Die Res

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Wotawa

Mitglied
Es ist fünf, als sie mich weckt.
Jeden Tag weckt sie mich um fünf, auch am Sonntag, aber ich weiß ohnehin nicht mehr, welcher Tag grad ist. »So war’s ausg’macht«, sagt sie. »Ja«, sage ich. Mehr kann ich nicht sagen, so früh. Doch die Res redet eh nicht viel.
Ich gehe in die Stube. Hier ist es warm, anders als überall sonst, wo mich friert in meinem Jogginganzug. Nur nicht hier, wo der Ofen bollert. Der Ofen, auf dem die Res auch kocht und den sie schon vor einer Stunde eingeheizt hat.
Am Tisch Milchkaffee. Den Bohnenkaffee hat sie mit Malzkaffee gemischt. Am Anfang dachte ich, dass ich nie wach werde von der Plörre, aber mit der Zeit gab es sich. Warum sie das tut, den Kaffee mischen, hab ich sie gefragt und sie hat gesagt, dass Kaffee teuer ist und nicht notwendig. Und außerdem habe sie nicht soviel Platz im Auto, wenn sie einmal im Monat ins Tal fährt, um mir verwöhntem Stadtkind jedes Mal ein Kilo davon mitzubringen. Das war ganz schön viel, was sie da geredet hat.
Die Milch ist nicht pasteurisiert, jedoch abgekocht. Am Anfang hat mich geekelt vor der Haut oben drauf, jetzt nicht mehr. Neben dem Häferl eine dicke Scheibe Brot, das sie selbst bäckt, darauf gelbe Butter und Brombeermarmelade, beides selbstgemacht. Es schmeckt wie Kuchen, ich vermisse meine Ciniminis nicht mehr.
Ich frühstücke allein, die Res ist bereits im Stall. Das Licht in der Stube flackert, als sie die Melkmaschine in Betrieb nimmt. Ich wasche mich. Das Wasser ist eiskalt. Auch daran habe ich mich gewöhnt. Nur Zähneputzen ist nach wie vor eine Tortur.
Ich ziehe ich mich an, steige in die Gummistiefel, die mir viel zu groß sind, und gehe zur Res in den Stall. Zwei Milcheimer hat sie schon gefüllt, acht kommen noch dazu. »Wie viel Milch gibt eine Kuh pro Tag«, habe ich gegoogelt, bevor ich kam. »Bis zu sechzig Liter«, sagt Google. »Blödsinn«, sagt Res, »das sind die armen Viecher in den Milchfabriken«. Hier geben sie nicht so viel, weil die Kälber bei den Muttertieren bleiben dürfen. Unglaublich, der Unterschied, wie das schmeckt. Werbefernsehen in echt. Doch es gibt hier kein Werbefernsehen. Auch kein Google.
Ich trage die Milcheimer zur Lastenseilbahn. Einen nach dem anderen, weil mir zwei auf einmal zu schwer sind. Die Res trägt immer zwei. Hätte sie vier Arme, würde sie vier tragen.
»Nimm die Liesl«, sagt sie und hält mir den Strick hin, den die Leitkuh um den Hals hat. Ich ziehe daran und langsam folgt mir das mächtige Tier. Die anderen hinter ihm her. Ich versuche, mich zu erinnern, an welchem Hang sie heute grasen sollen. Sonnseite, stimmt. Schön für sie. Als die Liesl aus dem Stall ist, brauche ich nicht mehr an dem Strick zu ziehen, das Tier folgt mir von alleine, die anderen ihm. Nur dem jungen Stier muss ich manchmal mit dem Stock die Richtung weisen. Aber der bleibt ohnehin nicht mehr lange.
Über die Schneid im Osten kommt die Sonne. Wo sie hinfällt, glitzern Tautropfen wie Sterne, die in der Nacht vom Himmel gefallen sind. Ich ziehe die kalte Luft tief in die Lungen, der Sauerstoff fährt mir ins Hirn und macht mich schwindlig wie früher die erste Zigarette am Morgen. Die letzte habe ich vor vier Wochen geraucht, da war ich gerade den dritten Tag da. Ich habe die Res gefragt, ob sie mir welche mitbringt, wenn sie mit dem Jeep ins Tal fährt. »Nein«, hat sie gesagt. Jetzt brauche ich keine mehr.
Wir misten den Stall aus. Die Res schiebt den Dreck der Kühe (»Das ist kein Dreck!«) durch die hintere Stalltür direkt auf den Misthaufen. Ich spritze mit dem Kärcher nach. Das geht nur, wenn die Melkanlage ausgeschaltet ist, sonst fliegen die Sicherungen. Dann teilen wir neue Streu aus und sehen nach Scheckerl. Das Kalb trinkt nicht vom Muttertier, also kriegt es Milch aus der Flasche.
Vorige Woche wurde es gezogen. Das hat auch die Res gemacht. Bis zur Achsel ist sie der Kuh mit dem Arm in den Leib gefahren und hat dem Kalb im Bauch einen Strick um die Hufe gebunden. Wie kann sowas gehen?, dachte ich, aber ich hab die Res nicht gefragt danach. Dann hat sie das Kalb aus der Kuh geholt. Mir wurde schlecht, doch als ich das Kleine sah, wie es von seiner Mutter abgeleckt wurde, da habe ich geweint vor Glück. Die Res hat mich angeschaut und den Kopf geschüttelt. Aber ich weiß, dass sie sich gefreut hat.
Als wir fertig sind, gehen wir in die Stube zurück. Sie macht Sterz aus Mehl und Butterschmalz und wir trinken frische Milch dazu. Es ist neun und ich denke, dass ich jetzt im Büro sitzen würde, mit einem Pappbecher Latte macchiato aus dem Automaten, und mich über Martina ärgern würde. Wie das sein wird, wenn ich wieder zurück bin nach diesen drei Monaten, weiß ich nicht. Nur dass ich Martina nie mehr »Blöde Kuh« schimpfen werde.
»Res?«, sage ich, »kann ich da bleiben bei dir, hier auf der Alm?« Ich meine es nicht ernst. Oder doch?
»Von mir aus«, sagt sie.
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Wotowa,
das ist eine sehr schöne Schilderung mit Untertitel "Ferien auf dem Bauernhof". Mir hat gefallen, wie du die Schockmomente dezent schilderst. Die Szene mit der Geburt ist umwerfend.
Wenn ich etwas bemängeln darf: Der Ich-Erzähler bleibt bis kurz vor Schluss sehr blass, und auch danach kommt nicht viel. Ich denke aber, du hast das absichtlich so gemacht.
Und: Dialoge immer mit einer neuen Zeile beginnen; das erleichtert das Lesen und die Zuordnung.
Gruß Bo-ehd
 

