Die Schwimmprobe

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rotkehlchen

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Die Schwimmprobe



1

Das Rechteck in der Tür wurde hell und wieder dunkel, der Heulton der Ambulanz schwoll an und wieder ab, vom nahen Kirchturm erklang der schwere Bronzeschlag der Turmuhr und von nebenan infernalisches Husten, irgendwo im Haus fiel eine Tür zu.

Der Junge lag mit offenen Augen im Bett und starrte an die Decke, an der sich die Lichtraute der Hoflampe abzeichnete. Er war ein ernster blasser Knabe mit stillen traurigen Augen und zu klein für sein Alter; er fürchtete sich vor dem großen Bett mit den gedrechselten Beinen und den wirren Schnitzereien, dieses dunklen Ungetüm, in dem er sich verloren vorkam. Er schloss die Augen und begann zu weinen. Er konnte nicht verstehen, warum ihn die Mutter nicht mehr liebte und zur Tante gebracht hatte. Vor der Tante hatte er noch mehr Angst als vor dem schwarzen Bett; das Bett war unheimlich, aber es tat ihm nichts, doch er wusste, irgendwann würde ihm die Tante etwas antun, denn die Augen der Tante waren böse, hart und abweisend. Der Onkel... Der hatte große traurige Augen, noch trauriger als seine, aber die Tante ließ ihn nicht zu ihm.

In die Tränen hinein versuchte er sich zu erinnern. Irgendwann in seinem jungen Leben war etwas geschehen, das er sich nicht erklären konnte. Wann war das, und: Hatte er etwas falsch gemacht? Lange konnte es noch nicht her sein, denn er wusste: In zwei Wochen werde ich erst fünf. Warum war die Mutter auf einmal so traurig und so furchtbar erschöpft? Er erinnerter sich noch, dass die Mutter ihn eines Tages heftig umarmt und dabei entsetzlich geweint hatte. Dann hatte sie ihn zur Tante gebracht. Seitdem war er nicht mehr froh gewesen. Warum nahm sie ihn nicht mehr in den Arm, warum gab sie ihm keinen Gutenacht-Kuss mehr? Was war das für eine große fremde Stadt, in die sie immer fuhr, und in der sie so viel lernen musste? Und warum holte sie ihn nicht wieder nachhause und von der Tante und dem ständig hustenden Onkel weg?

Doch es fiel im keine Antwort ein.

Wieder erklang das entsetzlich röchelnde Husten des Onkels, der nebenan im Bett lag, todkrank, wie die Tante sagte. Es hörte sich schrecklich an, besonders, wenn der Onkel geräuschvoll abhustete, bevor er ausspuckte...

Das Rechteck in der Tür wurde wieder hell. Er wartete, und ein Zittern erfasste seinen dürren Körper. Würde die Tante jetzt hereinkommen? Der Ausschnitt in der Tür wurde wieder dunkel, und er atmete erleichtert auf.

Als er genug geweint hatte, begann er zu träumen. Ja, ein Riese sein... Einer von diesen sagenhaften kirchturmhohen Geschöpfen, von denen ihm die Großmutter früher erzählt hatte, wenn sie an seinem Bettchen saß... Doch auch die Großmutter besuchte ihn nicht mehr, war sie vielleicht gestorben? Er hatte die Tante gefragt, doch die hatte nur gesagt: „Halt den Mund!“

Ja, er wollte ein Riese sein, wollte in dieser fantastischen Welt leben, in dieser Riesenwelt, in keiner anderen. „Oh, wäre ich doch auch so groß!“, seufzte er mit seiner kleinen dünnen Stimme, „oder auch nur halb –“ Ein Weile starrt er wieder an die Zimmerdecke mit der Lichterscheinung.

Wie gerne hätte er solch einen Riesen zum Freund gehabt! Nein, nicht einen dieser wütenden Ungeheuer, die Bäume ausreißen und Menschen und Tiere erschrecken... Es sollte ein sanfter, freundlicher Riese sein, der sich zu ihm, dem Däumling, wie ihn die Großmutter scherzhaft nannte, herunterbeugt, ihn hoch nimmt und die große weite Welt zeigt... Ja, Freunde! Freunde besaß er gar keine mehr. Die Tante hatte ihm den Umgang mit anderen Kindern verboten, warum wusste er nicht. Aber so ein Riese... Ha! Der würde sich von der Tante nicht einschüchtern lassen! Und er würde ihm sicherlich ein Tischlein-Deck-Dich bereiten und nicht immer nur Haferbrei geben wie die Tante, tagaus tagein, immer nur diesen langweiligen Haferbrei. Vielleicht kannte der Riese ja auch das Geheimnis, wie man sich unsichtbar machen konnte...

Diese Stelle unten an seinem Rücken schmerzte, und er drehte sich auf die Seite.

