Ich bin nicht häufig in der Kirche, vielleicht einmal im Jahr. Höchstens. Dann singe ich mit und murmele ein Vaterunser. Ich hoffe, dass mich keiner sieht und fühle mich unwohl. Zu Weihnachten fällt es nicht auf, weil die meisten Besucher nicht nur wegen der Verkündigung von Christi Geburt kommen. Trotzdem meide ich die ersten Reihen und stehe mit den Angehörigen gern weiter hinten. Wenn der Pfarrer in meine Richtung blickt, fühle ich mich ertappt, wie einer, der sich irgendwo eingeschlichen hat, wo er nicht hingehört. Und natürlich gehöre ich dort nicht hin. Es sei denn, es handelt sich um familiäre Angelegenheiten, die mich zwingen.
Die Hochzeit meiner Tochter Sophie zum Beispiel, die das standesamtliche Prozedere zu trocken fand und zur Bündnisbesiegelung der Ehe den Beistand nicht nur vom Staat, sondern von ganz oben wünschte – auch wenn sie selbst nicht übermäßig gläubig war. Jetzt aber, wo das kirchliche Event etwas pompöser zu sein schien, war sie gläubiger als sonst. Ich hatte nichts gegen einen Kirchenbesuch zu diesem Anlass. Ich habe grundsätzlich nicht viel gegen die Wünsche meiner Tochter einzuwenden. Sollte der Pfarrer mich komisch ansehen, würde ich den Blick erwidern. Ich gehöre hierher, heute schon, würde der sagen. Und wenn es sein muss, bin ich gläubig die zwei Stunden, aber danach kann ich für nichts garantieren.
Weitaus größere Sorgen bereitete mir die Rede, die ich halten musste. Lobende und unterhaltsame Worte über meine Tochter zu finden, würde mir nicht schwerfallen. Ihre schulischen Leistungen einflechten, kurz das Psychologie-Studium erwähnen, den Master-Abschluss, ihre musikalischen Talente am Klavier, ein paar lustige Ereignisse aus der Vergangenheit. In einer guten Rede sollte aber auch der Bräutigam erwähnt werden. Und da fing das Problem an. Was sollte ich über Marvin sagen, mit seinem abgebrochenen Philosophie-Studium, seiner Antriebsschwäche und dem Hang zu ausgiebigem Alkoholkonsum? Vielleicht seine Ausdauer bei Video-Spielen lobend erwähnen, oder seine jetzige Karriere bei einem Lieferdienst, die ins Stocken geraten sein könnte wegen unterschiedlicher Auffassungen von Pünktlichkeit. Mehr fiel mir zu dem Zukünftigen meiner Tochter nicht ein, abgesehen von der Aversion gegen Sport, die seiner Statur bereits anzusehen war. Immerhin hatte er das Abitur erringen können, ein kleiner Lichtblick für die Rede. Und in einem Urlaub hatte er einen Ferienjob als stellvertretender Strandkorbwächter und lernte bei der Ausübung seiner Tätigkeit meine Tochter kennen. Abends saßen sie am Strand und seine gewöhnungsbedürftige Stimme begleitete die gezupfte Gitarre zu Blowing in the wind. Zumindest der Titel passte, denn das Gequäke wehte bis zu unserem Apartment. Wenn er wenigstens mit D-Dur angefangen hätte, aber vielleicht ist das für einen Strandkorbwächter zu komplex. Ich zweifelte am Verstand meiner Tochter. Man konnte der Leichtigkeit des Seins ja nachgehen, aber gleich heiraten?
„Wir sind seelenverwandt“, behauptete Sophie.
„So viele Computerspiele machst du doch gar nicht“, erwiderte ich.
„Magst du ihn nicht?“, fragte sie. Ihr Blick ließ nicht viele Antworten zu.
„Doch, natürlich!“, versicherte ich. Sie drehte sich um und ich formulierte in Gedanken Textbausteine der Rede.
