Die Reisen des Herrn Grafen

Bo-ehd

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Wenn im beschaulichen Coburg die Geschäfte und Kaufhäuser schließen und die Lichter in den Verkaufsräumen ausgehen, strömt ein Heer von Verkäuferinnen auf die Bürgersteige und verteilt sich in alle Himmelsrichtungen. Manche der zumeist jungen Frauen gehen wie immer zusammen mit Kolleginnen zur Bushaltestelle oder zum Bahnhof, andere stürmen auf die Parkplätze zu ihren Fahrzeugen, andere wiederum treffen sich und treten gemeinsam den Heimweg zu Fuß an.

Sie alle sind unterwegs zu ihren Häusern, Wohnungen und Familien in der Stadt oder den benachbarten Gemeinden, so wie Lucy und Cora. Sie sind auf dem Weg zum Bus nach Niederfüllbach, wo sie gemeinsam ihre Jugend verbracht haben und noch heute wohnen. Ihre enge Freundschaft erklärt sich fast von selbst: Als Cora neunzehn war, war sie zweimal in der Woche Lucys Babysitter, erzählte ihr vor dem Einschlafen Märchen und las aus 'Pippi Langstrumpf' vor. Heute ist Cora eine attraktive Mittdreißigerin ohne Anhang, und die bildhübsche Lucy konnte gerade ihren zwanzigsten Geburtstag feiern.

Mitten im Getümmel vor dem Haupteingang treffen sich plötzlich ihre Blicke.



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„Hey Cora, dass man dich mal wieder sieht! Du machst dich ganz schön rar in letzter Zeit. Du warst doch hoffentlich nicht krank?“

„Ganz und gar nicht! Ich war auf Lehrgang. Fortbildung, du weißt schon. Aber du hast Recht: Seit ich eine Etage über dir in der Damenoberbekleidung arbeite, komme ich mir ein bisschen verlassen vor. Man sieht sich wirklich kaum noch.“

„Na, Gott sei Dank, dass alles gut ist. Wir haben dich alle schon irgendwie vermisst.“

„Ja, ich habe euch auch vermisst, dich und all die anderen an der Arbeit. Wie geht es dir denn? Und was macht dein neuer Freund, ich meine den Herrn Graf von …, wie hieß er doch gleich noch?, … von Fleckenstein?“

„Ach, d e r!“

„Oje, was ist denn los, Lucy? Erzähl schon!“

„Sei doch nicht immer so neugierig.“

„Ich will doch nur wissen, wie sich dein fürnehmer Freund so macht. Sag schon, ist es was Festes? Hat er dich wenigstens mal zum Einkaufen ausgeführt, der Herr Millionär?“

„Schön wär's. Nee, hat er nicht.“

„Das Kleid, das du anhast, sieht aber nicht danach aus, als ob du es dir selber gekauft hättest.“

„Hahaa, das ist von C&A.“

„Seit wann kaufst du bei ...“

„Na, ja, ER hat es mir gekauft…! Wir haben es im Schaufenster gesehen, und als er bemerkt hat, dass ich ein wenig länger darauf geschielt habe, ist er hineingegangen und hat es gekauft. Es hat gerade mal 89 Euro gekostet.“

„Na, besser als nichts. Und, sag jetzt: Ist es was Festes? Ich schätze, du wirst unser verschlafenes Dörfchen bald vergessen und uns dazu. Sei froh, dass du rauskommst aus dem Nest.“

„Na, soweit ist es noch lange nicht, Cora. Dieser Herr Graf trägt mir nämlich zu dick auf.“

„Oh? Wie meinst du das, Lucy?“

„Ach, der erzählt halt echt viiiel wenn der Tag lang ist. Gleich nach dem dritten Treffen, oder so, fing er an, die „sozialen Unterschiede“ würden ihm nichts ausmachen. Ich sei bildhübsch und hätte einen guten Charakter. Das sei ihm viel wichtiger. So-zia-le Un-ter-schie-de!!! Stell dir das mal vor, Cora! Der spinnt doch. Und dann sagte er noch, er könne mir ein Leben im größten Luxus bieten.“

„Aber er hat doch so viel Geld, oder etwa nicht?“

„Du glaubst dem das auch noch? Wie naiv bist du denn bitte, Cora? Das mit dem Geld, das sagen sie doch alle!“

„Meinst du wirklich? Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Und was hat er noch so von sich gegeben?“

„Als er mich gesehen hätte, sei es Liebe auf den ersten Blick gewesen.“

„Oh Gott, wie romantisch. Ich finde das herrlich, wenn ein Mann das zugibt.“

„Süße, wach endlich auf! Der Herr Graf ist ein alter Schleimer. Ich möchte nicht wissen, wie vielen Mädchen er das schon gesagt hat.“

„Glaubst du wirklich?“

„Na freilich! Der will doch nur das Eine – wie alle Männer. Und ich bin nicht so bescheuert, darauf hereinzufallen.“

„Ach schade. Mir läuft so jemand nie über den Weg.“

„Letzte Woche fing er so an: Wenn wir heiraten, würden wir in eine wunderschöne Stadt ziehen. Ich bräuchte nie mehr zu arbeiten, und dann würden wir erst einmal eine Weltreise machen und uns die schönsten Flecken auf der Erde anschauen. Wir würden in Indien alte Paläste besuchen und auf Elefanten reiten, würden in England und Japan wundervolle Gärten bestaunen, in Frankreich und Italien Kirchen und Museen besuchen und auf Hausbooten mitten in Amsterdam wohnen.“

„Ach, Lucy, das ist so toll. Wie ich mich für dich freue! Und was hast du ihm darauf geantwortet?“

„Willst du es echt wissen? Ich habe gesagt: 'Ach Gero, ich glaub´ ich geh jetzt lieber nach Hause.'“

„Bist du wahnsinnig? Du hast ihn stehengelassen?“

„Naja, wir haben uns erst noch ein bisschen weiter unterhalten. Und dann schlug er mir vor, in Island mitten im Winter in heißen Quellen zu baden. Tsssss. Aber als er mir dann auch noch offenbart hat, dass, wenn wir heiraten, er mich in eine Stadt entführt, wo das Wasser gar keine Ufer hat und direkt bis an die Hausmauern reicht, wo die mit Blumen geschmückten Balkone der Häuser sich über den Wellen befinden, wo kleine Boote mit Liebespärchen darin vorbeifahren und im Sommer abends alles wunderbar beleuchtet ist, da habe ich ihm echt den Laufpass gegeben!“

„Du hast was?“

„Na, Cora, der erzählt stundenlang, was er mir alles zeigen will und wie wohlhabend er sei und blablabla, der Herr Graf von Irgendwas, und dann will er mich auf unserer Hochzeitsreise ausgerechnet nach BAMBÄRCH entführen??? Was glaubt der denn, wen er vor sich hat?“



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Anmerkung für Nicht-Oberfranken: Bamberg wird häufig Klein-Venedig genannt wegen des Regnitzkanals, der links und rechts von Häusern gesäumt wird. Hier fahren Boote mit Pärchen bei Musik und Lampionbeleuchtung.
 



 
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