IV
Aaron Petrovi? war ein wütender Mann. Voller Hass auf beinahe alles und jeden. Das führte immer wieder zu Entgleisungen und störte die Ruhe im Ort und vor allem den schnapsseligen Frieden in der einzigen Schänke des Dorfes empfindlich. Auf den Punkt gebracht hielt man Aaron in dem Örtchen, das sich so heroisch wie unaussprechlich ??????? ?????? oder Tvr?ava Srbija (serbisch/kroatisch: Festung Serbiens) nennt und deshalb im Weiteren nur noch „das Dorf“ heißt, für ein ausgemachtes Arschloch. Dass die Leute seine Eskapaden mal gütig, mal beherrscht durchatmend hinnahmen, lag einzig an Aarons Vater. Der kurz vor Kriegsende verstorbene Attila Petrovi? – im Dorf sprach man vom heldenhaft Gefallenen – war einst ihr Bürgermeister gewesen und ein unerschrockener Kämpfer für die serbische Sache. Damals, kurz vor seinem Ableben, hatten sie ihm über seinen Tod hinaus Treue und Ehre geschworen, was nichts anderes bedeutete, als dass dieser Schwur auch seinen Kindern und Kindeskindern galt. Die wenigen Ältesten des Dorfes, die sowohl die Kampfeinsätze an der Seite Attilas als auch den Nazi-Terror überlebt hatten, mussten von niemandem an dieses Gelübde erinnert werden. Auch nicht von Aaron. Sie hätten Aaron sogar eine Waisenrente zukommen lassen. Glücklicherweise führte der Sohn des großen Attilas, der sich handwerklich ungeschickt und als Landwirt ungeeignet zeigte, die Geschäfte seines Vaters weiter und kam ohne finanzielle Unterstützung aus. Da Aaron erst sechzehn Jahre alt gewesen war, als sein Vater 1943 den Deutschen in die Hände fiel, wurde das Amt des Bürgermeisters dem damals jungen Dorflehrer Adrijan Kova?i? angetragen. Und insgeheim hofften alle, dass Adrijan ewig leben oder zumindest Aaron überleben würde, damit Attilas Amt nicht irgendwann doch noch dem einzigen Sohn zufiel. Vielleicht hatte man ja mit den Enkeln Attilas mehr Glück. Aarons Gebaren gab allerdings wenig Anlass zur Hoffnung, denn ein Apfel würde auch in jenem serbischen Dorf nicht allzu weit vom Stamm fallen. So trugen und ertrugen die Leute es still in ihren Herzen und bemühten sich geradezu übermenschlich, den missratenen Spross des großen Attila mehr als nur formal zu ehren.
Der große Attila war auch posthum omnipräsent. Es gab ein Denkmal auf dem Dorfplatz, das sonntags nach der Messe mit einem Kranz geschmückt wurde. Im Dorfkrug hing in Sichtweite der Theke ein großes Portrait von ihm, einer Ikone gleich stets mit einer brennenden Kerze davor. Seine Ruhestätte hatte er unter der schönsten Eiche auf dem Dorffriedhof, und sein Grab war das schönste auf dem Gottesacker. Die Familien im Dorf pflegten die Heldenstätte abwechselnd und mit solcher Inbrunst, dass es nie an frischen Blumen mangelte und kein Unkräutlein das Beet verunstaltete. Als die Grabstätte 1946 errichtet und der Kriegsheld feierlich umgebettet worden war, wollte man Attila wie auch Aaron zu Ehren nicht, dass der Heldensohn sich an der Grabpflege beteiligte. Zumal der Garten vor dem väterlichen Haus den Schluss zuließ, dass der Sohn Attilas auch zum Friedhofsgärtner nicht taugte. Aaron wiederum hatte in seiner weithin bekannten bösen Art und an Beleidigungen nicht sparend darauf bestanden, es den anderen gleich zu tun. Schließlich ging es ja um seinen Vater. Nachdem die Leute, allen voran die Ältesten Aarons Schimpfkanonade verdaut hatten – das dauerte etwa eine Woche lang – gaben sie nach. Schließlich ging es ja um seinen Vater. Und irgendwie rechneten sie Aaron dieses Begehren hoch an. Das war und blieb übrigens so ziemlich das einzige, was man ihm hoch anrechnen konnte. Seine Aktivitäten an heiliger Stätte verdienten allenfalls das Prädikat „ausreichend“. Mit frischen Blumen, die Aaron nie zur Grabpflege mitbrachte, wurde der Ruheort Attilas stets stillschweigend einen Tag später geschmückt.
