Die letzte Freude im Leben einer alten Dame

Kika62

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Die letzte Freude im Leben einer alten Dame




Eine Fliege spazierte über das gelichtete Haupt eines älteren Herrn, der aus einem Bilderrahmen heraus in die Stube blickte.



Opa Karl (1879 – 1959)



Nach dem Ableben seiner Gattin im Jahre 1952 war er noch sieben Jahre lang ein gern gesehener Gast bei seiner ebenfalls verwitweten Tochter Ella, die mit ihren vier Kindern in einem prächtigen Altbau lebte.

Er brachte frische Semmeln zum Frühstück, blieb den ganzen Tag, und abends schien es zuweilen, als hätten listige Hände seine Pantoffeln auf dem Boden festgenagelt. Derart mühsam war es ihm, sich aus dem Sitzeck zu erheben und in den verdämmernden Tag zu entweichen.

Nur die Nachtruhe hielt er in seiner eigenen Wohnung ab - am Ende einer langen, mit malerischem Fachwerk gesäumten Straße.



Seit Jahrzehnten hing das Bild nun an der Wand.

Aus dem vergoldeten Rahmen heraus hatte der alte Mann seiner Tochter beim Gilben, Dörren und Welken zugeschaut. Er blickte auf ihren immer krummer werdenden Rücken, und die einst so schön in sattem Kastaniengold glänzende, später sahneweiße Frisur, die den geschnurrten Kopf nurmehr umschlotterte, statt ihn, wie in jungen Jahren, duttverziert zu umspannen und zu wärmen.

Nur noch an feinem Spinnweb schien Ella ans irdische Leben befestigt. Drei ihrer vier Kinder waren bereits verstorben.



Gedankenversunken saß sie am Tisch. Vor ihr dampfte ein Süppchen, das eine liebe Nachbarin ehrenamtlich zubereitet hatte.

Die Wanduhr tickte, und beim lustlosen Löffeln versenkte sich die alte Dame in die Vergangenheit.

Wie oft hatte man ihr im Leben geraten, nach vorn zu blicken, und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Doch ihre alterstrüben Augen erschwerten den Blick in die Zukunft. All das Bemühen, die Sinne Künftigem entgegenzurecken, schien aus hohngeblähten Wangen hinfortgepustet zu werden. Einmal ins Pusten geraten, bliesen sie auch noch den Staub der Jahre hinweg…



Eines Tages riet man dem Opa, einen Arzt aufzusuchen, um den Stand seiner Gesundheit prüfen zu lassen.

„Karl, in Deinem Alter ist mit dem Gesundheitlichen nicht zu spaßen!“ hieß es, und so begab sich der alte Mann auf den Weg in die Stadt, um die Arztpraxis Doktor Claus aufzusuchen.

Ella blickte ihrem alten Vater noch durch´s Küchenfenster hinterher, sah, wie er kleiner und kleiner wurde. Klein wie ein Streichhölzchen, und schließlich in der engen Gasse hinter dem Spielwarenladen verschwand.

Es war als habe sie es geahnt: Dies sollte der letzte Anblick gewesen sein. Umgedreht hat er sich jedoch nicht mehr.

Er sei in der Praxis einfach tot umgefallen.

„Dies wird die Aufregung gewesen sein!“ sagte der Doktor, und fügte den Worten noch ein feierliches Bibelzitat hintan: „Unser Leben währet siebzig Jahr, und wenn es hoch kommt achtzig!“

Von flinker Zunge wurde kolportiert, daß der Doktor im Bestreben, dem alten Herrn als Exitusprophylaxe eine Vitaminspritze zu verabreichen, zwei bereitliegende Injektionsspritzen ein wenig durcheinander gebracht habe. Eine davon war zur Einschläferung eines Ackergauls gedacht, und wurde irrtümlich für den Opa Karl genutzt.



Ihrem alten Vater an der Wand konnte Ella alles anvertrauen. Bis hin zu dem Geheimnis, dass Wolfram, ihr erstgeborener Sohn und ganzer Stolz ihres lang verstorbenen Mannes Gerhard, wohl kaum von Selbigem gezeugt worden war?

„Was aus Günther Schröder, dem Orchestermusiker wohl geworden ist? Ob er wohl irgendwo in einem Altenstift seinem Ende engegendämmert oder gar bereits auf dem Gottesacker Platz genommen hat?“ Ella lächelte dem Vater an der Wand zu.

