Die Pfade der Seele

Die Pfade der Seele
„Nein!“
„Doch!“
„Es ist unmöglich!“
„Im Gegenteil: Es ist die einzig mögliche Erklärung!“
Dr. Jensen machte einen Schmollmund, der kaum zu seinem respektablen, grauen Vollbart paßte und beugte sich über den Schreibtisch.
„Ich weiß, daß das zunächst etwas verwirrend ist, Herr Wagner. Aber Sie werden sich dieser Erkenntnis anpassen, vertrauen Sie mir! Sie sind nicht mein erster Fall. Auch wenn es vielleicht im ersten Moment unheimlich und beunruhigend erscheint, werden Sie schon bald die Chancen erkennen, die Schönheit dieses Phänomens...“
„Sie haben mich nicht überzeugt!“
„Die Argumente liegen auf dem Tisch! Sie sind es, der sich nicht überzeugen lassen will. Aber bitte!“
Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, legte die Handflächen aufeinander und berührte mit den Fingerspitzen seine Nase.
„Fangen wir also von vorne an! Wie viele Jahre hatten Sie Latein an der Schule?“
„Überhaupt nicht. Nur Französisch und etwas Spanisch!“
„Hatten Sie Aufbaukurse an der Universität?“
„Nein!“
„Oder sich privat mit dieser Sprache beschäftigt?“
Wortlos schüttelte ich den Kopf.
„Mit anderen Worten: Latein ist Ihnen vollkommen fremd?“
„So kann man es ausdrücken, ja!“
„Aber in der Sitzung haben Sie mit mir auf Latein gesprochen. Fehlerfrei! Wie erklären Sie sich das?“
„Erklären! Wie soll ich das erklären?“ Ich hob die Schultern. „Vielleicht habe ich unbewußt etwas aufgeschnappt und dann in der Hypnose...“
„Aufgeschnappt!“ Mit einem besserwisserischen Lächeln legte Dr. Jensen den Kopf auf die Seite. „Sie glauben also, Sie könnten eine Sprache, an der viele Schüler trotz größter Anstrengung verzweifeln, durch reines Aufschnappen so weit erlernen, daß Sie zu freier Konversation fähig wären?“
Verbissen starrte ich auf die Hände in meinem Schoß, als böten sie mir ein fesselndes Spektakel.
„Bedenken Sie bitte auch die anderen Fakten!“ Jensens Stimme hatte wieder dieses sanfte Timbre angenommen, mit dem er mich damals schon so geschickt eingelullt, mich in diesen warmen, weichen Zustand geführt hatte - in eine friedliche, heitere Dunkelheit.
„Sehen Sie - die Fakten haben Zacken und Kerben. Wie Puzzleteile! Es gibt nur eine Art, sie richtig zusammenzufügen. Lassen Sie uns die nächsten Schritte gemeinsam gehen! Auch ich kann bei Ihnen keine Disposition für eine neurotische Erkrankung feststellen. Und trotzdem haben Sie plötzlich diese panische Angst vor dem Feuer, ja?“
Die hatte ich in der Tat. Mit Feuer hatte der ganze Wirrwarr überhaupt erst begonnen; damals an diesem Abend bei Heiko und Janne. Wir waren beim dritten Glas Glühwein angekommen und genossen das herrliche Mandelaroma. Janne hatte gerade die drei Kerzen des Adventkranzes auf dem Wohnzimmertisch angezündet, als Tobias auf kleinen, unsicheren Beinchen auf mich, seinen Onkel Christoph, zustapfte, das Gleichgewicht verlor, sich mit seiner Patschhand an der Tischdecke festhielt und auf den Hintern plumpste.
Ich reagierte rein instinktiv. Als ich den Kleinen in meinen Armen hielt und erkannte, daß er weder von den Kerzen, noch vom heißen Wein erwischt worden war, hatte ich nur Sekundenbruchteile Zeit, mich zu freuen. Dann fing das herunterhängende Tuch Feuer, eine kleine, von Funken umgebene Flammenzunge zuckte in Richtung auf mein Hosenbein. Heiko konnte das Feuer - verrückt wie er war, mit der bloßen Hand - ersticken. Doch um mich war es, als ich die Flamme an meinem Bein sah, geschehen. Nie hätte ich vorher gedacht, daß ein Herz derart schnell schlagen, daß eine Atemnot so beängstigend sein konnte.