Die Leute konnten die an Grabschändung grenzende Schlamperei Aarons nicht nachvollziehen und kamen zu dem Schluss, dass der Junge einfach dieses Ritual und den heiligen Kontakt mit dem großen Attila brauchte. Für seine Seele. Ganz alleine für sich. Also ging niemand über den Friedhof, wenn Aaron dort arbeitete. Dem jungen Petrovi? war das nur recht. So blieb er ungestört, und wenn er lustlos eine halbe Stunde lang Unkraut gezupft hatte, stellte er sich hin und pisste auf das Grab. Er hasste seinen Vater.
*
In der ersten Maiwoche des Jahres 1950 entwickelte Aaron Petrovi? einen Plan und führte diesen generalstabsmäßig durch. Er würde in der folgenden Woche das Dorf nicht verlassen. Als er Anfang Mai die üblichen zwei, drei Tage auf seinem Gestüt in Novi Sad verbrachte, hatte er das Dunja mitgeteilt. Dunja Brnovi?, die lieber auf ihren Künstlernamen Oštar (Serbokroatisch: Die Scharfe) hörte und ihres Zeichens Aarons Leitende Angestellte war, hatte diese Information emotionslos zur Kenntnis genommen. Innerlich war ihr zum Grinsen zumute gewesen, weil das Gestüt sich durch Aaron Abwesenheit auf eine Woche ohne Zwischenfälle und Komplikationen einstellen konnte.
Aaron indes biss sich durch seinen Plan. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte in Novi Sad Unmengen an Lebensmitteln gekauft, auf seinem Leiterwagen verstaut und mit einer Plane verdeckt ins Dorf gebracht. In der Nacht schleppte er die Kisten und Tüten unbeobachtet ins Haus. Vom Dienstag der folgenden Woche an stopfte er wie ein Verrückter alles in sich hinein. Am Freitag waren die Vorräte vertilgt und er hatte erbärmliche Bauchschmerzen, die er tapfer bis Samstagnacht aushielt. Dann, gegen Mitternacht schaute er raus und erfreute sich an reichlich Mondlicht. Es war hell genug. Er ging wieder rein, hielt sich die Nase zu und trank ein halbes Glas Rizinusöl. Dann schlich er ohne Petroleumlampe mit einer zwei Meter langen Doppelleiter auf der Schulter über Feldweg ums Dorf herum zum Friedhof. Unterwegs leisteten seine Schließmuskeln Schwerstarbeit. Wegen des Öls und weil er seit Dienstag nur zum Pissen aufs Klo gegangen war.
Attilas Grab war dank der Lichtverhältnisse leicht auszumachen und ein geeigneter Platz zum Aufstellen der Leiter schnell gefunden. Die Leiter brauchte er, um auf den einmeterfünfzig hohen Grabstein zu steigen und um sich an ihr festzuhalten, während er auf dem etwa eine Hand breiten Stein hockte. Mit heruntergelassenen Hosen. Und schiss, was das Zeug hielt. Angesichts der Mengen, die er an den Tagen zuvor gefressen hatte, zerriss es ihm fast den Arsch, als er sich entleerte. Dank des fahlen Lichts konnte er den Ablageort seines immer größer werdenden Scheißhaufens exakt bestimmen: Genau auf die handbreite Fläche, etwas schief und ein wenig über den Rand hängend.
Aaron stieg vom Grabstein runter und betrachtete sein Kunstwerk stolz, das vom Mond fahl angeleuchtet einer schief sitzenden Krone gleich das Grab schmückte. Die Krone stank genauso zum Himmel, wie der ganze Mist, den sein Vater in all den Jahren verzapft hatte. Er entfernte die Abdrücke der Leiter und fegte mit der Hand den Dreck vom Stein, den seine Stiefel hinterlassen hatten.
Tief befriedigt schulterte er die Leiter und trat seinen Heimweg an.
*
Am Sonntag, den 21. Mai 1950 kamen Božana und Stipe Mijatovi? zu spät, viel zu spät in die Kirche. Der altehrwürdige und stark übergewichtige Pope Bojan Brnovi? war schon dabei, das Evangelium vorzulesen und schnaufte verärgert, als die beiden Alten sich an den Leuten vorbei zu ihren Plätzen drängten. Sie sahen blass aus und wirkten verstört. Und kaum standen sie dort, wo sie immer standen, fingen sie an, mit den Umstehenden zu tuscheln und verstohlen auf Aaron zu zeigen.