Ein zunächst vager Verdacht, der sich zögerlich aufgedrängt hatte, nachdem der kleine Wolfram eine ganze Reihe an Gaben zeigte, die in der Familie bis dahin gänzlich unbekannt waren.

Neben seinem zeichnerischen Talent zeigte sich eine große Musikalität, die nicht zu übersehen, und schon gar nicht zu überhören war. Blütenrein sang er mit seinem bezaubernden Kinderstimmchen Lieder und Arien aus dem Radio nach, und auf Fragen antwortete er zuweilen nicht nur in gereimter Form, sondern in einer frisch erfundenen passenden Melodie gesungen.

Zu seinem dritten Geburtstag schenkte ihm seine Tante Marie eine Spielzeuggeige aus jenem so wunderschönen Spielwarenladen, hinter dem der Opa Jahre später Ellas Blicken für immer entsogen werden sollte.

Die Geige stand dem kleinen Dreikäsehoch so gut.

Eines Tages fuhr Gerhard in die Stadt, um bei einem Geigenbaumeister eine echte kleine Geige in Auftrag zu geben, für die er tief in die Tasche griff.

Verzückt schoss er hernach unzählige Fotos: Wolfram, stramm wie ein Zinnsoldat an seiner Violine stehend.



Gerhard starb früh.

Ella hatte sich nie sonderlich für Musik interessiert, und doch spielte ihr Wolframs Talent in die Karten. Es bot ihr die Möglichkeit, ihren Sohn auf elegante Weise loszuwerden, bevor das Getuschel in der Kleinstadt losging. Ausdrucksnuancen von Günther Schröder in Wolframs Gesicht, das nun allmählich jünglingshafte Züge annahm, drohten sich Bahn zu brechen. Sie entdeckte immer mehr Kleinigkeiten: Beispielsweise Schröders Art blökend loszulachen, noch ehe ein Witz überhaupt zum Zünden gekommen war. Dies konnte auf Dauer doch wohl kaum verborgen bleiben?

Nun gab es also einen guten Grund, den mittlerweile vierzehnjährigen Wolfram in die weite Welt hinauszuschicken: Ein bedeutender Professor aus London hatte sich bereit erklärt, Wolfram in die letzten Finessen des Violinspiels einzuweihen.

Ella packte dem Herrn Sohn den Koffer, richtete ihm ein paar Stullen als Wegzehrung, griff nach einem Käserad in der Speisekammer, das sie unschlüssig eine Weile lang in Händen hielt, um es doch wieder zurückzulegen, und begleitete ihren Sohn noch zum Bahnhof.

Ein Küßchen, einige mütterliche Ratschläge: „Bleib schön lieb und artig, mein lieber Junge, dass mir keine Klagen kommen, und höre auf deinen Professor!“, und schon wurde Wolfram wie mit Staubsaugergewalt in die große weite Welt hinweggesogen.

Nur ein einziges Mal noch sollte er nach Hause kommen…

„Zu deiner Beerdigung, Opa! Nicht ahnend, dass er selber der Nächste sein sollte!“….

Anders als die meisten Senioren, verstand der Opa an der Wand jedes Wort. Er lauschte Ellas Erzählungen ohne altersgrämlich die Ohrmuschel zu trichtern, und das Gesicht fragend zu verknautschen. Er zeigte keinerlei Ansätze senioriler Begriffsstutzigkeit, auch wenn er keine Antwort zu geben pflegte.

„Nachdem du gestorben bist, hat unser guter Junge gar keine Bilder mehr gemalt!“ fuhr Ella bekümmert fort, „ich glaube, du, der du da hangest, bist sein letztes Meisterwerk! Es ist so jammerschade, dass er dieses große Talent zu Gunsten der Geigerei hat schleifen lassen. Seine Geige ist verstummt, aber wenigstens bleiben ein paar Gemälde, und so lange man auf Erden etwas Bleibendes hinterlassen hat, ist man nicht ganz tot. Dies zumindest sagt der Herr Pfarrer.“



Der Fernseher lief.

Noch ehe Ella das Süppchen zur Neige gelöffelt hatte, war es bereits erkaltet, stand herum und lockte jene Stubenfliege an, die zuvor suchend auf Opas Glatze herumgelaufen war.

