Hi anonymus,
ich versuche mal, Dir am Beispiel der ersten Strophe deutlich zu machen, was ich meine. Sie lautet:
„Seid still, ihr Vögel all“,
befahl die Nachtigall.
„Nur meine Stimme soll erklingen,
denn ich kann am schönsten singen.“
Die ersten beiden Zeilen laufen glatt über die Zunge. Jede zweite Silbe wird betont.
Auch in der dritten Zeile ist das so. Nur empfinde ich hier den Übergang schwierig. Das liegt an der Silbenzahl (das hört sich vielleicht kleinkarriert an, und wird von manchen auch als solches betrachtet - egal, so schreibe ich eben und so gehe ich vor

). Glatter wäre es, wenn die Zeilen drei zwei Silben und Zeile vier eine Silbe weniger hätte.
Zeile vier wird dann ganz problematisch. Damit ein Reimgedicht glatt läuft, sollte das Betonungsschema beibehalten werden. Wenn man das in Zeile vier macht, so muss man "schönsten" und "singen" jeweils auf der zweiten Silbe betonen. Im normalen Sprachgebrauch werden diese beiden Worte aber auf der ersten Silbe betont.
Was tun? Es gibt verschieden Methoden, sich die Betonung genauer anzusehen. Walther zum Beispiel macht dies mit kleinen und großen "X" (klein für unbetont, groß für betont), die er unter die jeweilige Zeile setzt. Ich bevorzuge es, mir die betonten Silben fett zu markieren. Das würde beim ersten Vers so aussehen:
„Seid still, ihr Vögel all“,
befahl die Nachtigall.
„Nur meine Stimme soll erklingen,
denn ich kann am schönsten singen.“
Ich sprach eben von der Silbenzahl. Da sich Zeile vier am leichtesten "reparieren" ließe, hier ein Vorschlag:
[strike]denn [/strike]ich kann am schönsten singen.
Nur durch das Streichen des ersten Wortes (eine Silbe

) passt die Betonung.
Natürlich kann man eine nicht glatte Metrik bewusst einsetzen, um z.B. etwas im Text zu verdeutlichen oder den Spannungsbogen zu ändern. Doch ein Gedicht wie dieses hier sollte - nach meinem Geschmack (ja, auch das ist eine Geschmacksfrage

) - durchgehend das gleiche Betonungsschema haben. In diesem Fall sollte also in allen Versen die Betonung auf der zweiten Silbe liegen und die jeweiligen Zeilen (erste, zweite, dritte, vierte) sollten die selbe Silbenzahl haben.
Abschließend nur noch der Hinweis, dass es auch Gedichte gibt, in denen auf eine betonte Silbe zwei unbetonte folgen - oder auf zwei unbetonte eine betonte. Dieses Schema findet man zum Beispiel in Limericks.
So, ich hoffe, das war jetzt nicht zu oberlehrerhaft

. Wie gesagt, wir haben hier in Leselupe auch Autoren, die Silbenzählerei (das Thema habe ich jetzt nur am Rande gestreift

) und einheitliche Metrik ablehnen. Aus meiner Sicht kann man diese starren Regeln durchaus auflösen, sollte sie aber zunächst beherrschen.
Liebe Grüße
Andreas