Nach der Messe, draußen auf dem Dorfplatz vor dem Heldendenkmal ging das Getuschel weiter und nahm der Kranzniederlegung alle Würde. Und wieder deuteten die Mijatovi?s auf Aaron, der der Zeremonie wie immer still und teilnahmslos, hinter den anderen stehend beiwohnte.
Kaum hatte der Pope sein kurzatmiges Gebet mit dem Amen abgeschlossen, drehten die Leute sich um und gingen, allen voran Božana und Stipe betroffen auf Aaron zu.
„Aaron, Aaron! Mein lieber Aaron!“ brachte Božana unter Tränen und mit bebender Stimme hervor. „In dieser Nacht ist etwas Entsetzliches geschehen…“ Sie stockte weinend und sah Aaron mit geröteten Augen an.
Stipe, einen guten Kopf kleiner als der Heldensohn versuchte stumm, diesen tröstend an sich zu drücken. Aaron war recht kräftig stieß den Alten mit Leichtigkeit weg. Zwei Kerle hinter ihm breiteten die Arme aus und fingen ihn auf. Aaron ballte die Fäuste und fauchte:
„Was wollt ihr von mir?“
Božana starrte ihn verdattert an.
„Habt ihr das gesehen?“ kam es aus den Reihen der Dorfbewohner. „Er vergreift sich an den Alten und Schwachen!“ Weitere Unmutsäußerungen folgten.
Adrijan Kova?i?, der Bürgermeister und Lehrer in Personalunion stand vorne in der Gruppe. Er drehte sich zu den Leuten und hob den rechten Arm. Sofort herrschte Stille. Sanft wandte er sich an Aaron.
„Aaron, sie wollen dich trösten, und dazu besteht aller Grund!“ sagte er in seiner ruhigen Art.
Inzwischen hatte Božana ihre Fassung wiedergewonnen und erklärte:
„Aaron, ich habe das gerade schon zu Adrijan gesagt: Wir müssen etwas gegen die halbwilden Hunde hier im Dorf tun. In der letzten Nacht wurde Attilas Grab in unvorstellbarer Weise geschändet. Eines dieser Biester hat darauf…, darauf…“ Ihr fehlte das passende Wort.
„Geschissen. Oben auf den Grabstein“ ergänzte Adrijan trocken.
Die alte Dame starrte ihren Bürgermeister mit offenem Mund an.
„Na ja“, fuhr sie nach einigen Sekunden kopfschüttelnd fort, „wenn du das so nennen magst. Meine Sprache ist das nicht!“ und warf dem Mann, den sie bis dahin für gebildet gehalten hatte, einen missbilligenden Blick zu.
„Weder dieser ‚Akt‘“ – sie dehnte das Wort angewidert – „noch deine Wortwahl werden dem großen Attila gerecht.“
Ungeachtet der Tatsache, dass Aaron ihren Mann wie Nichts weggeschubst hatte, trat Božana an ihn heran und streichelte sein Gesicht. Aaron wich einen Schritt zurück. Sie griff seine rechte Hand, zog ihn zu sich und tätschelte seine Hand, während sie leise weitersprach:
„Du weißt doch, mein lieber Aaron, dass wir sonntags vor der Messe immer deinen Vater besuchen. Doch heute… es hat uns so weh getan, was wir sehen mussten! Glaub uns: So etwas wird hier nicht noch einmal geschehen. Adrijan ist damit einverstanden, dass die Männer heute Nacht Jagt auf die streunenden Hunde machen.“
Aarons Gesicht fing an, unkontrolliert zu zucken. Er brachte vor Wut keinen Ton heraus und entriss der Alten seine Hand. Dann drehte er sich um und ging die einsame Dorfstraße entlang nach Hause. Die Leute aus dem Dorf sahen ihm traurig nach. Die Sache mit dem Köter hatte ihn mächtig wohl getroffen.
Aaron war außer sich. Das Dorf wollte glauben, dass ein Hund das getan hatte! Der Köter musste doch die Ausmaße eines Kalbs gehabt haben, um oben auf den Stein zu kacken!
Wieso kam niemandem im Dorf auf die Idee, dass ein Mensch so etwas tun könnte? Wieso war in diesen Köpfen kein Platz für den Gedanken, dass Attila Petrovi?, sein Vater, der große Attila zu Lebzeiten nicht mehr als ein großer stinkender Haufen Scheiße gewesen war?
Die Antwort war einfach: Weil sie ihn vergötterten. Er hasste die Leute.