Ella winkelte sich zu einem Schlummer im Ohrensessel zurecht, und schloss die Augen. Schon bald sackte der Unterkiefer hinab, sägendes Geschnarche füllte die Stube und mischte sich mit dem Televisorenlärm und dem Gebrumm der Fliege, während die Wanduhr geräuschvoll die Sekunden absäbelte.



Die Türschelle entrupfte Ella einer gänzlich anderen Welt. Einen Wimpernschlag zuvor noch saß sie, jung und hübsch, mit einem zierenden Häubchen auf dem Kopf und Perlohringen verschönt in einem Eisenbahnabteil und entnahm ihrer Handtasche den schlanken, biegsamen Kriminalroman, den sie kurz zuvor in der Bahnhofsbuchhandlung gekauft hatte, um ihn auf der Heimfahrt lustvoll zu beschmökern. Aus einem Augenwinkel heraus bemerkte sie geschmeichelt, dass ein feiner und interessierter Herr zu ihr herüberblickte….

Einem in die Länge gezogenen Strapsbändel, das plötzlich losgelassen wird nicht unähnelnd, war sie in die Gegenwart zurückgeschnellt. Zurück aus jenen lang vergangenen Zeiten, als sie allmorgendlich in der Eisenbahn in die Stadt fuhr, um ihrer Tätigkeit als Sekretärin im Anwaltsbüro des Dr. Kilian nachzugehen. Einem leicht vertrottelten alten Herrn, der seine ganze Arbeit nach und nach auf die Schultern seiner Sekretärin gewälzt hatte.

„Nehmen Sie sich dieser Sache mal an, Ella! Sie haben doch den rechten Durchblick…“ verstand er sich auf Schmeicheleien. Ella war an diesen Aufgaben gewachsen, und hatte sich in jene scharfdenkende Miss Marpel verwandelt, die auch heute noch in ihr schlummerte und gelegentlich aufblitzte.

Die vielen Freisprüche waren nicht dem Anwalt Kilian, sondern einzig und allein ihr zu verdanken. Sie hatte die zu Herzen gehenden Plädoyers geschrieben, die er nur abzulesen brauchte, und schon flogen dem Angeklagten die Herzen zu.

Wieder ertönte die Schelle – diesmal gleich zwiefach - kurz und ein wenig neckisch.

Ella griff sich den gebogenen Spazierstock neben dem Ohrensessel, entwinkelte ihr Gebein, das sich anfühlte, wie Wolframs uralter verrosteter Notenständer, der unter Gestöhn und mit letzter Kraft aufgefaltet und in die Höhe geschraubt werden sollte.

Halb aufgerichtet wackelte die alte Dame zur Haustüre, und betätigte den Summknopf.

Ein schwarzgekleideter hagerer Herr trat ein.

„Ella, bist du bereit?“ Nein. Ella war noch nicht bereit.

Sie hatte noch etwas auf dem Herzen, das sie eigentlich nicht ins Grab nehmen wollte. Eine eventuelle Beichte die noch anstand, hatte sie innerlich bereits vielfach geprobt:

„Aus purem Eigennutz habe ich meinen Sohn viel zu früh von der Leine gelassen. Das teure Käserad habe ich ihm nicht mitgegeben. Zwar habe ich ihm noch den Koffer gepackt und ein Vesper gerichtet. Das war´s dann aber auch, und hernach habe ich ihn nur noch ein einziges Mal auf der Beerdigung meines Vaters gesehen. Ja, dies bereue ich nun wirklich und wahrhaftig – wenn man sich, so Gott will, auch demnächst wiedersehen wird.“

Ella wusste bloß nicht so recht, wem sie dies beichten sollte? Einem Geistlichen? Ihrer Zugehfrau, Frau Kionczyk? Eberhard, ihrem einzig verblieben Sohn, einem wettergegerbten unfrohen Mann – mehrfach geschieden, verbittert und enttäuscht von den Frauen?

„Ach, liebes Herr Todchen! Noch einige drei Tage!“ rief Ella aus, doch dann lachte sie über diesen kleinen Scherz, den sie öfters anzubringen pflegte.

„Kommense rein!“ sagte sie nun.

Der Besucher war Ella unbekannt.

