Die Kraft Gottes

Die Kraft Gottes

Warum bin ich nur hier? Dieser Brief in meiner Manteltasche ... ‚Lieber Gabriel’ steht da. Mit ‚Deine Magdalena’ unterschrieben. Die Menschen strömen um mich herum, an mir vorbei, alles ist so laut, manche stoßen mich mit ihren Paketen und Einkaufstüten. Ich sehe in ein spiegelndes Schaufenster. Ich sehe mich an. Wer ist dieser Mann?

Während das alles durch sein blockiertes Gehirn flutete, ging der Mann weiter, kramte dabei in den Taschen dieses Mantels, den er ebenso wenig wiedererkannte wie sich selbst.

Nicht einen Cent finde ich. Mir ist kalt. Ich kenne diese Straße nicht, sie erstrahlt in weihnachtlicher Festbeleuchtung. Weihnachten! Also das weiß ich. Es gibt Weihnachten, einen Brauch, mit dem auf der ganzen Welt Christi Geburt gefeiert wird. Woher weiß ich das? Mir ist kalt.
Der Himmel verdunkelte sich, es wurde windig, Schneeflocken begannen durch die Luft zu flirren. Der Mann stellte sich in einen Hauseingang, las den Brief.
‚Lieber Gabriel!
Wenn du das hier liest, wirst du dich in Wien befinden, mitten in der Kärntnerstraße. Ich schätze, du wirst keine Ahnung haben, wer du bist, warum du hier bist oder was du nun tun sollst. Du bist hierher geschickt worden in Menschengestalt, weil du eine Aufgabe erledigen wirst. Dein Name bedeutet ‚Stärke Gottes’ und du wirst ein Kind erretten. In diesem menschlichen Körper weißt du nicht, dass du der Meister der Engel bist. Erzengel Gabriel. Es war immer schon deine Aufgabe, inkarnierte Kinder in den neun Monaten vor ihrer Geburt zu beschützen oder gar, wie nun, zu retten. Ich bin jene, die von der katholischen Kirche als Hure und Sünderin gebrandmarkt wurde, du weißt es als Engel, nicht jetzt, wenn du als Mensch diesen Brief liest. Deswegen erinnere ich dich, weil das zu deiner Sendung hier gehört. Auf Grund des biblischen Satzes im Lukas Evangelium, der besagt \"Maria, die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren\" hat sich die Kirche dieses Bild von mir gezimmert. Gemeint war, dass ich tödlich krank war und geheilt wurde. Und nun gehe hin und rette das Kind. Du wirst es finden in diesem Haus, vor dem du stehst, hinter der Wohnungstür Nummer Elf. In deinem Innersten weißt du, was zu tun ist. Deine Magdalena’
Gut. Also ist meine Name Gabriel, Erzengel von Beruf, ein Himmelsbote. Hierher geschickt, um Gottes Willen zu offenbaren. Unglaublich ...
Er schritt die Treppe aufwärts. Verharrte vor der Tür Elf und lauschte. Leises Weinen drang zu ihm. Gabriel klopfte, doch nichts geschah. Behutsam drückte er die Klinke, die Tür war offen. Gestank schlug ihm entgegen, ein zerlöcherter Teppich lag im Flur, das wimmernde Weinen wurde lauter. Er ging in das einzige Zimmer der Wohnung. Eine junge Frau wand sich am Boden. Sie gebar ihr Kind. Gabriel wusste plötzlich wieder, wer er war. Sozialarbeiter. Das Amt hatte ihn hierher geschickt, weil ein Mieter in diesem Haus angerufen und sich über den Gestank, den Lärm in dieser Wohnung beschwert hatte. Schnell suchte er die kleine Badezelle auf, wusch eine Schüssel aus, ließ heißes Wasser einlaufen, schnappte sich ein paar Handtücher. Sie waren schmuddelig, aber besser als nichts.
Zurück bei der Frau, die nun hechelte, barg er das hervor drängende Köpfchen des Kindes in seinen Händen. Schon rutschte der Körper heraus.
„Es ist ein Mädchen.“ Er wusch das Baby, hüllte es in die Handtücher. Es schrie sehr kräftig für ein Neugeborenes.
Die Frau schluchzte: „Ich will es nicht. Warum sind Sie gekommen? Ich wollte es umbringen ...“
Gabriel strich der Weinenden über die Stirn. „Es ist ein wunderschönes Baby.“
„Nein, nein, nein! Weg damit!“
Gabriel wählte die Nummer der Rettung.
Er begleitete Mutter und Tochter in die Klinik zur Erstversorgung. Im Wagen beruhigte sich die Frau, starrte apathisch an die Decke.
„Es ist so ein schönes Mädchen. Ich verschaffe Ihnen einen Platz im Mutter-Kind-Heim, Sie kommen in ein Drogenprogramm und alles wird gut.“
„Ich will es nicht.“, antwortete sie. Gabriel spürte, dass es so war. Er kannte das Procedere, das nun folgen würde. Das Kind würde zur Adoption freigegeben werden , sie selbst wieder zurück in den unentrinnbaren Sumpf gehen. Er verließ den Rettungswagen vor dem Spital, er konnte nichts mehr tun.