Zwar schaffte ich es an diesem Abend noch, die Haltung zu wahren, aber die Angstattacken rissen seitdem nicht mehr ab. Fast jede Nacht hatte ich Alpträume. Bilder von offenem Feuer oder gar Bränden wurden unerträglich, an meinen Armen und Beinen bildeten sich eigenartige Bläschen.
Insgesamt fünf Wochen war ich krankgeschrieben. Das Verhältnis zu meinem Psychotherapeuten war belastend. Ich spürte seine Verachtung darüber, daß ich nicht die kleinste Störung, den kleinsten Konflikt aus meinem Leben preiszugeben bereit war. Sogar meine Persönlichkeitsfragebögen schienen ihn zu langweilen.
Als ich in meiner Verlegenheit die feuchtkalte Atmosphäre zwischen uns mit einem Witz aufzulockern versuchte und ihn fragte, ob ich möglicherweise latent normal sei, lachte er nicht, sondern verzog das Gesicht, als wäre er in einen Hundehaufen getreten.
„Die Interaktion zwischen uns ist nicht sehr produktiv, finden Sie nicht auch? Ich denke, Sie sollten zu einem Hypnose-Therapeuten. Vielleicht kann der ja Ihre Blockaden überwinden!“
Diesem Rat folgend, hatte ich mich an Dr. Jensen gewandt. In diesem Augenblick begann ich, meinen Entschluß zu bereuen.
„Aber Angst vor Feuer ist doch wohl nicht so... ungewöhnlich, oder?“
„Für sich genommen, nein! Aber die Umstände! All diese eigenartigen Umstände! Wollen wir uns das Band nicht noch einmal anhören?“
Mit einem Knopfdruck brachte er den Kassettenrecorder zum Laufen, aus dem meine Stimme ertönte. Sie klang dumpf und benommen.
„...und emphaht der Kunstfertige aus diesem distilato den Mercurium Philosophorum und ist diese materia aller negst dem Golde...“
„Sie hatten ein sehr tiefes Trancestadium erreicht“, sagte Jensen, der sich auf seinem Drehstuhl mit einer Viertelkreisdrehung von mir abgewandt hatte und zur Decke schaute, um sich besser auf die Tonaufzeichnung konzentrieren zu können.
„... doch klagten, daß ich meine kunst habe von Luzifer und sei demnach verdampt, derowegen sie mich brachten vor den rath, des urtheil hieß, daß ich ohn milderung werd mit feuer bestraft vom leben zum todt. Dies zu Brunßwick den vierzehnten januari anno Tusend Fünfhundert sieben und nüntzig...“
Langsam wie einen Geschützturm setzte Jensen den Stuhl in Bewegung und schwenkte seinen Blick auf mich.
„Wozu soll ich Sie länger auf die Folter spannen? Ich habe mir erlaubt, ein wenig im Braunschweiger Stadtarchiv zu stöbern. Am vierzehnten Januar 1597 wurde auf dem Marktplatz der Schwarzkünstler und Alchimist Hennes Kuchenbaker, genannt Johannes Saxohermeticus, den Flammen übergeben!“
Er wartete einen Augenblick ab, bevor er den Rekorder ausschaltete.
„Glauben Sie, daß sie alle einem Wahn erlegen sind - die Hindus, die Buddhisten, die vielen, vielen Naturvölker? Die alten Ägypter? Schauen Sie, wohin Sie wollen! Bei Platon, bei den Gnostikern, im Santeria auf Kuba, bei unseren modernen Esoterikern! Sogar bei vielen Christen! Alles nur Opfer einer Irrlehre? Ich sage Ihnen: Die Idee der Seelenwanderung stellt einen uralten, ehrwürdigen und tröstlichen Glauben dar, eine der besten Traditionen des menschlichen Geschlechts!“
„Und jetzt?“
„Etwas in Ihnen ist erwacht! Durch einen kleinen Zufall! Lassen Sie es nicht wieder einschlafen! Ich kenne da eine private Organisation. Dort werden Sie unter Gleichgesinnten sein. Ich beneide Sie!“
*
„Ein Reinkarnationserlebnis, aha?“ brummte der Mann und taxierte mich über seine Brillengläser hinweg. Scheppernd warf er die ausgefahrene Schublade des Stahlschranks zu und machte zwei Schritte in meine Richtung. „Von wem haben Sie unsere Adresse?“
„Von Dr. Jensen. Hier! Scheint wohl eine Art Empfehlung zu sein!“
Ich reichte ihm den Briefumschlag.
