Hi BlindfoldHer!
Ich fange mal mit einer Mutmaßung an, da dies hier ja offenbar Dein erster und bisher einziger Beitrag in der Lupe ist (herzlich Willkommen übrigens!

) und ich Dich daher nicht "kennen" (was immer das in einem Forum heißt) kann. Also ersetzt die Mutmaßung jetzt mal "gesichertes" Wissen und da diese also ein reichlich wackliges Hilfskonstrukt ist, werfe ich sie (die Mutmaßung) jederzeit über Bord, wenn Du widersprichst.
War das jetzt eine lange Vorrede oder war das eine lange Vorrede?!
Aaaalso: Ich nehme jetzt mal (wacklig, Hilfskonstrukt, jederzeit über Bord werfbar) an, dass Du vielleicht noch nicht sooo viele Gedichte geschrieben hast, die Du einem neutralen "Publikum" vorgestellt hast. Und vielleicht hast Du auch noch nicht allzuviele Gedichte gelesen (mutmaßmutmaß).
Wie komme ich darauf? Naja, weil der Text, den Du hier eingestellt hast, stilistisch gar nicht schlecht geschrieben ist, aber tatsächlich.... meines Erachtens... kein Gedicht ist. (man kann bei diesem Punkt natürlich anderer Meinung sein - aber ich postuliere, dass "wohlinformierte Kreise" (was soll das sein?) mehrheitlich meiner Meinung wären (haha... postulieren kann man ja viel, wenn der Tag lang ist!).
Was definiert für mich ein Gedicht?
Drei Dinge:
1. Der Text ist
relativ kurz (das ist der leistungsschächste Diskriminator). Alles in einer Wortlänge von 1 (gibt es einwortige Gedichte?) bis 30000 (etwas willkürlich) könnte (muss aber nicht!) ein Gedicht sein. Bei mehr als 30000 Wörtern haben wir es vermutlich eher mit einem Drama oder einem Epos zu tun oder mit irgendetwas Unbeschreiblichem. Das Drama "Faust" hat etwa um die 30000 Wörter (und ist unter anderem auch deshalb kein Gedicht - obwohl Goethe es selbst als solches bezeichnet hat - was daran liegt, dass "Gedicht" damals anders definiert war - eher so wie heute das Wort "Dichtung").
Auf alle Fälle hast Du diese Bedingung aber locker erfüllt.

2. Das Gedicht ist von allen Literaturgattungen diejenige, die sich am intensivsten mit dem
Aspekt der "Schönheit" auseinander setzt (das ist ein kontroverser Punkt - aber ich würde an ihm festhalten mit der wichtigen Parenthese, dass zum Verhandeln der "Schönheit" auch ihr Fehlen gehört, weshalb z. B. ein Gedicht, welches sich mit dem verwesenden Leichnam auseinandersetzt, auf dem schillernde (hah!) Fliegen ihre Maden ablegen, auch unbedingt den Aspekt der Schönheit reflektiert, nur eben ex nihilo usw.).
3. Das Gedicht ist von allen Literaturgattungen diejenige, in der
Subjektivität die größte Rolle spielt. Es gibt die Theorie, dass das Gedicht als Literaturform die Welt erblickt hat, als das erste Mal ein(e) Autor*in "ich" gesagt hat. Allerdings ist die Sache mit dem "ich" ein bisschen kompliziert. Man kann auch "ich" sagen (schreiben) und dabei dieses Ich zu einem Objekt machen, das man sozusagen von außen beschreibt. Dann können in einem Text so viele Ich's auftauchen wie man nur will, es wird dennoch kein Gedicht daraus.
Und warum ist Dein Text jetzt (meiner Meinung nach) kein Gedicht? Weil er sich erstens zu wenig Gedanken über das Schöne macht. Der Text macht sich eigentlich hauptsächlich Gedanken über Gedanken. Ein Nachdenken übers Nachdenken. Das ist Philosophie aber kein Gedicht. Und weil er zweitens nicht subjektiv genug ist. Was ist der größte Feind der Subjektivität? Das Abstrakte. Ein fühlendes und leidendes Ich würde, wenn es sich per Gedicht äußert, nicht sagen: "Ich leide.", sondern es würde sagen: "Ich fühle mich so, als ob sich mein Schädel öffnet und ein Rabenschnabel in der Öffnung sichtbar wird." oder meinethalben. "ich fühle mich, als ob mir jemand das zur Rotglut erhitzte Ende eines Büroklammerdrahtes ins rechte Nasenloch schiebt."
Und das waren jetzt nicht gerade 30000 Wörter - aber gefühlt ist es ziemlich nah dran. Und es soll natürlich auch zum Widerspruch anregen (zur Diskussion, in der - ist das schonmal jemand aufgefallen? - der Kuss steckt... aber das wollen wir mal ganz schön bleiben lassen! Unbedingt.)
LG!
S.