„Du hast es wirklich geschafft, das Herz meiner Tochter zu gewinnen. Das ist eine beeindruckende Leistung, vor der ich meinen Hut ziehen würde, wenn ich denn einen hätte. Es muss viel Charme und Ausdauer gekostet haben, vor allem letzteres. Das hast du mit deiner Authentizität vollbracht. Liebe muss nicht perfekt sein. Es hat etwas damit zu tun, füreinander da zu sein, sich zu ergänzen. Und da meine Tochter eine kluge und ehrgeizige Person ist, wird sie dir sicher helfen, den richtigen Weg zu finden und dort auch zu bleiben.“ Nicht grandios, aber ein Anfang.
Marvins Eltern lernten wir kurz vor der Hochzeit kennen, einfache Leute, allerdings hatten meine Frau und ich nicht den Wunsch, diese Treffen zu intensivieren. Sie redeten ohne Unterlass und fielen sich gegenseitig ins Wort; das Erstaunlichste war, dass sie dabei noch atmen konnten. Als das Essen bei unserem gemeinsamen Restaurantbesuch serviert wurde, brüllte Marvins Vater: „Vorspeise hab` ich nicht bestellt!“
Offenbar war er mit der Menge der Speisen unzufrieden. Ein Kellner kam an unseren Tisch, ich habe mich schon lange nicht mehr so geschämt. Aber er brachte einen kleinen Zusatzteller ohne die Miene zu verziehen. Ich habe den Mann dafür sehr bewundert.
„Geht doch!“, sagte Marvins Vater.
Die Gespräche nach diesem Eklat gestalteten sich schleppend. Von diesen Personen war kein Vortrag zu erwarten. Zumindest hoffte ich das. Schließlich fiel mir eine Sequenz für meine Rede ein. „Meine Tochter ist viel klüger als ich. Das ist der Beweis, dass in dir viel mehr steckt, als man auf den ersten Blick sieht.“
Das war die positive Wendung, die der Text noch brauchte. Ich war zufrieden mit mir.
Am Tag der Hochzeit hatte ich die Notizen für meine Rede in der Innentasche des Jacketts. Nur für den Notfall, selbstverständlich halte ich wichtige Reden frei. Und das würde eine der wichtigsten meines Lebens werden. Sophie sah hinreißend aus in ihrem weißen figurbetonten Kleid, aber auch Marvin, der am Altar wartete, hatte das Beste aus sich herausgeholt. Schwarzer Anzug, nicht zu eng geschnitten, weißes Hemd und Krawatte, helle Sneakers, na gut. Die Kirche war voll, der Pfarrer hielt eine Begrüßungsrede vor dem kurzen Gebet, bei der er mich ansah, aber das Gefühl, am falschen Ort zu sein, stellte sich bei mir nicht ein. Ich hielt seinem Blick stand.
Beim Auszug aus der Kirche erwartete uns ein strahlend blauer Himmel, vieles passte an diesem Tag, die etwas zu laute Orgel war schnell vergessen, der Weg zur Feier nicht weit. Marvins Eltern gingen vor uns, redeten unentwegt, unterbrachen sich, ihre Worte purzelten übereinander; ein verbaler Dauersturm, der jede Minute stärker zu werden drohte, sodass meine Frau und ich unsere Schritte verlangsamten. Mir war ja klar, dass wir die nächsten Stunden mit diesen Menschen an einem Tisch sitzen würden. Und essen. Aber es war doch viel schlimmer: Man würde - sollte es nicht zu einer Trennung der Frischvermählten kommen – ein Leben lang Umgang pflegen müssen, natürlich reduziert auf ein Minimum, aber nicht komplett vermeidbar.
Marvin, der irgendwann zu einem Musikinstrument greifen würde. Sein Vater, der im Restaurant pöbelnd Nachschlag verlangen würde und die Mutter mit ihren Endlosschleifen über Belanglosigkeiten, die in mir eine entsetzliche Müdigkeit auslösten. Diese Aussicht schockierte mich zutiefst. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Ehen häufig nicht länger als fünf Jahre halten, aber diesem Gedankengang wollte ich nicht weiter nachgehen, nicht an diesem Tag. Außerdem liebe ich meine Tochter und wenn sie Menschen wie Marvin und Sippschaft zu ihrem Glücklichsein benötigt, bitte schön. Ich bin da nicht so streng wie meine Frau, die lange Zeit mit der Liaison unserer Tochter haderte, nun aber gewohnt diszipliniert Haltung bewahrte.
