Die Prinzessin

sabine simon

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Es war einmal ein junges Prinzesschen, dass sich in die Großstadt verirrt hatte. Die echten Prinzessinnen waren ja vor allem im Mittelalter oder im Märchen beliebt, auch wenn diese Zeiten fast verschwunden zu sein scheinen. Merkwürdigerweise hatte ein ganz einzigartiges Prinzessinnenexemplar trotzdem überlebt. Wie sie auf die belebte Einkaufsstraße gekommen war, wusste sie nicht mehr, aber es gefiel ihr hier. Vor dem Schaufenster eines Juweliers blieb sie stehen, und was sie sah, machte ihr Spaß, denn das hier kannte sie aus der Schatzkammer ihres Herrn Vaters, des Königs. Welches war noch einmal sein Land gewesen? Sie wusste noch, dass sie einen Vater und eine Mutter gehabt hatte, aber an ihre Namen konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Und da sie in einem Märchen geboren worden war, und da es Märchen eben nicht mehr gab, verblasste ihre Erinnerung eben von Tag zu Tag immer ein klein wenig mehr. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken, schließlich hatte sie jetzt andere Sorgen. Die Menschen um sie herum waren so riesig viele, es war alles so laut, aber vor allem hatte sie einen Riesenhunger.


Da sah sie einen jungen Mann am Straßenrand sitzen: „Habt Ihr Hunger, werter Herr?“ Der Obdachlose hielt ihr sein Pappschild unter die Nase: „Ich habe Hunger!“ stand in wackeligen Buchstaben darauf. „Ich auch!“ sagte die Prinzessin. „Willste mich verscheißern, Tussi, dann verzieh dich lieber ….“ Er sah sie genervt an. So was konnte er hier nicht brauchen, das verscheuchte die Biedermänner, die, um ihr eigenes Gewissen zu streicheln, gerne was abdrückten.


Aber diese Tussi dachte gar nicht daran, irgendwohin zu gehen … „Ich würde Euch gerne auf das Schloss meines Herrn Vaters einladen, bei seinem großartigen Festmählern bleiben immer genug Brosamen für die Hungernden.“ Der Bettler sah sie befremdet an. „Also, weeßte, Kleene, mit Brosamen komm mir nich, ich will kein Ökozeug und nix Veganet, sondern ne ordentliche Bratwurst mit viel scharfem Senf.“


Die Prinzessin hatte eine Idee. „Dort wohnt ein reicher Herr. Ich habe weder Dukaten noch Juwelen noch Geschmeide bei mir, um etwas zu essen zu kaufen.“ „Icke ooch nich,“ grinste der Obdachlose. „Juwelen sind grade aus.“ Doch die Prinzessin nahm seine Ironie nicht wahr. „Aber ich werde den Herrn dort fragen, ob er mir ein paar Juwelen abgibt, er hat ja doch genug.“ Sie ging auf einen Verkäufer zu, der gerade sein Schaufenster von außen kritisch begutachtete und sich gerade überlegte, auf der linken Seite noch einige besonders ausgefallene Perlen zu zeigen. “Wo se Recht hat, hat se Recht,“ kommentierte der Obdachlose, „ jenuch hat der wirklich….“


Sie sprach den Verkäufer an: „Mein werter Herr, ich benötige einige Ihrer Kleinodien, ich bin sicher, mein Vater, der König, wird Euch überreichlich entschädigen, er wird Euch seine Gunst schenken.“ Der Mann sah sie genervt an: „Verzieh dich, Bordsteinschwalbe, und quassel mich nicht an, sonst hol ich die Bullen schneller als du „Kleinodien“ sagen kannst...“


Das Prinzesschen schreckte zurück und stellte sich wieder zu dem Obdachlosen. „Er stammt aber bestimmt nicht aus einem vornehmen Geschlecht...“ Als der sie genauer ansah, bemerkte er Tränen in ihren Augen: „Du glaubst, was du da sagst...“ Sie sah ihn traurig an: „Ich habe nicht gewusst, dass es so unhöfliche Menschen gibt, ich habe doch nur gefragt.“ Ihr saß ein Kloß im Hals. „Pass emal uff, Kleene, nimm dir ditte ma nich so zu Herzen, der isset einfach nich wert. Und icke, der Wolle heeßt,sage dir, du kriejst jetze erstma was rin in die Futterluke, vergiss den Schwachmaten einfach. Wir beede jehn jetze zu Mutter Wittich, die hat immer n Schlach Suppe für unsereinen… Nu weene man nich mehr, et wird schon wieder werden ...“