„Von Dr. Jensen! Na, wunderbar! Denkt wohl, daß wir uns mit jedem gleich auf ein Schwätzchen zusammensetzen können. Der Gute hat wirklich lustige Vorstellungen von unserem Zeitbudget!“
Er öffnete das Kuvert und entfaltete den Brief, den er mit unruhigen Augenbewegungen überflog, wobei er sich mehrfach unterbrach und mir kurze prüfende Blicke zuwarf.
„Ich schlage vor, Sie gehen ins Sekretariat, an dem Sie sich ja anscheinend vor ein paar Sekunden erfolgreich vorbeigemogelt haben, und füllen das Formular zur Fallerfassung aus. Wenn wir Sie brauchen, setzen wir uns mit Ihnen in Verbindung. Das kann aber... Nein! Warten Sie!“
Er straffte seine Haltung, schob die Brille zurecht und deutete auf den Briefbogen in seiner Hand.
„Das klingt interessant! Auf dem Gebiet sind wir tatsächlich schwach besetzt!“ Versonnen strich er sich mit der Linken über das Kinn. „Ohne Einverständniserklärung werde ich mich aber hüten, nur noch einen Mucks zu sagen! Moment!“
Er drehte mir den Rücken zu, kramte in einem Papierstapel auf einem hölzernen Aktenregal und fischte ein eng bedrucktes Blatt hervor, das er mir vor die Nase hielt.
„Datum, Unterschrift mit Vornamen, dann können wir weiterreden!“
Meine zusammengekniffenen Augen entnahmen dem Text ein paar Stichproben, in denen vor allem von „Vertraulichkeit“, „absoluter Verschwiegenheit“ und dem Vorbehalt straf- und zivilrechtlicher Verfolgung die Rede war.
„Wenn Sie jetzt bitte...“
Er reichte mir einen billigen Plastikkugelschreiber, worauf ich das Blatt auf den Tisch neben mir legte und meine Unterschrift auf das graue Umweltschutzpapier setzte. Als ich ihm das Blatt zurückgeben wollte, fuhr er den rechten Arm so unvermittelt aus, daß ich etwas zögerte, die weiche, faltige Hand zu ergreifen.
„Ich heiße Cornelius. Doktor zwar, aber den lassen Sie bitte weg! Kostet nur Zeit!“
„Sind Sie allein im Gebäude? Ich habe am Eingang nur das Schild Ihrer Gesellschaft gesehen!“
„Gut beobachtet! Die ‘Gesellschaft für historische Psychologie’ ist der Besitzer des Hauses. Wir nutzen alle acht Stockwerke!“
Er schien meine Überraschung zu genießen.
„Kommen Sie! Ich zeige Ihnen die wichtigen Abteilungen. Dabei kann ich Ihnen alles erklären!“
Als wir den Flur betraten, fragte ich:
„Ich dachte, Sie seien ein privater Verein?“
„Privat stimmt, Verein nicht. Wir arbeiten gewinnorientiert. Aber der Staat und die Kirchen zahlen gut für ihre Aufträge. Und für unser Schweigen!“
„Für Sie ist die Seelenwanderung also erwiesen?“
Cornelius verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.
„Das ist ungefähr so, als ob Sie British Petroleum fragten, ob für sie die Existenz einer Substanz namens Erdöl erwiesen sei!“
„Wie arbeiten Sie?“
„Unsere Gründerväter waren feine, stille Privatgelehrte mit einer Vorliebe fürs Okkulte. In den letzten 35 Jahren hat sich da aber so einiges geändert. Zunächst hat meine Generation - damals nannte man uns noch die jungen Wilden - die Fälle systematisiert und elektronisch gespeichert, so daß sie einer weiterführenden statistischen Auswertung zugänglich wurden.