Eine Weile verfolgte ich das muntere Treiben, beobachtete Sophie mit ihren Freundinnen, Marvin inmitten einer Truppe junger Männer; jede Menge Freunde schien er ja zu haben. Innerlich ging ich meine Rede durch, tastete nach meinen Notizzetteln, die ich nicht brauchen würde, mir aber eine gewisse Sicherheit gaben. Meine Frau drückte meinen Arm, ein Hinweis, dass es an der Zeit war. Ich glättete mein Jackett und richtete die Krawatte, als Marvins Vater Manfred mit einem Messer gegen sein Glas tippte. Die Gespräche ebbten ab und er erhob sich. Meine Frau sah mich entgeistert an, ich machte eine beschwichtigende Geste, in der Hoffnung, dass er meine Rede ankündigen würde. Was er nicht tat. Stattdessen zog er einen Wust Din-A4-Blätter hervor und hielt sie sich vors Gesicht, als wollte er seinen hochroten Kopf dahinter verstecken. Seine Frau klatschte, er wies sie zurecht. Mir wurde schwindelig. Ich sah die jungen Leute erwartungsvoll, die alten aufmerksam, das Gesicht meiner Frau versteinert. Manfred fing zu reden an, ich hörte verschwommene Worte, Gelächter, manchmal Applaus. Er verhaspelte sich, stotterte, griff nach einem weiteren Blatt, von dem er ablas oder es zumindest versuchte, die einzelnen Worte erreichten mich nicht. Ich sah meine Tochter, die an den Lippen von Manfred hing, das Glas Wasser vor mir, dass ich umklammerte, als könnte es mich vor dem Untergang retten. Sophie saß gegenüber. Hand in Hand mit Marvin, umringt von ihren Freunden, die die Rede verfolgten, tuschelten, lachten und dann wieder aufmerksam lauschten. Ich sah Manfred mit seinem geröteten Gesicht. Seine Frau, deren Namen ich vergessen hatte. Ich sah Lichter, so viele, die Kronleuchter an der Decke, die Wandleuchten, Sophie und meine Frau, und einen Pfarrer, der mich anstarrte. Ich flüsterte dem Pfarrer zu: „Ich gehöre hierher, aber was machen Sie hier?“ Dann raste der Parkettboden auf mich zu und es wurde dunkel.
Als Kind hatte ich einen immer wiederkehrenden Traum. Meine Eltern hatten mich losgeschickt, um Brötchen zu holen. Ich lief los, es war heller Tag, die Sonne schien und die Ahornbäume hatten ihre Blätter abgeworfen, als wollten sie den harten Boden mit einem weichen Teppich belegen. Ich ging noch nicht zur Schule, war fünf oder sechs, der Bäcker war nicht weit. Einen halben Kilometer vielleicht und dann kurz um die Ecke. Ich kannte den Weg, lief ihn fast täglich, meist in Begleitung meiner Mutter. Ich hatte ein paar Münzen in die Tasche gesteckt bekommen, fünf Brötchen sollte ich holen, denn es war Sonntag. Brötchen gab es bei uns nur sonntags. Der Weg kam mir länger vor, als gedacht. Ich schien mich dem Ziel nicht zu nähern, sondern es entfernte sich von mir. Wolken zogen auf. Der Himmel verdunkelte sich und es blitzte und donnerte. Mein Schritt wurde unsicher, da war nichts Leichtes mehr. Es fing zu regnen an. Ich ging schneller, um nicht völlig durchnässt zu werden. Und dann stolperte ich über eine unebene Gehwegplatte, die von den Wurzeln eines Baumes hochgedrückt worden war. Ich fiel hin. Ich fiel so unvermittelt, dass ich meine Arme nicht nach vorn strecken konnte, um den Sturz abzufedern. Aber ich fiel nicht auf den Boden, sondern hindurch. Es gab keinen Halt, ich fiel ins Nichts, fiel und fiel, ich hörte nicht auf zu fallen. Es raubte mir den Atem. Ich wollte um Hilfe schreien, brachte aber keinen Ton heraus und fiel immer weiter. Gleich würde ich aufschlagen, hatte panische Angst vor dem Aufprall. Im Traum schlug ich nie auf, ich wachte immer vorher schweißgebadet auf.