Aaron Petrovi? war ein wütender Mann. Voller Hass auf beinahe alles und jeden. Das führte immer wieder zu Entgleisungen und störte die Ruhe im Ort und vor allem den schnapsseligen Frieden in der einzigen Schänke des Dorfes empfindlich. Auf den Punkt gebracht hielt man Aaron in dem Örtchen, das sich so heroisch wie unaussprechlich ??????? ?????? oder Tvr?ava Srbija (serbisch/kroatisch: Festung Serbiens) nennt und deshalb im Weiteren nur noch „das Dorf“ heißt, für ein ausgemachtes Arschloch. Dass die Leute seine Eskapaden mal gütig, mal beherrscht durchatmend hinnahmen, lag einzig an Aarons Vater. Der kurz vor Kriegsende verstorbene Attila Petrovi? – im Dorf sprach man vom heldenhaft Gefallenen – war einst ihr Bürgermeister gewesen und ein unerschrockener Kämpfer für die serbische Sache. Damals, kurz vor seinem Ableben, hatten sie ihm über seinen Tod hinaus Treue und Ehre geschworen, was nichts anderes bedeutete, als dass dieser Schwur auch seinen Kindern und Kindeskindern galt. Die wenigen Ältesten des Dorfes, die sowohl die Kampfeinsätze an der Seite Attilas als auch den Nazi-Terror überlebt hatten, mussten von niemandem an dieses Gelübde erinnert werden. Auch nicht von Aaron. Sie hätten Aaron sogar eine Waisenrente zukommen lassen. Glücklicherweise führte der Sohn des großen Attilas, der sich handwerklich ungeschickt und als Landwirt ungeeignet zeigte, die Geschäfte seines Vaters weiter und kam ohne finanzielle Unterstützung aus. Da Aaron erst sechzehn Jahre alt gewesen war, als sein Vater 1943 den Deutschen in die Hände fiel, wurde das Amt des Bürgermeisters dem damals jungen Dorflehrer Adrijan Kova?i? angetragen. Und insgeheim hofften alle, dass Adrijan ewig leben oder zumindest Aaron überleben würde, damit Attilas Amt nicht irgendwann doch noch dem einzigen Sohn zufiel. Vielleicht hatte man ja mit den Enkeln Attilas mehr Glück. Aarons Gebaren gab allerdings wenig Anlass zur Hoffnung, denn ein Apfel würde auch in jenem serbischen Dorf nicht allzu weit vom Stamm fallen. So trugen und ertrugen die Leute es still in ihren Herzen und bemühten sich geradezu übermenschlich, den missratenen Spross des großen Attila mehr als nur formal zu ehren.
Der große Attila war auch posthum omnipräsent. Es gab ein Denkmal auf dem Dorfplatz, das sonntags nach der Messe mit einem Kranz geschmückt wurde. Im Dorfkrug hing in Sichtweite der Theke ein großes Portrait von ihm, einer Ikone gleich stets mit einer brennenden Kerze davor. Seine Ruhestätte hatte er unter der schönsten Eiche auf dem Dorffriedhof, und sein Grab war das schönste auf dem Gottesacker. Die Familien im Dorf pflegten die Heldenstätte abwechselnd und mit solcher Inbrunst, dass es nie an frischen Blumen mangelte und kein Unkräutlein das Beet verunstaltete. Als die Grabstätte 1946 errichtet und der Kriegsheld feierlich umgebettet worden war, wollte man Attila wie auch Aaron zu Ehren nicht, dass der Heldensohn sich an der Grabpflege beteiligte. Zumal der Garten vor dem väterlichen Haus den Schluss zuließ, dass der Sohn Attilas auch zum Friedhofsgärtner nicht taugte. Aaron wiederum hatte in seiner weithin bekannten bösen Art und an Beleidigungen nicht sparend darauf bestanden, es den anderen gleich zu tun. Schließlich ging es ja um seinen Vater. Nachdem die Leute, allen voran die Ältesten Aarons Schimpfkanonade verdaut hatten – das dauerte etwa eine Woche lang – gaben sie nach. Schließlich ging es ja um seinen Vater. Und irgendwie rechneten sie Aaron dieses Begehren hoch an. Das war und blieb übrigens so ziemlich das einzige, was man ihm hoch anrechnen konnte. Seine Aktivitäten an heiliger Stätte verdienten allenfalls das Prädikat „ausreichend“. Mit frischen Blumen, die Aaron nie zur Grabpflege mitbrachte, wurde der Ruheort Attilas stets stillschweigend einen Tag später geschmückt.