Er stellte sich mit einem Namen vor, der im Ohr des alten Mütterleins augenblicklich zu Staub zerfiel.

Einer lose an der Schulter hängenden Tasche entnahm er ein Blatt Papier.

„Hier habe ich Ihnen etwas mitgebracht, liebe Frau!“ sagte er feierlich.

Er überreichte Ella ein Blatt, doch Ella konnte lediglich erkennen, dass es sich um eine Zeichnung handelte. Ein Gesicht, das mit einem bunten Schriftzug in Bogenform überschirmt war.

Der Besucher räusperte sich ein wenig und begann zu erzählen, was ihn hierhergeführt habe.

Er bezupfte das Bild, das vor Ella auf dem Tische lag, und seine Stimme nahm einen klaren, dozierenden Klang an – seniorenohren- oder schlicht seniohrentauglich, wie er witzelnd hoffte. Überdeutlich sagte er: „Dieses Bild hing im Arbeitszimmer meines jüngst verstorbenen Vaters, den wir heute beerdigt haben. Kurz vor seinem Tode hat er mich gebeten, es Ihnen zu bringen, da er offenbar in Kenntnis war, wer die Mutter des Künstlers ist.“

Ella war eigentlich ein wenig schwerhörig, nun aber verstand sie jedes Wort. Ihr war zumute, wie einst der tauben Rosl aus der berührenden Sage vom Berggeist Rübezahl. Die taube Rosel hatte in jungen Jahren ein Kind vor dem Ertrinken gerettet. Hernach wurde sie schwer krank, und als sie sich nach langen Wochen eingermaßen erholt hatte, mußte sie fest-stellen, dass sie das Gehör verloren hatte. Aber als Rübezahl im Gewande eines Geistlichen von der Kanzel herabpredigte, verstand die taube alte Frau mit einemmale jedes Wort.

Der Fremde erzählte, und vor Ellas geistigem Auge spielte sich ein sepiagetönter alter Film ab:

An einem lang vergangenen Tag im Frühsommer des Jahres 1951 spazierte der Vater des Herrn eine Straße hinab. Inspiriert vom Gesang der Vögel trug er ein frohes Lied auf den Lippen. Am Wegesrand war ein Verkaufsstand aufgebaut.

Der kleine Wolfram hatte Bilder gemalt, die von seiner großen Schwester Uta mit einer bunten Buchstabengirlande in schönster Sonntagsschrift verziert worden waren.

„Ein frohes Fingspfest!“ lasen die Betrachter. Die kleine Uta hatte sich in ihrem Eifer ein wenig verschrieben. Doch dies störte niemanden. Im Gegenteil: Man schmunzelte.



An diesem Stand hat der siebenjährige Wolfram dem vorbeiflanierenden Herrn sein wunderschönes Portrait für nur zehn Pfennige verkauft!



Ella ließ die Augen eine Weile auf dem Blatte ruhen, und einen ganz kurzen Moment lang schien tatsächlich ein Gemälde aufzuflackern.

„Mein in der Blüte der Jahre stehender Vater hat mit Kennerblick sofort gesehen, dass dieses Bild – schon damals! - deutlich mehr wert war, als nur „zehn Pfennje“!“ fuhr der Gast in seinem Berichte fort. Das Wörtchen „Pfennje“ sprach er auf humorig-saloppe Weise gepfeffert aus – solcherart, als parodiere er einen Herrn vom alten Schlage.

„Hätten Sie die Freundlichkeit, mir das Bild zu beschreiben?“ bat Ella mit leicht zittrigem Stimmchen, „ich sehe leider nicht mehr gut!“

Erneut räusperte sich der Fremde, und holte in seinem Beschreibungsversuch ein wenig aus:

„Ein Jeder kennt so etwas: Man trifft einen Menschen, und ist von der ersten Sekunde an dick befreundet. Dabei kann es sich auch um ein kleines Kind oder einen Greisen handeln. Ähnlich ergeht es einem beim Blick auf dieses so lebendige Bild: Es handelt sich um das Portrait eines jungen Burschen, aus dessen Augen jedoch der Schalk eines älteren Herrn zu blitzen scheint. Ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen schildern soll… Das Gesicht eines Jünglings mit gnitzem Ausdruck. Scheinbar zu Schabernack aufgelegt, und doch mit den weisen Augen eines Jemanden, der alles Irdische bereits hinter sich gelassen zu haben scheint, und dessen Füße die Erdoberfläche nicht mehr richtig zu berühren scheinen“ der Fremde lachte über seinen unbeholfenen Versuch einer trübsichtigen älteren Dame ein Bild zu schildern. „Mein Vater jedenfalls hatte sich gefühlt, als erblicke er einen verlorenen Sohn, den man völlig überraschend, wie vom Blitz getroffen, in einer Menschenmenge wiederzusehen glaubt.“

Ella schloss die Augen, und ließ die lebhaften Schilderungen des Fremden in ihrem Inneren aufscheinen.

