Die Kunst der Anderen

Es gibt nicht wenige Menschen im Lande, die außer ihrer alltäglichen Profession bemerkenswerte Fähigkeiten auf anderen Gebieten besitzen: Ärzte mit musischem Talent, Geschäftsleute beseelt von gestalterischer Begabung, Apotheker als Dichter, um nur einige Beispiele zu nennen. Zu denen gehört auch ein Unternehmer aus dem Bremer Umland, der bereits in jungen Jahren durch sein außerordentliches Maltalent auffällt. Bis in seine Lebensmitte ist er erfolgreich als geschäftsführender Inhaber eines Industriebetriebes von ansehnlicher Größe tätig, das er in dritter Generation zu einem bedeutenden Unternehmen ausbaut. Finanziell hat er ausgesorgt. Er zieht sich aus dem Geschäftsleben zurück. Der Betrieb wird von seiner Tochter in seinem Sinne weitergeführt. Nun, als Privatier, widmet er sich ganz seiner großen Leidenschaft, der Malerei. Und hier lebt er zunächst sein Talent aus, die Bilder großer Meister originalgetreu kopieren zu können. Ein interessanter Zeitvertreib. Er erhält viel Beachtung dafür. Doch er kommt an den Punkt, an dem ihm die reine Wiedergabe bekannter Werke berühmter Maler nicht mehr genügt. Er will mehr. Eigene Kreationen. Diese aber in gleicher Qualität wie die der großen Meister. Aber selbst jemand wie er, der mit einer solchen Begabung gesegnet ist, muss bei einem derartigen Anspruch viel dazulernen.

So begibt sich dieser spät erweckte Künstler auf die Spuren einiger seiner Vorbilder, um in deren heimischem Umfeld ein Teil dessen zu erfahren, was diese einst zur schöpferischen Größe hat werden lassen. Er will dazu ganz nahe an der Quelle der Inspiration seiner Idole leben, um wie diese, hier eine Eingebung zur außerordentlichen Leistung zu erfahren. Seiner Begeisterung für kräftige, bunte Farben folgend, begibt er sich zunächst in die leere Weite der nordfriesischen Küstenlandschaft, um hier, an der früheren Wirkungsstätte Emil Noldes, nahe dem Dorf Seebüll, seine Studien zu betreiben, um so seine Fähigkeiten zu vervollkommnen. Dies gelingt ihm an diesem Ort nicht wie gewünscht. Doch er hat nicht vor, weiter als reiner Kopist tätig zu sein und Noldes Bilder einfach nachzumalen, was ihm allerdings vortrefflich gelingt. Er lebt die Vision, gleiche Sujets in ähnlicher Qualität wie sein Vorbild auf die Leinwände zu bringen; aber eben in seiner originären Art.

Und er zieht weiter, auf der Suche nach neuen Inspirationen, und landet in Frankreich, im Städtchen Ètretat an der Alabaster-Küste in der Normandie, wo berühmte Maler wie Monet oder Boudin einige ihrer Meisterwerke geschaffen hatten. Hier lässt er sich nieder und malt, inspiriert von dem grandiosen Licht dort, ganz im Stil dieser Meister. Ihm gelingen hervorragende Bilder. Aber keine, wie er sie sich erträumt hat. Obwohl er hier die gleichen Bedingungen vorfindet wie die Künstler vor ihm. Er muss hinter das Geheimnis kommen. Und dieses geheimnisvolle Spiel von Licht und Farben will er weiter im Süden Frankreichs ergründen, in der Provence. Zu diesem Zweck reist er in die Stadt Arles, wo seinerzeit einer der ganz großen Maler gelebt und sich dort verwirklicht hatte, Vincent van Gogh. In der historischen Altstadt dieses pittoresken Ortes lebt der Suchende sich in das damalige Umfeld des großen Meisters ein, und meint, an manchen Örtlichkeiten fast noch dessen Aura zu spüren. So begibt er sich an alle überlieferten Aufenthaltsorte Van Goghs, um das richtige Gefühl für dessen Kunst zu erlangen. Mehr an Inspiration ist kaum möglich; das Talent bringt er mit. Er geht mit Bedacht vor und will den Genius dieses großen Malers ergründen.

Es sind Zeiten intensiver Studien. Als reproduzierender Maler hat er sie schon alle gehabt, die Meisterwerke van Goghs – in Form seiner Kopien. Und unter allen Bilder seines Idols hat es ihm ein Werk des Holländers besonders angetan, die Zugbrücke Pont de Langois, das er jetzt schon nachmalen kann wie kaum ein Zweiter. In seiner Hybris, inzwischen besser als der Meister selbst malen zu wollen, will er genau dieses Motiv darstellen, perfekt in seine heutige Umgebung gesetzt. Dass sich die Umgebung dort in mehr als 120 Jahren stark verändert hat, kann ihn in diesem Stadium nicht mehr aufhalten. Zunächst, vom Ambiente dort am malerischen Flussufer beflügelt, über den die Brücke auch auf dem originalen Gemälde führt, wird der Kopist auf dem Weg zum eigenen Kunstentwurf zum Getriebenen. Er malt täglich viele Stunden, verwirft die Entwürfe wieder, um anders zu beginnen. Monatelang. Obwohl er sich inzwischen fast wie van Gogh fühlt, das perfekte Bild, die moderne Version dieser Brücke bei Arles, will ihm nicht gelingen. Durch seine Besessenheit, an solch einem berühmten Schauplatz in ständiger Präsenz zu arbeiten, wird er zu einer der Touristenattraktionen der Region. Scharen von Schaulustigen sehen ihm bei seiner Arbeit zu, in gebührendem Abstand. Und einer dieser Zuschauer bewahrt den Künstler geistesgegenwärtig vor Schlimmeren, als der sich in seinem manischen Zustand das rechte Ohr abschneiden will.
 



 
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