Die Reparatur

2,00 Stern(e) 1 Stimme

Anonym

Gast
Nach einer fehl geschlagenen Wurzelbehandlung drohte Susanne eine Wurzelspitzenresektion. Zwei Wochen lang stellte sie sich mental darauf ein, sammelte Informationen von "Ist nicht so schlimm" bis "Einfach nur furchtbar" und ergab sich ihrem Schicksal. Wenn Susanne aber etwas vorhatte, dann machte sie es gründlich. Denn zwei Tage vor dem geplanten Eingriff bekam sie plötzlich Schmerzen im linken Fuß und konnte nur noch humpeln. Wie passend. Unten und dann bald auch oben kaputt.

Sie begab sich zum Chirurgen ihres Vertrauens, der ihre Kinder zusammengeflickt und ihnen diverse Warzen entfernt hatte. Sie kannte ihn seit fünfzehn Jahren. Er (er)kannte sie nicht. Er erinnerte sich nie an sie, wenn sie dort auftauchte. Unglaublich. Dafür grüßten die Arzthelferin und Susanne sich wie uralte Bekannte. Kein Wunder, sahen sie sich doch täglich zu Kindergartenzeiten. Für Susanne blieb diese Frau für immer im Gedächtnis, weil sie die Trennung von ihrem Mann mit den legendären Worten "Eines Morgens wachte ich auf und dachte, dieses Gesicht willst du aber auch nicht bis an dein Lebensende neben dir auf dem Kopfkissen sehen" verkündete.

Mit Genugtuung stellte Susanne fest, dass der einstmals schönste Arzt der Umgebung auch älter geworden war und es sich irgendwann rächt, immer auf die Sonnenbank zu gehen. Eine Rolle als alternder Winnetou wäre ihm sicher gewesen. Er schaute Susannes Fuß an und meinte: "Den röntgen wir mal. Hoffentlich haben Sie keinen Fersensporn!" (Man gönnt sich ja sonst nichts.)

Die Arzthelferin waltete ihres Amtes und sie fragte Susanne nicht, ob sie eventuell schwanger sei. Das bestärkte Susannes Vermutung, dass sie endlich so alt aussieht, wie sie wirklich war. Oder sogar noch älter. Drei Monate zuvor war sie bei ihrer Zahnärztin noch gefragt worden, ob Schwangerschaft besteht. Nun nicht mehr. Resigniert ob dieser Tatsache erschien Susanne wieder bei Winnetou, der ihr sagte, dass sie keinen Fersensporn, aber eine durch einen Fehltritt ausgelöste Entzündung habe. (Fehltritt? Ich bin nicht schwanger, dachte Susanne.) Nun sollte sie ein paar Tabletten nehmen und Einbalsamieren und Bandagieren des Fußes könnte auch nicht schaden. "Kaufen Sie sich ein Gel, ich kann es Ihnen nicht mehr verschreiben", ordnete er an. "Ich werde älter", murmelte Susanne zum Abschied. Er widersprach nicht.

Susannes Ehemann, Haus- und Hofsanitäter in Personalunion, legte Hand an und verpasste ihr einen wunderschönen Kornährenverband um den linken Fuß. "Wenn du morgen beim Kieferchirurgen erscheinst, wird er sagen, dass er dafür nicht zuständig und du beim falschen Arzt bist", feixte er.

Am nächsten Tag verließ Susanne mittags das Haus, natürlich nicht ohne vorher alles aufgeräumt, gekocht und noch gegessen zu haben. Henkersmahlzeit: Arabisches Reiterfleisch. Sie hatte auch noch einen Riesenkanne Bananenmilch zubereitet, die sie sich später einflößen wollte, denn mit Kauen war es ja dann vorbei. Susanne hatte sich sorgfältig geschminkt und ihre Haare gestylt. Wenn schon untergehen, dann wenigstens mit Schönheit.

Der Arzt begrüßte Susanne fröhlich. "Wie geht es Ihnen? Alles fit? Dann gebe ich Ihnen schon mal zwei Spritzen, das ist das Schlimmste für Sie. Danach merken Sie nichts mehr," sagte er und stach ihr zielsicher in den Mund. (Wieso ist die untere Zahnreihe dieses Fachmannes eigentlich schief?) "In zwanzig Minuten komme ich wieder und dann fangen wir an!"