Mein erster Fall einer MSU - in diesem Haus sprechen wir nicht von Seelen, sondern von MSUs, von Mobile Spiritual Units - mein erster Fall betraf einen pensionierten Unteroffizier, der jede Nacht davon träumte, einen Hasen zu jagen. Wir haben versucht, ihn unter Hypnose zu bewegen, an sich hinunterzuschauen, was aber nicht gelang. Daher haben wir die Perspektive nachgestellt und dabei errechnet, daß der Proband während des Traumgeschehens die Größe eines Fuchses oder einer Wildkatze gehabt haben muß.“
„Das klingt verdammt aufregend!“
„Nicht wahr? Auf Grund einer Serie ähnlicher Befunde konnten wir die sogenannte Intra-Spezies-Korrelation berechnen. Und die beträgt immerhin 94,7%!“
„Das bedeutet?“
„Das bedeutet, daß 94,7% aller MSUs beim Tod auf einen Träger (oder carrier) übergehen, der der gleichen biologischen Art angehört.“
„Ich habe in den letzten Tagen so einiges dazu gelesen. Die Reinkarnation in einem Tier als Folge von Verfehlungen im vorangegangenen Leben? Das karmische Gesetz?“
„Wohl kaum! Unsere Studien unterstützen die Theorie der karmafreien Transition. Es scheint sich bei Übergängen zwischen Spezies eher um Engpaß- oder Flaschenhalsphänomene zu handeln! Vergessen Sie dabei nicht das Problem der Kompatibilität, die Unterschiede in der Hirngröße und in der Ausstattung mit Sinnesorganen zwischen den verschiedenen Spezies!“
Cornelius hielt vor einer geschlossenen Tür.
„Ich möchte Sie gern mit Dr. Gohr bekannt machen!“
Er öffnete die Tür und schob mich in den Raum, in dem mindestens ein Dutzend Schreibtische standen, auf denen PCs montiert waren. Nur ein einziger Arbeitsplatz war besetzt. Vor seinem Computer saß ein kleiner, schmaler Mann, der nicht viel älter als fünfundzwanzig Jahre sein konnte. Er winkte uns lächelnd zu. Sein Schreibtisch stand direkt an der Wand, an der eine große Landkarte hing, auf der sich Fähnchen in verschiedenen Farben drängten.
„Wo sind die anderen?“ fragte ich, wobei ich mich demonstrativ in alle Richtungen umschaute.
„Unterwegs in den Kliniken! Die große neue Beringungskampagne!“ antwortete der junge Mann.
„Was für eine Kampagne?“
„Na ja! So wie die Vogelkundler ihre kleinen Piepmätzchen mit Ringen markieren, so machen wir das mit unseren MSUs!“
„Ich fürchte, das habe ich nicht ganz verstanden!“
„Die Erinnerung an vorangegangene Existenzen ist oft so blaß und verwischt, daß wir die MSU nicht personell identifizieren können. Deshalb gehen wir in die Kliniken. Zu den Sterbenden! Meistens Anhänger des Reinkarnationsgedankens. Mit solchen Leuten läßt sich ziemlich ungezwungen über den nahen Exitus sprechen. Das Resultat wird dadurch nicht verzerrt.“
Er warf Cornelius einen knappen Blick zu, wie um sich zu vergewissern, ob er weitersprechen durfte.
„Wir versetzen die Probanden in meditative Trance und lassen sie einen Code erlernen: Etwa A-02-TZ-1345 oder so! Dann stellen wir die Neuzugänge der Geburtskliniken zusammen, die in Zusammenhang mit dem Zeitpunkt des Ablebens stehen. Dann warten wir ein paar Jährchen ab, bis die lieben Kleinen sprechen können und fragen sie, ob sie sich an irgendeine witzige Nummer erinnern können.“
„Und das funktioniert?“
„Mittlerweile ja! Das erste Projekt wurde allerdings um ein Haar abgebrochen, weil die Treffer zunächst ausblieben. Aber dann sind wir auf die Idee gekommen, auch bei Kindern zu forschen, die neun Monate nach den Todesfällen geboren wurden... Sie verstehen?“
„Nein!“
„Ist doch klar! Der Übergang erfolgt auf eine frisch befruchtete Eizelle! Wir sprechen auch von Infektion!“
„Ah! Jetzt geht mir ein Licht auf! Die Leibesfrucht ist vom ersten Moment an beseelt! Das ist dann ja.... das ist der Todesstoß für die Legalisierung der Abtreibung!“
„Das sehe ich anders! Bei einem Abbruch springt die MSU einfach weiter auf die nächste Zelle. Bis sie halt eine infiziert, die ausgetragen wird!“
„Sie verwirren mich!“
„Aber warum denn? Es wird alles jeden Tag klarer! Wußten Sie, daß 67% aller Transitionen innerhalb eines 50-km-Radius stattfinden?“ Er deutete mit einem Bleistift auf die Karte mit den Fähnchen.