Die Leute konnten die an Grabschändung grenzende Schlamperei Aarons nicht nachvollziehen und kamen zu dem Schluss, dass der Junge einfach dieses Ritual und den heiligen Kontakt mit dem großen Attila brauchte. Für seine Seele. Ganz alleine für sich. Also ging niemand über den Friedhof, wenn Aaron dort arbeitete. Dem jungen Petrovi? war das nur recht. So blieb er ungestört, und wenn er lustlos eine halbe Stunde lang Unkraut gezupft hatte, stellte er sich hin und pisste auf das Grab. Er hasste seinen Vater.
*
In der ersten Maiwoche des Jahres 1950 entwickelte Aaron Petrovi? einen Plan und führte diesen generalstabsmäßig durch. Er würde in der folgenden Woche das Dorf nicht verlassen. Als er Anfang Mai die üblichen zwei, drei Tage auf seinem Gestüt in Novi Sad verbrachte, hatte er das Dunja mitgeteilt. Dunja Brnovi?, die lieber auf ihren Künstlernamen Oštar (Serbokroatisch: Die Scharfe) hörte und ihres Zeichens Aarons Leitende Angestellte war, hatte diese Information emotionslos zur Kenntnis genommen. Innerlich war ihr zum Grinsen zumute gewesen, weil das Gestüt sich durch Aaron Abwesenheit auf eine Woche ohne Zwischenfälle und Komplikationen einstellen konnte.
Aaron indes biss sich durch seinen Plan. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte in Novi Sad Unmengen an Lebensmitteln gekauft, auf seinem Leiterwagen verstaut und mit einer Plane verdeckt ins Dorf gebracht. In der Nacht schleppte er die Kisten und Tüten unbeobachtet ins Haus. Vom Dienstag der folgenden Woche an stopfte er wie ein Verrückter alles in sich hinein. Am Freitag waren die Vorräte vertilgt und er hatte erbärmliche Bauchschmerzen, die er tapfer bis Samstagnacht aushielt. Dann, gegen Mitternacht schaute er raus und erfreute sich an reichlich Mondlicht. Es war hell genug. Er ging wieder rein, hielt sich die Nase zu und trank ein halbes Glas Rizinusöl. Dann schlich er ohne Petroleumlampe mit einer zwei Meter langen Doppelleiter auf der Schulter über Feldweg ums Dorf herum zum Friedhof. Unterwegs leisteten seine Schließmuskeln Schwerstarbeit. Wegen des Öls und weil er seit Dienstag nur zum Pissen aufs Klo gegangen war.
Attilas Grab war dank der Lichtverhältnisse leicht auszumachen und ein geeigneter Platz zum Aufstellen der Leiter schnell gefunden. Die Leiter brauchte er, um auf den einmeterfünfzig hohen Grabstein zu steigen und um sich an ihr festzuhalten, während er auf dem etwa eine Hand breiten Stein hockte. Mit heruntergelassenen Hosen. Und schiss, was das Zeug hielt. Angesichts der Mengen, die er an den Tagen zuvor gefressen hatte, zerriss es ihm fast den Arsch, als er sich entleerte. Dank des fahlen Lichts konnte er den Ablageort seines immer größer werdenden Scheißhaufens exakt bestimmen: Genau auf die handbreite Fläche, etwas schief und ein wenig über den Rand hängend.
Aaron stieg vom Grabstein runter und betrachtete sein Kunstwerk stolz, das vom Mond fahl angeleuchtet einer schief sitzenden Krone gleich das Grab schmückte. Die Krone stank genauso zum Himmel, wie der ganze Mist, den sein Vater in all den Jahren verzapft hatte. Er entfernte die Abdrücke der Leiter und fegte mit der Hand den Dreck vom Stein, den seine Stiefel hinterlassen hatten.
Tief befriedigt schulterte er die Leiter und trat seinen Heimweg an.
*
Am Sonntag, den 21. Mai 1950 kamen Božana und Stipe Mijatovi? zu spät, viel zu spät in die Kirche. Der altehrwürdige und stark übergewichtige Pope Bojan Brnovi? war schon dabei, das Evangelium vorzulesen und schnaufte verärgert, als die beiden Alten sich an den Leuten vorbei zu ihren Plätzen drängten. Sie sahen blass aus und wirkten verstört. Und kaum standen sie dort, wo sie immer standen, fingen sie an, mit den Umstehenden zu tuscheln und verstohlen auf Aaron zu zeigen.