Diesmal nicht.
Die Hochzeit meiner Tochter Sophie zum Beispiel, die das standesamtliche Prozedere zu trocken fand und zur Bündnisbesiegelung der Ehe den Beistand nicht nur vom Staat, sondern von ganz oben wünschte – auch wenn sie selbst nicht übermäßig gläubig war. Jetzt aber, wo das kirchliche Event etwas pompöser zu sein schien, war sie gläubiger als sonst. Ich hatte nichts gegen einen Kirchenbesuch zu diesem Anlass. Ich habe grundsätzlich nicht viel gegen die Wünsche meiner Tochter einzuwenden. Sollte der Pfarrer mich komisch ansehen, würde ich den Blick erwidern. Ich gehöre hierher, heute schon, würde der sagen. Und wenn es sein muss, bin ich gläubig die zwei Stunden, aber danach kann ich für nichts garantieren.
Weitaus größere Sorgen bereitete mir die Rede, die ich halten musste. Lobende und unterhaltsame Worte über meine Tochter zu finden, würde mir nicht schwerfallen. Ihre schulischen Leistungen einflechten, kurz das Psychologie-Studium erwähnen, den Master-Abschluss, ihre musikalischen Talente am Klavier, ein paar lustige Ereignisse aus der Vergangenheit. In einer guten Rede sollte aber auch der Bräutigam erwähnt werden. Und da fing das Problem an. Was sollte ich über Marvin sagen, mit seinem abgebrochenen Philosophie-Studium, seiner Antriebsschwäche und dem Hang zu ausgiebigem Alkoholkonsum? Vielleicht seine Ausdauer bei Video-Spielen lobend erwähnen, oder seine jetzige Karriere bei einem Lieferdienst, die ins Stocken geraten sein könnte wegen unterschiedlicher Auffassungen von Pünktlichkeit. Mehr fiel mir zu dem Zukünftigen meiner Tochter nicht ein, abgesehen von der Aversion gegen Sport, die seiner Statur bereits anzusehen war. Immerhin hatte er das Abitur erringen können, ein kleiner Lichtblick für die Rede. Und in einem Urlaub hatte er einen Ferienjob als stellvertretender Strandkorbwächter und lernte bei der Ausübung seiner Tätigkeit meine Tochter kennen. Abends saßen sie am Strand und seine gewöhnungsbedürftige Stimme begleitete die gezupfte Gitarre zu Blowing in the wind. Zumindest der Titel passte, denn das Gequäke wehte bis zu unserem Apartment. Wenn er wenigstens mit D-Dur angefangen hätte, aber vielleicht ist das für einen Strandkorbwächter zu komplex. Ich zweifelte am Verstand meiner Tochter. Man konnte der Leichtigkeit des Seins ja nachgehen, aber gleich heiraten?
„Wir sind seelenverwandt“, behauptete Sophie.
„So viele Computerspiele machst du doch gar nicht“, erwiderte ich.
„Magst du ihn nicht?“, fragte sie. Ihr Blick ließ nicht viele Antworten zu.
„Doch, natürlich!“, versicherte ich. Sie drehte sich um und ich formulierte in Gedanken Textbausteine der Rede.
„Du hast es wirklich geschafft, das Herz meiner Tochter zu gewinnen. Das ist eine beeindruckende Leistung, vor der ich meinen Hut ziehen würde, wenn ich denn einen hätte. Es muss viel Charme und Ausdauer gekostet haben, vor allem letzteres. Das hast du mit deiner Authentizität vollbracht. Liebe muss nicht perfekt sein. Es hat etwas damit zu tun, füreinander da zu sein, sich zu ergänzen. Und da meine Tochter eine kluge und ehrgeizige Person ist, wird sie dir sicher helfen, den richtigen Weg zu finden und dort auch zu bleiben.“ Nicht grandios, aber ein Anfang.