„Woher sollte ich?“
„Oder daß sich nur 5% aller Übergänge zwischen verschiedenen Geschlechtern ereignen? Das entspricht der Häufigkeit der Homosexualität in Europa!“
„Das wäre wirklich eine überraschende Erklärung!“
„Nun ja!“ Er tippte sich mit dem Bleistift an die Lippen. „Es bleiben natürlich Fragen! Viele Fragen!“
„Welche zum Beispiel?“
„Nehmen wir das Problem des Informationskollapses! Wie ist Ihr Name?“
„Christoph Wagner!“
„Nun, Herr Wagner, ich gehe davon aus, daß Sie carrier für eine MSU sind, sonst hätte Sie Herr Cornelius wohl nicht hierher geführt. Wie heißt Ihre Einheit?“
„Johannes Saxohermeticus!“
„Interessanter Name! Wenn Sie - was hoffentlich nicht so bald geschehen möge - sterben: Dann werden ja mindestens zwei Einheiten heimatlos, nicht war? Die von diesem Johannes und die von Ihnen, die von Christoph Wagner. Das heißt, der nächste carrier müßte gleich zwei Einheiten mit seiner eigenen integrieren, der übernächste drei und so weiter und so fort!“
„Ich verstehe! Irgendwann drängeln sich einfach zu viele Leute in ein und dem selben Kopf!“
„Wir haben an multiplen Persönlichkeiten geforscht, aber das ist ein windiges Thema! Im Moment testen wir die Split-Soul-Hypothese. Das heißt, wir untersuchen die Frage, ob sich die verschiedenen MSUs eines carriers beim Tod aufteilen und getrennter Wege gehen. Vielleicht auch ins Reservoir!“
„Wohin?“
„Ins Reservoir! Die Zahl der Lebewesen, die jemals existiert haben, nimmt ständig zu, die Zahl der gleichzeitig lebenden bleibt aber konstant. Der Überhang wächst und wächst! Einer meiner Assistenten sucht nach einem hypothetischen Reservoir - nach einer Warteschleife, wenn Sie so wollen. Momentan arbeitet er an Spukberichten und paranormalen Tonbandstimmen...“
„Nun bringen Sie unseren Gast doch nicht gleich so durcheinander!“ unterbrach ihn Dr. Cornelius in väterlich-tadelndem Tonfall. Gohr schaute jedoch geistesabwesend auf seinen Monitor.
„Das Problem könnte sich in den nächsten Jahrzehnten dramatisch zuspitzen. Ich sage nur eins: Künstliche Intelligenz! Stellen Sie sich vor, wie die MSU eines Computerprogramms einen Menschen infiziert! Oder wie sich eine menschliche Seele in einem Hochleistungsrechner reinkarniert! Ich finde...“
„Jetzt ist aber Schluß!“
Cornelius warf dem Sitzenden einen bohrenden Blick zu. In diesem Augenblick drangen die ersten Takte der Kleinen Nachtmusik aus seiner Jackentasche und nötigten ihn, sich mit mürrischem Gesichtsausdruck das Handy ans Ohr zu halten. Als er das Gerät wieder in der Tasche verschwinden ließ, richtete er sich an seinen jüngeren Kollegen.
„Ich bin in der Rechtsabteilung! In zehn Minuten können Sie Herrn Wagner nach oben bringen!“
Gohr schaute ihm mit hochgezogenen Augenbrauen hinterher.
„Sie haben einen sehr spannenden Beruf!“ sagte ich.
Er zuckte mit den Achseln.
