkeiten gab. Es war noch dunkel, die Straßen waren wie ausgestorben und ich war auf die Suche nach einem Satz französischer oder spanischer Autokennzeichen. Und nach deutschen Kennzeichen mit diesen komischen Siegelnäpfen. Lui hatte mir dringend geraten, auch nach Autos aus München oder Kassel zu suchen. Außerdem sollte ich auch noch zwei Dortmunder Kennzeichen klauen. Erfolglos hatte er versucht, mir das „Warum und Wozu“ zu erklären. Ich war einfach zu schwer von Kapee gewesen. Nach dem dritten Versuch hatte er genervt auf die Uhr gesehen.
„Mann, du musst los! Vertrau mir und tu einfach mal das, was man dir sagt!“
Ich graste die unbewachten Parkplätze und die Seitenstraßen rund um die größeren Hotels ab. In der Nähe vom Hotel Römischer Kaiser wurde ich fündig. Einträchtig hintereinander standen dort in der Kleppingstraße ein französischer Audi, ein Münchener BMW und eine Dortmunder Schrottkiste. Wie für mich bestellt.
In der Morgendämmerung stand ich mit meiner Beute glücklich und hundemüde vor einem besoffenen Lui, der kein Auge zugetan und das gesamte Bier vernichtet hatte.
„Okay, Igor“, lallte er, „hassu fein gemacht. Un´ nu` mach, wassu will´s. Ich hau mich ins Bett!“
Ich machte, was ich wollte und schlief auf seinem Sofa.

*

Sonntagsbrunch um 3 Uhr nachmittags. Lui war wieder voll gut drauf und sabbelte mich mit allem möglichen Zeug voll. Keine Ahnung, was er da von sich gab. Er merkte irgendwie auch nicht, dass ich nicht reagierte. Ich hatte schlecht geschlafen. Das Sofa war zu kurz für mich und ich hatte keine Decke. Außerdem war ich von einem blöden Traum nach dem anderen aufgewacht. Da waren Monster im Zweireiher, die mir mit Autokennzeichen die Hand absägten. Danach wehrte ich mich mit einer Hand und einem blutigen Stumpf gegen drei serbische Sanitäter, die mich in einen Krankenwagen stoßen wollten. Im dritten Traum schoss mir in Marokko ein Drogenboss in den Rücken schoss, als ich weglaufen wollte. Es war dieses merkwürdige Laufen im Traum, bei dem man nicht von der Stelle kommt. Neben mir brannte ein /8er lichterloh. Eigentlich wollte ich Luis Kühlschrank leerfressen, hatte aber keinen Hunger. Ich saß vor meiner fünften Tasse Kaffee und konnte Luis Wortschwall nicht mehr am Kopf haben.
„Kannst du nicht mal für fünf Minuten einfach die Klappe halten?“
Lui schaute auf seine Uhr und schwieg. Herrlich! Wenn doch die Zeit in Deutschland auch dehnbar wäre!
„Bist du dann soweit, dass wir übers Geschäftliche reden können?“
Die fünf Minuten waren um. Schade. Ich nickte müde.
„Ok“, fuhr Lui fort, „ich erklär dir die Sache mit den Schildern dann noch Mal für Doofe. Eine Frage vorweg: Du weißt, warum die die französischen Kennzeichen brauchst?“
Ich nickte wieder müde.
„Gut! Dann muss ich nicht für total Doofe erklären. Also, du lieferst den Wagen mit französischen Kennzeichen ab. Die Marokkaner fragen dich in welcher Sprache auch immer ‚Eh Mann, was sind das für Schilder? Der Wagen sollte doch aus Deutschland kommen!‘ Du zeigst denen den Fahrzeugbrief. Das stellt die Gauner nicht zufrieden. Könnten ja die echten Papiere und das falsche Auto sein. Nun gut, denkst du ‚bevor die sich ins Hemd pissen und nicht zahlen, zieh ich eben die deutschen Schilder aus dem Hut. Die kassieren die Burschen dann ein. Nun glauben sie dir. Du willst die Kennzeichen auch gar nicht wiederhaben. Wozu auch? Ratzfatz reißen sie die französischen Bleche runter und nageln geklaute marokkanische dran. Nun mal angenommen, die haben dir Falschgeld untergejubelt: Du kannst echte Dollar nicht von Blüten unterscheiden. Das merkst du erst beim Umtausch. Und dann wird´s peinlich für dich. Oder was viel wahrscheinlicher ist: Die halten dir ´ne Wumme unter die Nase und sagen ‚Ciao, bello!‘ Vielleicht haun´n die dann einfach ab. Vielleicht verpassen sie dir aber auch eine Kugel, bevor sie abhauen. Im letzteren Fall musst du dir dann keine Sorgen um gar nix mehr machen. Aber ersten Fall … ich kenne dich zu gut. Du wirst versuchen, dir das Auto wieder unter den Nagel zu reißen, auch wenn du dabei Kopf und Kragen riskierst!“
Ich hob den Finger zum Einspruch. Lui schüttelte energisch den Kopf. Einspruch abgelehnt.
„Hör mir einfach nur zu, Igor. Natürlich hast du bis dahin alles bis in kleinste Detail geplant und gecheckt. Keine Frage! Aber nun denk mal nach! Wie viele Zufälle haben dir in den letzten Tagen in die Hände gespielt? Da sind Sachen gelaufen, mit denen du nicht rechnen konntest. Du bist dem Langen über den Weg gelaufen. Du hast auf einmal einen zweiten Reisepass. Wir haben beim Idiotenzock mehr Kohle verdient als gedacht. In der Brackeler Straße 3 stand eine Wohnung leer und bei deinem Bauern auch. Soll ich weiter aufzählen?“
Ich winkte ab.
„Was meinst du nun“, dozierte Lui weiter, „wie viele Zufälle noch deinen Gegnern in die Karten spielen werden? Wenn zum Beispiel das Café, das du als Übergabeort bestimmst, am Tag X dummerweise geschlossen ist und der Deal auf offener Straße abläuft …“
Ich haute auf den Tisch und herrschte ihn an:
„Lui, du übertreibst. Das kann doch keiner im Vorfeld checken! Soll ich etwa einen Plan C, einen Plan D und einen Plan E ausfeilen? Für den Fall jedes Falles?“ Ich zeigte ihm einen Scheibenwischer.
 



 
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