Was Wolle sagte, wurde gemacht. Eins-Fix-Drei saßen sie bei Mutter Wittich und schlürften ihre Suppe. Diese etwas rustikale Frau war Gastronomin mit einem gutgehenden Restaurant, und sie bot das, was man gutbürgerliche Küche nennt. Am Vordereingang war sie „angesagt“, da hatte sie Kundschaft in feinen Klamotten, hintenrum war ein kleiner Raum im Anbau, wo arme Schlucker wie Wolle ankommen durften, denn bei ihr, die das Herz auf dem rechten Fleck hatte, blieb immer etwas übrig, und das wollte sie nicht wegschütten, sowas wie Refoodverwertung kam für sie nicht in Frage. Leute wie Wolle wussten, wenn sie nicht zu oft kamen und sich leise hinten reinschlichen, gab es eigentlich immer was. Aber das niedliche Prinzesschen hatte ihm leid getan, denn normalerweise kam er immer allein. „Ick hab se jrade uffjelesen,“ sagte zu seiner Gönnerin. „Ick globe, sie hält sich für ein Prinzesschen, und sie jehört nich uff de Straße.“ „Sie tut dir leid, und sie erinnert dich an jemanden.“ Mutter Wittich hatte nicht nur ein gutes Herz, sondern auch ein scharfes Auge. „Und du hast recht, sie ist auf ihre Weise unglaublich bezaubernd. Du fühlst dich auf der Straße wohl, mein lieber Wolle, du hast ein dickes Fell. Aber sie, für sie ist das nichts, sie ist so liebenswert….“ Und een dicket Fell hatse nu wirklich nich….“


Das Prinzesschen war sehr erleichtert, als die warme Suppe vor ihr stand. „Seid bedankt, gute Frau, Ihr steht sehr hoch in meiner Gunst und Ihr wärt es wert, die Küche meines königlichen Vaters zu führen.“ Mutter Wittich lachte. „Das ist sehr großzügig von dir. Aber weißt du denn schon, wo du heute Nacht schläfst?“ Das Prinzesschen dachte angestrengt nach: „Irgendwie komme ich nicht drauf, immer wenn ich versuche, darüber nachzudenken, ist es wie eine große Leere, die ich nicht durchdringen kann.“ Die Gastwirtin sah Wolle ernst an: „Das ist schlimm, deshalb bleibst du heute hier, wir finden schon was.“


Und genauso kam es: Prinzesschen schlief bei Mutter Wittich auf dem bequemen Sofa, und sie war es zufrieden. Und da sie immer wieder zwischen Märchen und Wirklichkeit hin und her schwankte, machte ihr Mutter Wittich den Vorschlag, sich „Principessa“ rufen zu lassen, weil es sich mehr wie ein Name anhörte. Mutter Wittich war einfach fürs Praktische. Und da das Mädchen ihr leid tat, wollte sie ihr irgendwie eine Arbeit geben, und so ließ sie sie am ersten Tag bei allem zusehen. Und es dauerte gar nicht lange, da fand die Gastwirtin Principessa in der Kinderecke sitzend, um sich herum ein ganzer Kranz von emsig lauschenden Kleinen, denn Principessa erzählte Märchen.


Mutter Wittich freute sich darüber, dass ihre Kinderecke mit der neuen Märchenstunde so gut ankam und sich zur Attraktion entwickelte, es kamen nach einigen Tagen immer mehr Eltern mit ihren Kindern zum Essen. Aber eigentlich noch mehr ging ihr die Verwandlung von Principessa nahe, sie wirkte ungemein glücklich, und je glücklicher sie wirkte, um so zufriedener wirkten die Kinder. „Es ist, als gibt sie ihr Glücklichsein weiter,“ meinte Mutter Wittich zu Wolle, der auch mal wieder reingeschaut hatte.


Und genauso kam es: Mutter Wittich mit ihrem Lokal „Zur Lindenwirtin“ wurde immer voller. Denn die Gäste kamen immer mehr wegen Principessa, die immer wieder Überraschendes erzählte, lachte und jedem offen und herzlich entgegenkam. Die Wirtin setzte bald zusätzliche Tische in die Gaststube, der Ansturm war kaum zu schaffen, die Vorbestellungen nahmen kaum vorstellbare Ausmaße an.


Als Wolle das nächste Mal wiederkam, fand er die kleine Hinterstube, die sonst für ihn da war, knallvoll besetzt. Dort saßen reguläre Gäste und er bekam einen Schreck. War der Erfolg der Principessa so durchschlagend, dass er nicht mehr erwünscht war? Aber bevor er sich richtig Sorgen machen konnte, winkte ihn Mutter Wittich schon nach oben.


„Was ist hier los?“ Wolle war verunsichert, vor allem, weil er in Mutter Wittichs Wohnzimmer stand. Das war ihm definitiv zu fein. Die Gastwirtin lachte: „Nu kriege man keinen Schrecken, ich will dich nicht zum braven Bürger machen, ich brauche nur deine Hilfe.“


Sie berichtete von der beeindruckenden Wirkung der bezaubernden Principessa und Wolle staunte. Mutter Wittich fuhr fort: „Sie erzählt so Schönes, und immer wieder Beeindruckendes. Es ist, als ob sie ihre Märchenwelt lebt, und sie fühlt sich dort so wohl, doch die Leute sind so dreist. Sie wird bedrängt, gefilmt, fotografiert, interviewt, es nimmt kein Ende. Das ist tolle Werbung, mein Laden brummt wie verrückt, aber sie versteht es nicht, dass die Leute sie nur ausnutzen, sie braucht Unterstützung und Hilfe.“