„Ja? Finden Sie das System wirklich so gelungen?“
„Wie meinen Sie das? Sie klingen deprimiert! Ich hatte dieses Erlebnis erst vor kurzem. Ihre Nachdenklichkeit ist ein wenig beunruhigend!“
„Wie ist Ihr Saxohermeticus gestorben?“
„Er ist... er wurde verbrannt!“
„Verbrannt! Hmmm!“
Ohne mich anzuschauen, klopfte er sich wieder mit dem Bleistift gegen die Zähne.
„Verbrannt! Wie alt ist er geworden? Dreißig Jahre? Vierzig? Und dafür zehn Milliarden Jahre Erinnerung an dieses Trauma! Einige Schmerzen können anscheinend nie vergehen!“
Ich spürte, wie die verschorften Bläschen auf meinen Armen zu jucken begannen.
„Ist das wirklich Ihre Sicht der Dinge?“
„Finden Sie das denn so tröstlich? Daß sich die alten Seelen auf dieser Erde bis unter die Decke stapeln? Daß Dschingis Kahn, Torquemada, Hitler und Pol Pot nicht vergehen wollen und den Jungen die Luft zum Atmen nehmen?“
„In Ihrer Position denken Sie sicher sehr intensiv über diese Fragen nach!“
„Oh ja! Ich bringe Sie jetzt nach oben! In die Rechtsabteilung, wie es hier so verschämt heißt. Danach werden Sie sich fragen, warum jemals vom seelenlosen Kapitalismus gesprochen wurde!“
„Was passiert dort?“
„Cornelius würde sagen: Wir machen keine Folkore, wir machen Wissenschaft! Angewandte Wissenschaft!“
„Können Sie vielleicht genauer werden?“
„Wenn sich jemand selber das Leben nimmt, ist seine Lebensversicherung oft über irgendwelche Klauseln von der Leistungspflicht befreit. Deshalb tarnen viele ihren Suizid als Unfall. Wir haben hier die Möglichkeit, solche Tatbestände post mortem herauszufinden. Können Sie sich vorstellen, was die Versicherungsgesellschaften für unsere Gutachten zahlen?“
„Nun, ich denke...“
„Das war nur ein Beispiel! Verstehen Sie? Hier bei uns hat die Vergangenheit aufgehört, Vergangenheit zu sein! Sie wird zu klingender Münze! Vor kurzem haben wir hier einen alten Briten detektiert, der vor zweihundert Jahren Gouverneur auf einer kleinen pazifischen Inselkette war. Er hat uns anvertraut, daß er den Befehl, die Eingeborenen mit Pocken und Alkohol auszurotten, direkt von der Krone bekommen hatte. Das ist staatlich befohlener Völkermord - nicht die Tat eines einzelnen, wie die Briten es immer dargestellt haben. Eventuell wird der Internationale Gerichtshof zu klären haben, ob die Sache mittlerweile verjährt ist. Natürlich geht es dabei auch um viel Geld... “
„Wie könnte meine Rolle in Ihrer Gesellschaft aussehen?“
„Ich kenne Cornelius und weiß, in welchen Bahnen er denkt! Er ist ein verklemmter Okkultist. Er wird Ihnen Bücher geben über Alchemie, vielleicht stellt er Ihnen ein Labor zur Verfügung. Dann wird er Sie drängen, alles zu tun, was der Erinnerung Ihrer MSU auf die Sprünge hilft. Er wird von Ihnen verlangen, vierhundert Jahre chemischer Forschung zu vergessen und zu prüfen, ob die alten Zaubermeister vielleicht nicht doch ein paar Tricks gekannt haben. Sie werden alles noch einmal durchspielen. Alles! Auch die Fehler! Bei uns steht sogar die Heilige Inquisition unter Denkmalschutz!“
Er wandte seinen Blick von mir ab. Seine Stimme wurde leise und klang geistesabwesend.
„Schnee fiel überall auf die dunkle Zentralebene, auf die baumlosen Hügel, fiel sacht auf den Bog of Allen, und, weiter gen Westen, fiel er sacht in die dunklen aufrührerischen Wellen des Schannon...“
„Was ist das?“
„‘Die Toten’ von Joyce! Die Stelle gefällt mir. Das Leben der Menschen als fallender Schnee. Nun ja! Bei uns verdunstet er, steigt in die Atmosphäre, kristallisiert und fällt von neuem. Und so weiter und so fort! Ist das nicht entsetzlich bedrückend?“

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