Die neue Welt des Gänseblümchens

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An einem kleinen Bach, nicht weit von hier, gibt es eine friedliche und sonnige Stelle, an der das Moos grünem und gesundem Gras weicht und viele Blumen die Natur mit Farben erleuchten. Dort gibt es große Blumen, kleine Blumen, mit großen Blüten und kleinen Blüten, mit dicken Stängeln und dünnen Stängeln. Sie alle wachsen für sich der Sonne entgegen.
An diesem Ort wurde die Welt eines kleinen Gänseblümchens plötzlich schwarz.

Das Gänseblümchen wuchs direkt am Ufer des kleinen Baches. Es konnte das Plätschern des Wassers hören, die helle Sonne spüren und war durch die umliegenden Gräser vor dem Wind geschützt. Hin und wieder bog eine der anderen Blumen nach einem schweren Regenfall den Hals herab und leistete dem Gänseblümchen Gesellschaft.
Es war ein solcher Tag. In der Nacht, auf die immer ein Tag folgt, war der Regen vom Himmel herabgekommen und hatte die Blätter der Ringelblume erschwert, die nun tief herunter gebeugt stand und sich mit dem Gänseblümchen unterhielt. Das Gänseblümchen war froh, dass seine Freundin sich die Zeit nahm. Es hatte die Ringelblume sehr gern und genoss ihre gemeinsamen Gespräche. Gerade sinnierten die beiden über die Sinnlosigkeit der Vögel (die doch nur laut waren, auf schönen Blättern ihren stinkenden Dreck hinterließen und grundsätzlich unnötig schienen),
da brach ein Stück vom Himmel herab​
zerquetschte die vornübergebeugte Ringelblume unter sich​
und hüllte das Gänseblümchen ein in Dunkelheit.​

Verwirrung war das erste, was diese neue dunkle Welt prägte.
Verwirrung, Unverständnis und bald darauf …
Was war passiert?
Wieso war die Nacht so plötzlich hereingebrochen?
Weshalb war die Ringelblume verstummt? Sie hatte doch eben noch von ihrem Ärger über die Amseln erzählt, die direkt über ihren Köpfen in aller Frühe anfingen zu trällern und zu zetern.
„Ringelblume?“, fragte das Gänseblümchen in die Dunkelheit. Keine Antwort kam. Es reckte den Hals und hoffte, trotz der Finsternis etwas zu erkennen, doch es hatte keinen langen Stängel und kam daher nicht weit. Es fragte die aufgeregt tuschelnden Gräser, was passiert war – aber die waren entweder ebenso ratlos oder genauso verstummt wie die Ringelblume.
Seufzend entschied sich das Gänseblümchen, diese seltsame Nacht abzuwarten und am Tag, der immer auf die Nacht folgt, so weiterzuleben wie bisher.

Während das Gänseblümchen geduldig wartete, begann direkt neben ihm eine gequetschte, vom Leben abgetrennte Ringelblume zu verwelken.

Das Gänseblümchen wartete. Wartete. Wartete.
Der Tag kam nicht. Die seltsame Nacht blieb genauso seltsam und genauso finster.

Bald fiel dem Gänseblümchen auf, dass mit der Dunkelheit auch Stille gekommen war. Nicht nur die Ringelblume war verstummt, auch das Plätschern des Baches war nur noch schwach zu hören. Es war ein dumpfes Geräusch, abgeschirmt und unzugänglich. Das Gänseblümchen schrak innerlich davor zurück. Der Bach und sein Plätschern hatten ihm immer Klarheit geschenkt, Ehrlichkeit, Ruhe. Nun war dieses andere Geräusch, diese ferne, abgewandte Version kein Trost und keine Hilfe mehr. Es erinnerte nur daran, wie still es im Vergleich zu früher war. Wie dunkel diese Nacht war, und wie lange sie anhielt.
Um die Stille zu füllen, begann das Gänseblümchen leise zu singen. Es sang und es wartete. Wartete. Wartete. Das Gänseblümchen begann lauter zu singen, lauter und immer lauter, bis es nichts mehr außer seinem eigenen Gesang hören konnte. Es übertönte die Stille, die hereingebrochen war.

Das Gänseblümchen sang so laut, dass es die leisen Klagelaute der sich immer weiter zurückziehenden Gräser nicht wahrnahm.
So wurde die stille Nacht noch stiller.

Das Gänseblümchen wartete. Wartete. Wartete.
Es wartete so lange, dass es sich bald nicht mehr erinnern konnte, wann es mit dem Warten angefangen hatte. Es begann, sich die Zeit zu vertreiben.

