die Saite

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Tula

Mitglied
die Saite

ich glaub, sie schwang zum ersten Mal halb zehn
in einer Pause zwischen Schinkenbrot
und Milch, mir wurde flau für einen Augen-
blick, mehr war es nicht, da spannte sie sich

auf, vom Hosenbund den Leib und Hals hinauf
bis in die Wirbel meines Kopfes, den verdrehte
sie von innen hin zur Wurzel in der Grube
meines Magens und versetzte mich in Trance

später brachte sie mich oft von Fuß bis
Schopf in Resonanz auf jener Welle, deren
Sinus links im Brustkorb bricht, dort schnitt sie
meinen Atem und mitunter tiefe Wunden

dann kam der Tag, an dem sie unverhofft
verstummte, nicht das leiseste piano,
einfach so ließ sie uns hängen, sich und
mich, in einem Corpus ohne jede Vibration

nichts stimmte sie, kein Zupfen half, kein
Küssen und kein Flehen, alle Notenbücher
taugten nichts, sie wollte nicht, sie wollte
Zeit, die schönste Zeit … die nahm sie sich

ich weiß, sie schwang das letzte Mal halb zehn
in einer Pause zwischen Portwein und Zart-
bitter sah ich noch einmal den Augen-Blick ...
erst gestern war‘s, da kam mir die Erinnerung

an dich
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Tula, das ist schön. Das ist gekonnt gemacht. Das ist Rhythmus, das ist eine Erzählung, ein großes Gefühl und das ewige Scheitern. Am Ende das «an dich» musst du vielleicht gar nicht absetzen, die Geschichte kann nur so auslaufen.
Joe
 

Kaetzchen

Mitglied
Hi Tula
Ein wunderbares Gedicht.

Beim Höhepunkt kamen bestimmt alle Saiten zum klingen und vereinten sich zu einem Akkord.

Gern gelesen
Kaetzchen
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Sehr gut. Ein ausführliches Gleichnis, die Metapher lebendig verselbständigt.
 

Tula

Mitglied
Hallo Joe, Kaetzchen, Hans und alle weiteren Leser, die dieses Gedicht so freundlich aufgenommen haben,
Mein Dankeschön in die Runde, der Sternenschauer heute morgen war eine schöne Überraschung und ist als solche erinnerungswert. Beim nächsten Gläschen Portwein werde ich an Euch denken :)

Schwingende Grüße
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 13736

Gast
Hallo,
nach dem ich dein Werk gelesen hatte, fragte ich mich, war das jetzt eigentlich gereimt?
Ne, war es nicht. Du braucht auch keine Reimform. Es liest sich meist immer wie von einem unsichtbaren Formengerüst gehalten und geglättet.

LG
Oscarchen
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Auch von mir noch ein Wort, Tula, zu einem Gedicht, das die LL in Schwingungen versetzt hat: Ich schätze an deinen Gedichten, dass du Gefühl wagst und rhetorischem Schwulst aus aus dem Weg gehst, dass du Verspieltheiten suchst, aber für Wortgeklapper keine Ohren hast, dass du Geschichten findest, die bei aller Skurrilität sich im Glaubhaften und Handfesten abspielen.
Joe
 

Tula

Mitglied
Hallo Oscarchen und Joe

Danke nochmals Euch beiden für die liebenswerten Kommentare. In der Tat, Oscarchen, war mein erster Versuch hier gereimt. Das Zwischenergebnis gefiel mir dann selbst nicht, und der Grund liegt in Joe's Bemerkung: es war ein Schwulst entstanden. Bei saiten-zarten Themen ja nicht immer zu vermeiden.

Herzliche Grüße
Tula
 



 
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