Die Prophetin (Teil 2)

Die Kerze stand einsam und allein in der hintersten Ecke des Raumes, auf einem kleinen, etwas schiefen, runden Tisch. Sie war schwarz. Ihre Flamme flackerte leicht in einem nicht spürbaren Luftstrom. Seltsamerweise schien diese Flamme nicht immer genau auf den Docht zu passen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, die Musik verstummte schlagartig in meinen Ohren. Mit weichen Knien näherte ich mich der Kerze. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich nahe genug war, um den Spiegel zu erkennen, der hinter ihr stand. In seinem Glas tanzte die Flamme, unaufhaltsam genährt von dem schwarzen Wachs, das durch das Gewebe des Dochtes gesogen wurde. Und doch brannte nur das Abbild der Kerze, wobei das Wachs im Spiegel nicht flüssig wurde und auch nicht tropfte. Statt dessen war es, als befinde sich auf der echten Kerze eine Flamme, denn ihr Wachs war weich und lief an einer Seite bereits herunter. Und doch war die Flamme nur im Spiegel zu sehen.
Für einen winzigen Augenblick erschien in dem Spiegel nun das Gesicht der alten Gräfin, mit den rotgeränderten Augen, unter denen die Tränen die schwarze Schminke weggewaschen hatten. Ich wollte mich umdrehen, aber das Bildnis war verschwunden, und mein Blick wurde von der Flamme festgehalten, denn jetzt wurde ich gezwungen mitanzusehen, wie sie erlosch. Dichter, schwarzer Rauch wand sich empor und erfüllte den Spiegel, der plötzlich in der Mitte zerbrach.
Das nächste, was ich wieder bewußt hörte, war Nataschas Schrei. Sie brach in sich zusammen und schlang ihre Hände verkrampft um ihren Leib. Fjodor war zu schockiert um irgend etwas zu tun. Aljoscha und Michail dagegen griffen beherzt zu und trugen Natascha die Treppe hinauf, legten sie in einem der kleinen Zimmer auf das Bett. Sergeij und ich folgten ihnen, gingen vorbei an Fjodor, der immer noch erstarrt dastand und keinen Schritt tat. Als wir oben ankamen, war alles fast schon vorbei. Mit einer gradezu unnatürlichen Schnelligkeit schien sich das Kind aus dem Leib zu pressen, als merke es, dass der Leib, in dem es gelebt hatte, jetzt starb. Überall war Blut. Es war viel mehr Blut, als da hätte sein dürfen. Und Natascha: Natascha atmete nicht. Sie stöhnte nicht einmal. Ihre Augen, grau mit einem Hauch von grün, waren weit aufgerissen, und als Michail die Nabelschnur durchschnitt, waren sie bereits starr.
Der Säugling, den Aljoscha notdürftig in ein altes Laken eingewickelt hatte, blickte den jungen Schriftsteller mit großen, lebendigen Augen an und gab ein leises, gluckerndes Geräusch von sich. Ich konnte sehen, wie Aljoscha voller Liebe und Zärtlichkeit ansah, und ihn fest an sich drückte. Auf der Treppe hörten wir Fjodors Schritte. Wir standen tief erschüttert um das Bett herum, das voller Blut war und auf dem Nataschas Leichnam lag. Fjodor erschien in der Tür, und als er seine junge Frau tot auf dem Bett liegen sah, konnte man beinahe hören, wie ihm das Herz brach.
Er kniete neben dem Bett nieder, seine Finger streichelten ihren toten Körper und seine Lippen bedeckten ihr bleiches Gesicht mit Küssen. In seinem Gesicht stand Schmerz geschrieben. Keiner von uns wagte sich zu regen, auch der Säugling schrie nicht, er lag still und reglos in Aljoschas Armen. Als fjodor sich nach endlosen Minuten wieder erhob, stand flackernder, unbändiger Zorn in seinen Augen, hervorgerufen durch den Schmerz, den er nicht zu fassen vermochte.
"Wo ist der Bastard des Hundes, der meine Frau genommen hat?" fragte er gefährlich leise, wobei er jedes einzelne Wort betonte. "wo?" brüllte er dann, blickte sich um und näherte sich Aljoscha, ein wahnsinniges Grinsen im Gesicht.
"Du sollst ihn aufnehmen wie deinen Sohn, auf das du einen Teil von ihr bewahrst, den du vielleicht nie erkannt hast." Die alte Gräfin war in den Raum getreten. Ihr Gesicht war jetzt hellblau geschminkt, ihre Augen dick mit grün umzogen. Ihre schmalen Lippen stachen in einem blutroten Ton aus dem Gesicht. In den Augen der Weisen leuchtete fast erloschene Glut. "Ich soll ihn aufnehmen, diesen Bastard? Er hat sie getötet!" Fjodor ballte so fest die Fäuste, dass seine Knöchel unter der Haut Hervortraten. "Deinen nächsten sollst du lieben, wie du sie geliebt hast." "Das... das soll mein Nächster sein? Dieser Bastard eines bolschewistischen Hurensohnes? Niemals!" Fjodor ließ ein irres Lachen hören. Noch immer regte sich niemand von uns; nicht; als die Gräfin noch einmal zu einer Antwort ansetzte und auch nciht, als Fjodor sich auf sie stürzte und auf sie einschlug. Sie wehrte sich nicht, auch nicht, als Fjodor ihr ihr Seidentuch um den Hals schlang und sie erwürgte. Wir standen alle nur ein paar Schritt entfernt, und doch konnten wir nichts tun.
Erst als sich Fjodor dem Säugling zuwandte, durchbrach Aljoscha die Starre, die uns erfasst hielt. "Er ist tot!" sagte er leise. Erst jetzt schien Fjodor seine Tat bewußt zu werden. Er wandte sich ab und verschwand. Unten hörten wir eine Tür schlagen. Michail und Sergeij gingen ebenfalls. Aljoscha trat auf mich zu, gab mir die Hand, und verschwand mit dem Säugling auf dem Arm. Das letzte, was ich von ihm hörte, war das Kind, das schrie.
Alleine blieb ich im Zimmer zurück. Natascha lag tot auf dem Bett, die alte Gräfin lag, ebenso leblos vor der Tür. Aber ich konnte nicht gehen. Ich mußte noch etwas tun. Ich kniete mich neben die Prophetin und wickelte vorsichtig das Tuch von ihrem Hals. Dann nahm ich es, und wischte die Schminke von ihrem Gesicht. Als ich fertig war, sah ich vor mir eine junge Frau, die schon seit langer Zeit zu den Toten zählte.

Von uns bin nur ich geblieben. Ich habe die Pension übernommen, und nun bewirte ich meine Gäste. Frühstück, Mittag und Abendessen sind für mich zu einem Ritual geworden, wie es eines für die Weise war. Die anderen sind noch am selben Tage gegangen. Fjodor hat sich einen Tag später erhängt. Weder von Michail noch von Sergeij habe ich je wieder etwas gehört. Einzig von Aljoscha ist mir etwas geblieben: Sein erstes Buch, dass er mir geschickt hat, handsigniert.
 



 
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