In der Dunkelheit und der Stille begann es, seine Blätter zu schwenken. Sich spielerisch in die eine und dann die andere Richtung zu drehen. Es reckte und streckte sich und bog sich in Positionen, die es noch nie zuvor eingenommen hatte. Es fand es interessant, sich selber zu beobachten, und bewusst das eine Blatt zu wachsen, während andere Blätter blieben, wie sie waren.
Mit der Zeit wuchsen die Blätter und die Stängel des Gänseblümchens, und beim Schwenken erreichte es nun Orte, zu denen es nie zuvor gekommen war. Es kicherte über das Kitzeln der kleinen Steinchen auf dem Boden und begann, mit seien unteren Blättern darüber zu reiben. Manchmal riss dabei die Haut auf und der grüne Blättersaft hinterließ eine feuchte Spur auf der Erde. Da freute sich das Gänseblümchen über dieses Gefühl – die feuchte Erde erinnerte es an die Zeit, als große Regentropfen vom Himmel gekommen waren und sich Blumen zu ihm herab gebeugt hatten. Es waren schöne Erinnerungen, die es nicht vergessen wollte – und so kam es regelmäßig vor, dass die Blätter des Gänseblümchens am schroffen Boden aufrissen.

Als das Gänseblümchen weiter wuchs und weiter seine Blätter ausbreitete, begann es auch, sich nach oben zu recken. Es wuchs und wuchs und fühlte bald einen Widerstand – eine Wand, die ledrig gegen seine Blätter und seine Blüte drückte. Dieses Gefühl machte das Gänseblümchen neugierig. Es hatte in sich selbst längst den Bezug zu seiner Größe verloren und glaubte, nun so gigantisch geworden zu sein, dass es das Himmelsgewölbe selbst erreicht hatte. Lachend spurtete es sich noch weiter zu wachsen, sich voll auszubreiten und die ganze Welt einzunehmen. Es fühlte sich groß, mächtig, presste seine Blätter weiter und weiter an diese Wand und spürte seine Stärke.

Es ignorierte die Schmerzen und die Schwäche, die nach so einer langen Nacht ohne Sonne langsam in seine Stängel kroch. Wozu Sonne? In dieser Nacht war es doch dunkel genug, sich endlich Mal frei fallen zu lassen, ohne von anderen gesehen zu werden. Wie beruhigend diese Nacht doch war.

Als das Gänseblümchen auch die letzten Ecken seiner Welt ertastete, stieß es plötzlich an etwas, das es nicht erwartet hatte. Etwas Trockenes lag dort auf dem Boden.
Nervös hielt das Gänseblümchen inne. Dieser Ort erinnerte es an früher, wo eine gute Freundin sich zu ihm herabgebeugt und mit ihm geredet hatte. Ein Teil von ihm schrak davor zurück, wollte auf keinen Fall wissen, was da auf dem Boden lag. Doch es war schwierig, das Wachstum seiner Blätter aufzuhalten. Es begann, das Trockene Ding weiter zu ertasten und erspürte einen langen, trockenen Halm. Es fuhr dessen Länge entlang, knisternd gaben vertrocknete Fortsätze nach, und schließlich kam es zum Ende, wo eine Knolle mit trockenen Fingern war – wie eine Blüte.
Schlagartig wandte sich das Gänseblümchen von dort ab.
Nein. Nein. Dort war nichts. Dort war nichts.
Diese Nacht war dunkel und still und das Gänseblümchen war allein.
Es gab nichts in dieser Nacht. Nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu fühlen.
Nur das Gänseblümchen und die Dunkelheit.

Mit zittrigen, kranken Blättern presste sich das Gänseblümchen an das Einzige, was ihm noch Halt gab – die Wand, die ruhig und ledrig und konstant war. Die Dunkelheit, in der sich das Gänseblümchen auf sich, und nur auf sich, konzentrieren konnte. Die Stille, in der das Gänseblümchen sein Zeitgefühl verlieren und alles andere vergessen konnte.
Nichts war hier, außer es selbst.
Der Kopf des Gänseblümchens, der zunehmend dunkler werdende Blütenblätter hielt, zog sich nun tief in diesen starken, dichten, alles einnehmenden Kokon aus wuchernden Blättern zurück.

Dort war nichts zu spüren.

Nichts zu sehen.

Nichts zu hören.

Nichts zu fühlen.





Da das Gänseblümchen durch sein eigenes Wachstum so sehr von der Außenwelt abgeschirmt war, bemerkte es auch nicht den Einbruch des Tages, der auf jede seltsame Nacht folgt. Irgendwann (wer weiß schon, wie viel Zeit vergangen war) kam ein Mensch vorbei und hob den alten Schuh auf, den wohl irgendwer neben einen kleinen Bach geworfen hatte. Dieser Mensch wunderte sich über die seltsame Pflanze, die im Hohlraum des Schuhs gewachsen war. Er hielt kurz inne, sah diesen Haufen fest geformter Blätter an und erkannte nur einen kränklichen Ballen aus verblassendem Grün. Er sah nicht die Blätter, die aufgerissen am Boden klebten. Er sah nicht die Dunkelheit, die das Dach aus Blättern im Inneren erzeugte. Er sah nicht die Blüte, die schutzsuchend darin gefangen war. Und doch wusste er:
„Das wird schon wieder.“
 



 
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