Neben dem Verkaufsstand der freudig lärmenden Kinder, die ihre Ware anpriesen, trat nun der Vater des Herrn ins Bild. Er blieb stehen, um zu schauen was die Jugend da wohl für einen Unsinn trieb, statt fleißig für die Schule zu lernen. Schließlich griff er sich ein feilgebotenes Gemälde, und hob es etwas an, um es noch besser betrachten zu können.

Und dann wurde er von jähem inneren Erbeben gepackt.

„Ein Geniestreich!“

Ein Wort, das nicht ausgesprochen, so jedoch gedacht wurde. Man las es in der Miene des ungläubigen Herrn, nachdem er das gebogene Haupt von der Zeichnung hinweg wieder emporgerichtet hatte.

„Für was brauchst Du denn so viel Geld?“ beknurrte er den kleinen Wolfram.

„Das brauche ich, um meiner Mami ein schönes Geschenk zum Muttertag zu kaufen!“ tat Wolfram in seiner lieben hellen Kinderstimme kund.

Der Herr drückte dem kleinen Künstler ein Zehnpfennigstück in die Hand, griff sich das Gemälde und setzte seinen Fußmarsch fort.

Ella öffnete die Augen und lauschte den Worten des Gastes:

„Mein Vater trug das Bild nach Hause, rahmte es, und hängte es im Musikzimmer an die Wand, wo es den Raum fortan mit einem eigentümlichen Zauber füllte.“

Der Besucher lachte, und schien dazu auf liebenswerte und gerührte Art die Nase zu kräuseln, wie Ella trotz der schwindenden Sehkraft zu erkennen glaubte.

„Nach vielen Jahrzehnten wurde das Zimmer renoviert, die Wände frisch geweißelt, und das Bild landete auf dem Dachboden, wo es so bald nicht wiedergefunden wurde. Wie oft muß man hören, dass etwas am falschen Ort gesucht wird.

An die Kahlstelle an der Wand hängte der Vater nun sein eigenes Hochzeitsfoto.“

Der Gast fuhr fort:

„Meine Mutter wunderte sich darüber und sagte: „Man hängt doch nicht nach so vielen Jahren einfach sein Hochzeitsbild an die Wand – und du schon gar nicht. Irgendwas steckt doch dahinter. Günther gesteh! – Kennense den Schlager?“

„Na, der ist doch wohl Jedermann ein Begriff!“ sagte Ella, und man lachte verbindend im Duett.

„Im Alter sprach der Vater immer öfter über das Bild an der Wand, dessen Verschwinden ihm Grind bereitete. Ihm war zumute, als habe jemand, der ihm sehr ans Herz gewachsen war, mit unbekanntem Ziel das Haus verlassen.



Nur wenige Wochen vor seinem Tode wurde das Bild überraschend doch noch gefunden.

„“Ich hab´s!“ rief Mutter kurz und knapp vom Speicher herab.

Man hängte das Bild an seinen Platz zurück, das Hochzeitsbild verschwand in einer Schublade, und wurde weder vermisst noch gesucht, da die Ehe der alten Leute mittlerweile ranzig geworden war.

Kurz vor seinem Tode habe der alte Herr über den jungen Künstler gesagt: „Ich hätte ihn küssen mögen, und habe ihm doch nur zehn Pfennige dafür gegeben! Nach meinem Ableben soll das Bild seiner alten Mutter gebracht werden, denn selbst mit einem Sack voller Gold, hätte man kein schöneres Muttertags-geschenk kaufen können!“

Draußen war es dunkel geworden. Der Fremde erhob sich. Er reichte Ella die Hand, murmelte noch ein paar Freundlichkeiten und verschwand in der Dunkelheit.
 



 
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