Wolle nickte: „Du weißt wohl nicht, dass ich in meinem früheren Leben Anwalt war. Ich habe hingeschmissen, weil ich es leid war, nur noch egoistischen Interessen zu dienen, denn das, wofür ich angetreten war, war das Recht. Aber das interessierte niemanden. Niemand wollte wissen, was die Wahrheit ist, es ging immer nur um big business… Das hat mich so frustriert, dass ich ausgestiegen bin.“ Mutter Wittich war verblüfft: „Du redest ja Hochdeutsch.“ „Hochdeutsch darfst du auf der Straße nicht reden, wenn du klarkommen willst.“ Und Mutter Wittich fragte leise: „Hast du gefunden, was du gesucht hast?“ Wolle nickte: “Irgendwie schon, die Leute auf der Straße sind oft ehrlicher, aber auch nicht immer ...“ Er überlegte: „Ich weiß nicht, in welcher Welt Principessa lebt, aber dass sie ehrlich und ungeheuer großzügig ist, das weiß ich sicher, sicherer, am sichersten, sicherlichst...“


Mutter Wittich lachte: „Keine Sorge, da bin ich ganz genauso überzeugt, und sie ist jemand, der unglaublich viel Freude bringt.“ Und jetzt war sie bitterernst: „Wir müssen sie schützen.“ Wolle nickte: „Ich werde dafür sorgen.“ Mutter Wittich sah ihn ernst an: „Du magst sie tatsächlich sehr….“


Von dem Tag an war Wolle ein anderer, er bezog ein kleines Kämmerchen bei Mutter Wittich. Principessa freute sich, als sie ihn wiedersah. Seine lockige Mähne fiel, er trug seinen dunklen Anzug, als wäre er jeden Tag bei Gericht. Als erste Maßnahme stellte er in Principessas Märchenecke eine Videokamera auf, untersagte das Filmen ihrer Auftritte. Und das war auch nötig, denn schon war ein Verlag an sie herangetreten, der ihr versuchen wollte einzureden, wie toll es für sie wäre, wenn ihre Märchen gedruckt würden, es solle alles kostenfrei sein, was im Klartext bedeutete, sie gäbe alles kostenfrei her.


Wolle stellte ihr dieses Projekt vor. Principessa hörte aufmerksam zu und meinte: „Du findest also, sie sind Betrüger?“ Er nickte und sie schwieg. Es dauerte eine Weile, dann verkündete sie ihren Beschluss: „Sie müssen an den Pranger.“ Wolle sah sie lange mit großen Augen an: „Weißt du eigentlich, wie recht du hast?“ „Aber der Pranger ist die übliche Strafe, Wolle, ein Betrüger wird solange mit faulen Eiern beworfen, bis er sich geläutert hat. Dann verzeihen wir ihm.“ „Und wenn er sich nicht läutern will?“ Principessa zuckte die Achseln: „Dann darf er nie wieder bei der königlichen Familie um Gnade bitten und der Kopf ist ab, denn die Wahrheit bleibt die Wahrheit und Recht bleibt Recht.“


Es waren zwar keine faulen Eier, die Wolle einsetzte, sondern ein gepfefferter Post im Internet, Zeitungen und Fernsehen zogen nach. Die Märchenerzählerin, die vor Raffgier geschützt werden muss, ließ Wolle so aktiv werden, dass er sich zeitweise nach der Straße sehnte, aber wenn er dann Principessa anschaute, die voller Freude verblüffende und immer wieder interessante Märchen und Geschichten erzählte, dann wusste er, dass sie nichts als seinen Schutz und den ihrer Gönnerin hatte. Ihre Märchen wurden zu Büchern, zu Filmen, sie erzählte im Fernsehen, aber immer noch am liebsten bei Mutter Wittich im Restaurant in der Kinderecke. Für sie und Wolle war angebaut worden, aber das war kein Problem, denn, dass ihr Erfolg sich auszahlte, dass sie ihre Märchenwelt ungestört „leben“ durfte, dafür sorgte inzwischen ein ganzes Team, das sie beschützte, aber auch in ihrem Namen und mit ihrem Geld, das sie Dank Wolles Hilfe verdiente, Stiftungen für arme Kinder einrichtete .


Oft saßen Mutter Wittich und Wolle vor dem Fernseher, wenn Principessa auf Sendung war. Und als sie mit den Worten „eigentlich sei sie selbst doch das lebende Märchen, als wäre sie im Märchen geboren“ abmoderiert wurde und Principessa den Moderator irritiert ansah und „selbstverständlich“ sagte, sahen sich Wolle und Mutter Wittich an und prusteten heraus.


Und wenn sie nicht gestorben sind, dann erzählt Principessa noch heute Märchen bei Mutter Wittich und Wolle hat sich inzwischen klar gemacht, dass er Principessa eigentlich so sehr schätzt , dass er ihr das auch endlich mal auf recht märchenhafte Weise sagen sollte.
 



 
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