Nach der Messe, draußen auf dem Dorfplatz vor dem Heldendenkmal ging das Getuschel weiter und nahm der Kranzniederlegung alle Würde. Und wieder deuteten die Mijatovi?s auf Aaron, der der Zeremonie wie immer still und teilnahmslos, hinter den anderen stehend beiwohnte.
Kaum hatte der Pope sein kurzatmiges Gebet mit dem Amen abgeschlossen, drehten die Leute sich um und gingen, allen voran Božana und Stipe betroffen auf Aaron zu.
„Aaron, Aaron! Mein lieber Aaron!“ brachte Božana unter Tränen und mit bebender Stimme hervor. „In dieser Nacht ist etwas Entsetzliches geschehen…“ Sie stockte weinend und sah Aaron mit geröteten Augen an.
Stipe, einen guten Kopf kleiner als der Heldensohn versuchte stumm, diesen tröstend an sich zu drücken. Aaron war recht kräftig stieß den Alten mit Leichtigkeit weg. Zwei Kerle hinter ihm breiteten die Arme aus und fingen ihn auf. Aaron ballte die Fäuste und fauchte:
„Was wollt ihr von mir?“
Božana starrte ihn verdattert an.
„Habt ihr das gesehen?“ kam es aus den Reihen der Dorfbewohner. „Er vergreift sich an den Alten und Schwachen!“ Weitere Unmutsäußerungen folgten.
Adrijan Kova?i?, der Bürgermeister und Lehrer in Personalunion stand vorne in der Gruppe. Er drehte sich zu den Leuten und hob den rechten Arm. Sofort herrschte Stille. Sanft wandte er sich an Aaron.
„Aaron, sie wollen dich trösten, und dazu besteht aller Grund!“ sagte er in seiner ruhigen Art.
Inzwischen hatte Božana ihre Fassung wiedergewonnen und erklärte:
„Aaron, ich habe das gerade schon zu Adrijan gesagt: Wir müssen etwas gegen die halbwilden Hunde hier im Dorf tun. In der letzten Nacht wurde Attilas Grab in unvorstellbarer Weise geschändet. Eines dieser Biester hat darauf…, darauf…“ Ihr fehlte das passende Wort.
„Geschissen. Oben auf den Grabstein“ ergänzte Adrijan trocken.
Die alte Dame starrte ihren Bürgermeister mit offenem Mund an.
„Na ja“, fuhr sie nach einigen Sekunden kopfschüttelnd fort, „wenn du das so nennen magst. Meine Sprache ist das nicht!“ und warf dem Mann, den sie bis dahin für gebildet gehalten hatte, einen missbilligenden Blick zu.
„Weder dieser ‚Akt‘“ – sie dehnte das Wort angewidert – „noch deine Wortwahl werden dem großen Attila gerecht.“
Ungeachtet der Tatsache, dass Aaron ihren Mann wie Nichts weggeschubst hatte, trat Božana an ihn heran und streichelte sein Gesicht. Aaron wich einen Schritt zurück. Sie griff seine rechte Hand, zog ihn zu sich und tätschelte seine Hand, während sie leise weitersprach:
„Du weißt doch, mein lieber Aaron, dass wir sonntags vor der Messe immer deinen Vater besuchen. Doch heute… es hat uns so weh getan, was wir sehen mussten! Glaub uns: So etwas wird hier nicht noch einmal geschehen. Adrijan ist damit einverstanden, dass die Männer heute Nacht Jagt auf die streunenden Hunde machen.“
Aarons Gesicht fing an, unkontrolliert zu zucken. Er brachte vor Wut keinen Ton heraus und entriss der Alten seine Hand. Dann drehte er sich um und ging die einsame Dorfstraße entlang nach Hause. Die Leute aus dem Dorf sahen ihm traurig nach. Die Sache mit dem Köter hatte ihn mächtig wohl getroffen.
Aaron war außer sich. Das Dorf wollte glauben, dass ein Hund das getan hatte! Der Köter musste doch die Ausmaße eines Kalbs gehabt haben, um oben auf den Stein zu kacken!
Wieso kam niemandem im Dorf auf die Idee, dass ein Mensch so etwas tun könnte? Wieso war in diesen Köpfen kein Platz für den Gedanken, dass Attila Petrovi?, sein Vater, der große Attila zu Lebzeiten nicht mehr als ein großer stinkender Haufen Scheiße gewesen war?
Die Antwort war einfach: Weil sie ihn vergötterten. Er hasste die Leute.