Schon wollte sein Ich wieder fortgleiten, doch er hielt es mit aller Kraft fest und machte sich auf den Weg zu seinem Therapeuten. Als dieser ihm öffnete, verschwand dieses merkwürdige Phänomen des Vergessens.
„Wie geht es Ihnen heute? Weitere Gedächtnisausfälle gehabt, Gabriel?“
„Ja, heute wieder. Aber ich habe einen Trick gefunden, wie ich trotzdem meine Arbeit machen kann!“ Gabriel entspannte sich, er war erleichtert, ganz bei sich zu sein.
„Ja? Wie denn?“ Der Psychologe hob neugierig die Brauen.
„Es ist ganz einfach. Wenn ich vom Sozialamt einen Hinweis erhalte, schreibe ich mir, solange ich bei Verstand bin, einen motivierenden Brief und stecke ihn in die Tasche meines Mantels. Kommt das Vergessen, lese ich diese Zeilen an mich, und gehe dorthin, um den Auftrag auszuführen. In dem Moment, in dem ich dann aktiv im Geschehen bin, ist auch mein Kopf wieder klar und ich erinnere mich, wer ich bin. So sehen diese Briefe aus.“ Er reichte ihm das Schreiben. Der Therapeut las.
„Interessant“, sagte er. „Wie kamen Sie denn auf so etwas? Erzengel? Magdalena?“
„Mein Name führte mich hin. Gabriel. Magdalena ist für mich das Symbol der Sünderin, die gerettet wurde und dafür, dass alles Schlechte gut werden kann. Das Gefühl, ein Engel zu sein, gibt mir die nötige Kraft. Ich schaffe das! Ich werde diese Hürde der kurzzeitigen Amnesien überwinden und das hilft mir dabei . Der Glaube versetzt Berge, so heißt es doch?“ Gabriel lächelte stolz.
„Sie sollten dennoch endlich an sich denken und die Therapie angehen, Gabriel. Diese Absenzen deuten auf ein tiefsitzendes Trauma hin. Kein Wunder! Sie sind hypersensibel und üben diese Tätigkeit als Streetworker seit mehr als zwanzig Jahren aus, das hinterlässt Spuren.“
„Ja, irgendwann ... es ist so viel zu tun in dieser Stadt ... Frohe Weihnachten, Herr Doktor!“
Gabriel wanderte durch die Straßen, sah das Glitzern der Goldsterne, die frierenden Bettler an den Hausmauern, die weihnachtsfrohen Gesichter jener, denen es gut ging und die Tabletten- und Drogenabhängigen nahe der U-Bahn Station. Sein Herz krampfte sich zusammen.

„Ich bin Gabriel, die Kraft Gottes“, sagte er und machte sich wieder an die Arbeit.
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo Schattenlicht,

da der Einsendeschluss der Engel-Schreibaufgabe bereits am 20.12. war, habe ich deinen Text hierher verschoben.
Wenn du möchtest, kann ich ihn auch in das Kurzgeschichten-Forum einstellen.

Grüße von Zeder
 
Ursprünglich veröffentlicht von Zeder
Hallo Schattenlicht,

da der Einsendeschluss der Engel-Schreibaufgabe bereits am 20.12. war, habe ich deinen Text hierher verschoben.
Wenn du möchtest, kann ich ihn auch in das Kurzgeschichten-Forum einstellen.

Grüße von Zeder
Hallo Zeder,

Ich habe es befürchtet! Pech gehabt.

Gruß von Schattenlicht
 



 
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