Susanne blieb mutterseelenallein mit einer laut tickenden Uhr und einer Zeitung zurück, in der sie las, dass die allein lebende Erbin von L'Oreal ihren viel jüngeren Freund aushält. Recht hat sie. Das würde Susanne auch so machen. Mit sechzig Jahren einen vierzig Jahre jüngeren Lover. Sie spürte, wie ihr durch die Wirkung der Spritzen etwas schummrig wurde. Am liebsten würde sie jetzt schlafen und ….Der Arzt unterbrach ihre Gedankenkette. "Spüren Sie noch etwas? Nein? Gut. Ich werde jetzt etwas bei Ihnen machen, aber Sie werden nichts merken." (Das hatte noch kein Mann zu Susanne gesagt.). Die Helferin setzte sich eine Schutzbrille auf. Susanne schloss die Augen und beamte sich an einen sonnenüberfluteten Strand.

Sie spürte nichts, aber sie hörte alles. Fürchterliche Geräusche, die überall in ihrem Kopf waren. Aber sie merkte auch, dass der Arzt diesen Eingriff schon hundert tausendmal gemacht hatte. So routiniert ging er vor. Und schnell.(Was bringt jemanden dazu, wildfremden Menschen im Mund herumzufuhrwerken? Aber einer muss es ja schließlich machen.) Plötzlich befahl er : "Schließen Sie den Mund. Zähne aufeinander!" Wie ging das? Die Betäubung wirkte sehr gut und sie wusste nicht mehr, wie sie den Mund schließen sollte. Also klappte er ihn ihr kurzerhand zu!

Eine Viertelstunde später war alles vorbei. "Die Helferin wird eine provisorische Füllung machen. Ich verschreibe Ihnen ein Antibiotikum und ein Schmerzmittel. Brauchen Sie eine Krankschreibung?" Was sollte sie darauf antworten? Schließlich war sie Privatier. Und vor allem wie, wenn ihr der Mund aufgesperrt wurde. So schüttelte sie nur den Kopf. "Sie braucht keine", übersetzte die Arzthelferin. Der Arzt verabschiedete sich mit den Worten "Schönen Nachmittag noch!" (Danke. Dazu hatte er wesentlich beigetragen.)

"Wir machen noch eine Röntgenaufnahme und wenn diese okay ist, können Sie gehen", erklärte die Helferin Susanne. Sie wurde in einen anderen Raum gebracht und vermied sorgfältig jeden Anblick in eine spiegelnde Fläche. Susanne hatte das Gefühl, ihre rechte Wange gliche einem Luftballon.

Alles war in Ordnung und sie durfte gehen. Mit Kühlkissen an der Wange lief Susanne mit gesenktem Blick über die Straße. Zu Hause nahm sie das Kühlkissen weg und bemerkte zu ihrem großen Erstaunen, dass sie völlig normal aussah! Also was man unter normal versteht.

Die Familie umsorgte sie rührend und der Sanitäter holte das größte Kühlpack, das es gab. Denn Susanne brauchte es doch, um später auch noch normal auszusehen. Sie trank ein Glas Bananenmilch, das die Kinder ihr großzügigerweise übrig gelassen hatten. Auch das Mittagessen war bis auf ein Nanogramm vertilgt. "War lecker! Der Dingens war hier und hat auch noch mitgegessen", erklärte der ältere Sohn. Dem anderen Sohn fiel bei Susannes Anblick ein:

"Mama, ich habe heute Mittag auch ganz doll an dich gedacht, als du repariert wurdest ... äh, ich meine operiert!" Susanne musste trotz der Schmerzen lachen. "Repariert ist schon ganz richtig. So fühle ich mich auch!" Ihr ging es aber schon am nächsten Tag besser. Nur musste sie auf Alkohol verzichten und durfte ihren heißgeliebten Feierabendeierlikör nicht trinken. Ihre Wange wurde trotzdem blau. Nach vier Tagen ließen die Schmerzen im Kiefer und im Fuß sozusagen gleichzeitig nach. Und was sagte sie zum dem Arzt, als er ihr schlussendlich die Fäden zog? Jedenfalls nicht Auf Wiedersehen!
;-)
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Weitere tiefschürfende Schilderung des Alltags einer Hausfrau und Mutter, die ständig neue lustige Dinge erlebt – wer’s mag …

Ciconia
 



 
Oben Unten