Marvins Eltern lernten wir kurz vor der Hochzeit kennen, einfache Leute, allerdings hatten meine Frau und ich nicht den Wunsch, diese Treffen zu intensivieren. Sie redeten ohne Unterlass und fielen sich gegenseitig ins Wort; das Erstaunlichste war, dass sie dabei noch atmen konnten. Als das Essen bei unserem gemeinsamen Restaurantbesuch serviert wurde, brüllte Marvins Vater: „Vorspeise hab` ich nicht bestellt!“
Offenbar war er mit der Menge der Speisen unzufrieden. Ein Kellner kam an unseren Tisch, ich habe mich schon lange nicht mehr so geschämt. Aber er brachte einen kleinen Zusatzteller ohne die Miene zu verziehen. Ich habe den Mann dafür sehr bewundert.
„Geht doch!“, sagte Marvins Vater.
Die Gespräche nach diesem Eklat gestalteten sich schleppend. Von diesen Personen war kein Vortrag zu erwarten. Zumindest hoffte ich das. Schließlich fiel mir eine Sequenz für meine Rede ein. „Meine Tochter ist viel klüger als ich. Das ist der Beweis, dass in dir viel mehr steckt, als man auf den ersten Blick sieht.“
Das war die positive Wendung, die der Text noch brauchte. Ich war zufrieden mit mir.
Am Tag der Hochzeit hatte ich die Notizen für meine Rede in der Innentasche des Jacketts. Nur für den Notfall, selbstverständlich halte ich wichtige Reden frei. Und das würde eine der wichtigsten meines Lebens werden. Sophie sah hinreißend aus in ihrem weißen figurbetonten Kleid, aber auch Marvin, der am Altar wartete, hatte das Beste aus sich herausgeholt. Schwarzer Anzug, nicht zu eng geschnitten, weißes Hemd und Krawatte, helle Sneakers, na gut. Die Kirche war voll, der Pfarrer hielt eine Begrüßungsrede vor dem kurzen Gebet, bei der er mich ansah, aber das Gefühl, am falschen Ort zu sein, stellte sich bei mir nicht ein. Ich hielt seinem Blick stand.
Beim Auszug aus der Kirche erwartete uns ein strahlend blauer Himmel, vieles passte an diesem Tag, die etwas zu laute Orgel war schnell vergessen, der Weg zur Feier nicht weit. Marvins Eltern gingen vor uns, redeten unentwegt, unterbrachen sich, ihre Worte purzelten übereinander; ein verbaler Dauersturm, der jede Minute stärker zu werden drohte, sodass meine Frau und ich unsere Schritte verlangsamten. Mir war ja klar, dass wir die nächsten Stunden mit diesen Menschen an einem Tisch sitzen würden. Und essen. Aber es war doch viel schlimmer: Man würde - sollte es nicht zu einer Trennung der Frischvermählten kommen – ein Leben lang Umgang pflegen müssen, natürlich reduziert auf ein Minimum, aber nicht komplett vermeidbar.
Marvin, der irgendwann zu einem Musikinstrument greifen würde. Sein Vater, der im Restaurant pöbelnd Nachschlag verlangen würde und die Mutter mit ihren Endlosschleifen über Belanglosigkeiten, die in mir eine entsetzliche Müdigkeit auslösten. Diese Aussicht schockierte mich zutiefst. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Ehen häufig nicht länger als fünf Jahre halten, aber diesem Gedankengang wollte ich nicht weiter nachgehen, nicht an diesem Tag. Außerdem liebe ich meine Tochter und wenn sie Menschen wie Marvin und Sippschaft zu ihrem Glücklichsein benötigt, bitte schön. Ich bin da nicht so streng wie meine Frau, die lange Zeit mit der Liaison unserer Tochter haderte, nun aber gewohnt diszipliniert Haltung bewahrte.