Wotawa

Mitglied
Danke Bo-ehd..
Die Blässe des Ich-Erzählers (eigentlich eine Erzählerin) ist tatsächlich gewollt. Worums mir mehr ging, war der Kulturschock, den ein längerer Almaufenthalt, der eben kein "normaler" Urlaub (Was dann? Flucht? Ausstieg? Therapie? - Eigentlich egal!) ist. Zudem lag der Reiz auch darin die Story so kurz wie möglich zu halten und dennoch in die Tiefe zu gehen. Ich hoffe, es gelang.
 

Anders Tell

Mitglied
Atmosphärisch sehr einprägsam. Ich konnte ganz eintauchen in diese Almszenen. Und diesen Erzählstil, den Hemingway mit condensare beschrieben hat, mag ich besonders. Du hast die Details, die ein großes Bild mitliefern, perfekt gewählt.
 

petrasmiles

Mitglied
Das war eine sehr gut erzählte Geschichte einer Metamorphose.
Sehr beeindruckend, wie der Protagonist spürt, wie er Dinge loslassen kann, wie er sich in einen auf das Wesentliche reduzierte Tagesablauf einfügen kann. Da schmilzt etwas ab, was nicht seins war.
Ich wage aber die These, dass es keine Umwandlung sein wird, sondern eine Rückbesinnung auf sich selbst. Im Sommer mag man noch gerne die Leitkuh auf die Alm führen, aber den langen, kalten Winter nur mit Res verbringen? Das sehe ich nicht, und darum bleibt dieses offene Ende der richtige Schluss.
Wenn er bei sich angekommen ist, wird er eine Entscheidung treffen.

Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

Shallow

Mitglied
Viel geschrieben wurde schon über Städter, die es aufs Land zieht und dort die Erfahrung des Ursprünglichen machen (wollen). Längst nicht alle schaffen das, ohne in Klischees und Verklärungen zu versanden. Du, lieber @Wotawa, erzählst unaufgeregt mit viel Lokalkolorit aus der Sicht des Städters, der auf seinen Latte macchiato verzichtet (nach kürzester Zeit auch auf Zigaretten - geht das wirklich so einfach?) und die Vorteile des Landlebens für sich entdeckt. Schön geschrieben, sehr gern gelesen!

Schönen Gruß von

Shallow
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Wotawa,

erinnert mich ein bisschen an "Die Wand" von Marlen Haushofer. Du verrätst im Kommentar, dass dein Protagonist eine Frau ist. Mit einem Mann wäre es noch spannender geworden ... eine Frau ist ihm überlegen? Bei dieser Arbeit.

Manchmal ein bisschen zu viel Klischees und Almglück, aber insgesamt gerne gelesen.

Gruß DS
 

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Mitglied
Griaß di, Wotawa,

auch ich habe den Protagonisten als Mann "identifiziert" beim Lesen (ev. der Jogginganzug). Und das machte es natürlich spannend, dass die Res mehr Milcheimer auf einmal tragen kann als "er". Ist aber letztlich nicht wichtig für die großartige Wirkung deiner Geschichte. Wieder herrlich erzählt, den Leser nicht zu sehr gelenkt, aber dennoch perfekt geführt -hin zu den vielen schönen und wesentlichen Momenten von Erkenntnis - wie bewusst auch immer der Ich-Erzähler diese als solche wahrnimmt. Ich lese eher einen leise staunenden Tonfall heraus. Dieses Wundern darüber, dass ein eigentlich als hart wahrgenommenes Leben das Schönere zu sein scheint. Das Geerdet-Sein, wo Mensch und Natur sich ganz nahe kommen, wird auch von einer wundervoll geerdeten Sprache getragen und kommt bei mir sehr intensiv und schön an.

Wieder gernst gelesen!

Pfiat di!
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