Eine Weile verfolgte ich das muntere Treiben, beobachtete Sophie mit ihren Freundinnen, Marvin inmitten einer Truppe junger Männer; jede Menge Freunde schien er ja zu haben. Innerlich ging ich meine Rede durch, tastete nach meinen Notizzetteln, die ich nicht brauchen würde, mir aber eine gewisse Sicherheit gaben. Meine Frau drückte meinen Arm, ein Hinweis, dass es an der Zeit war. Ich glättete mein Jackett und richtete die Krawatte, als Marvins Vater Manfred mit einem Messer gegen sein Glas tippte. Die Gespräche ebbten ab und er erhob sich. Meine Frau sah mich entgeistert an, ich machte eine beschwichtigende Geste, in der Hoffnung, dass er meine Rede ankündigen würde. Was er nicht tat. Stattdessen zog er einen Wust Din-A4-Blätter hervor und hielt sie sich vors Gesicht, als wollte er seinen hochroten Kopf dahinter verstecken. Seine Frau klatschte, er wies sie zurecht. Mir wurde schwindelig. Ich sah die jungen Leute erwartungsvoll, die alten aufmerksam, das Gesicht meiner Frau versteinert. Manfred fing zu reden an, ich hörte verschwommene Worte, Gelächter, manchmal Applaus. Er verhaspelte sich, stotterte, griff nach einem weiteren Blatt, von dem er ablas oder es zumindest versuchte, die einzelnen Worte erreichten mich nicht. Ich sah meine Tochter, die an den Lippen von Manfred hing, das Glas Wasser vor mir, dass ich umklammerte, als könnte es mich vor dem Untergang retten. Sophie saß gegenüber. Hand in Hand mit Marvin, umringt von ihren Freunden, die die Rede verfolgten, tuschelten, lachten und dann wieder aufmerksam lauschten. Ich sah Manfred mit seinem geröteten Gesicht. Seine Frau, deren Namen ich vergessen hatte. Ich sah Lichter, so viele, die Kronleuchter an der Decke, die Wandleuchten, Sophie und meine Frau, und einen Pfarrer, der mich anstarrte. Ich flüsterte dem Pfarrer zu: „Ich gehöre hierher, aber was machen Sie hier?“ Dann raste der Parkettboden auf mich zu und es wurde dunkel.
Als Kind hatte ich einen immer wiederkehrenden Traum. Meine Eltern hatten mich losgeschickt, um Brötchen zu holen. Ich lief los, es war heller Tag, die Sonne schien und die Ahornbäume hatten ihre Blätter abgeworfen, als wollten sie den harten Boden mit einem weichen Teppich belegen. Ich ging noch nicht zur Schule, war fünf oder sechs, der Bäcker war nicht weit. Einen halben Kilometer vielleicht und dann kurz um die Ecke. Ich kannte den Weg, lief ihn fast täglich, meist in Begleitung meiner Mutter. Ich hatte ein paar Münzen in die Tasche gesteckt bekommen, fünf Brötchen sollte ich holen, denn es war Sonntag. Brötchen gab es bei uns nur sonntags. Der Weg kam mir länger vor, als gedacht. Ich schien mich dem Ziel nicht zu nähern, sondern es entfernte sich von mir. Wolken zogen auf. Der Himmel verdunkelte sich und es blitzte und donnerte. Mein Schritt wurde unsicher, da war nichts Leichtes mehr. Es fing zu regnen an. Ich ging schneller, um nicht völlig durchnässt zu werden. Und dann stolperte ich über eine unebene Gehwegplatte, die von den Wurzeln eines Baumes hochgedrückt worden war. Ich fiel hin. Ich fiel so unvermittelt, dass ich meine Arme nicht nach vorn strecken konnte, um den Sturz abzufedern. Aber ich fiel nicht auf den Boden, sondern hindurch. Es gab keinen Halt, ich fiel ins Nichts, fiel und fiel, ich hörte nicht auf zu fallen. Es raubte mir den Atem. Ich wollte um Hilfe schreien, brachte aber keinen Ton heraus und fiel immer weiter. Gleich würde ich aufschlagen, hatte panische Angst vor dem Aufprall. Im Traum schlug ich nie auf, ich wachte immer vorher schweißgebadet auf.
Diesmal nicht.
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