Das Licht hinter der Glasscheibe in der Tür ging an, aber es ging nicht wieder aus. Er hörte die schweren Schritte der Tante die Treppe hoch stapfen, ein Schatten näherte sich der Tür und wurde schnell größer. Die Tür ging auf, die Tante trat ein, machte Licht, und er musste blinzeln. „Aufstehen!“, befahl sie, „es ist so weit!“



2

Die Tante hatte einen Schirm aufgespannt, aber nur für sich, er musste im Regen gehen. Als sie an dem Haus, einem schmucklosen Gebäude mit hohen, schmalen Fenstern, ankamen, war er tropfnass. Die Tante schloss die Tür auf, sie traten ein. Sie führte ihn in einen kleinen Raum und befahl: „Ausziehen!“ dann ging sie weg. Es war kalt, und er fror. Als sie wiederkam und sah, dass er immer noch nicht fertig war, riss sie ihm schimpfend die restlichen Kleider vom Leib. Dann ergriff sie fest seine Hand und zerrte ihn mehr als dass sie ihn führte in einen anderen Raum, der war groß und voller schwarz gekleideter Leute. Sie saßen im Halbkreis um eine schräge Kiste herum, über dem ein schwarzes Tuch hing. Auch die Wände des Saales, vor denen dicke hohe brennende Kerzen mit seltsamen Zeichen standen, waren mit schwarzen Tüchern verhüllt. Er musste sich vor die Kiste stellen, mit dem Rücken zu den Leuten, und die Tante befahl: „Rühr dich nicht von der Stelle!“ Dann setzte sie sich vor den Halbkreis.

Im Raum war es jetzt absolut ruhig; nur ab und zu knisterte eine der Kerzen kurz auf. In dem flackernden Schein, der den großen Raum in eine erhellte Dunkelheit tauchte, erschien der schmale weiße Körper des Knaben wie ein zuckendes Bündel Nichts. Er begann wieder zu zittern, doch nicht nur vor Kälte, sondern vor Scham, denn er fühlte schamlose Blicke auf seinen Rücken gerichtet wie Nadelstiche. Obwohl er es nicht sehen konnte, wusste er genau, wohin die Blicke gingen; sie gingen auf die schmerzende Stelle unten an seinem Rücken, auf dieses kleine, kurze, stielartige Gebilde, das die Tante Teufelsschwanz nannte.

Zunächst verspürte er nur den beißenden Groll eines Menschen, der Erniedrigung erfährt. Doch dieses Gefühl der Minderwertigkeit, verstärkt durch die fremden, unerlaubten Blicke, wurde allmählich so stark, dass es in Hass gegen seinen eigenen Körper umschlug, und er knirschte mit den Zähnen. Ich bin ein Zwerg, dachte er, und dazu noch ein missgestalteter; die bittere Erinnerung an die Witzeleien, die er deshalb ertragen musste, durchzuckte sein Gemüt. Wieder fühlte er sich verhöhnt, verspottet, erniedrigt, und er ließ den Kopf sinken. „Steh gerade!“, rief die Tante streng, und er stand gerade.

Auf einmal erklang ein seltsamer, unheimlicher Gesang; es war eigentlich kein richtiges Singen, sondern eher ein monotoner Singsang wie aus unbekannten Höhlenwelten, vorgetragen von hohen Männerstimmen. Zwei der schwarz gekleideten Gestalten traten hervor, fassten ihn an Armen und Beinen und legten ihn mit dem Bauch auf den Katafalk. Der Gesang würde jetzt lauter, die Sänger bewegten sich langsam und mit brennenden Kerzen in der Hand auf ihn zu, schließlich blieben sie vor der Bahre stehen.

Er blickte an die hohe Wand vor sich, wo schemenhafte Schattengebilde hin und her flatterten. Ein unförmiges zottiges Ungeheuer erschien, mit einem einzigen, brennenden Auge; es wurde größer und größer und nahm bald sie gesamte finstere Wölbung des Raums ein. Er schloss die Augen, doch das Trugbild blieb. Ein Augenblick schüchterner Überlegung sagte ihm, dass es kein wirkliches Ungeheuer sein konnte, denn wirkliche Ungeheuer hausen nicht in Räumen mit brennenden Kerzen, und schon gar nicht in Kirchen, denn eine Kirche war dieses Haus, er erkannte es am Geruch. Doch die unbewusste Spiegelung seiner Angst erwies sich als stärker; die Erscheinung kam auf ihn zu, schon berührte sie seine Schultern, er schrie und wollte sich aufrichten, doch kräftige Hände drückten ihn auf sein Lager zurück.

Was jetzt geschah, nahm er nur bruchstückhaft und wie aus weiter Ferne wahr. Fremde, kalte Hände betasteten seinen Körper; er ertrug die Qual mit zusammengebissenen Zähnen. Dann drehten sie ihn auf den Rücken; er vernahm Worte, die er nicht verstand; der Gesang setzte wieder ein; er hörte, wie die Tante „Teufel“ schrie und „besessen!“, und dann war auch das Ungeheuer wieder da. Seine weiße behaarte Pranke senkte sich und gab ihm einen Schlag auf den Mund; gleichzeitig erklang über ihm eine laute dunkle Stimme, die Worte in einer unverständlichen Sprache rief. Der Schlag war nicht gerade schmerzhaft gewesen, aber doch deutlich spürbar. Er öffnete die Augen und erblickte über sich zwei winzige, flackernde Kerzenflammen, die sich in der Brille eines Mannes mit bärtigem Gesicht spiegelten. Wieder senkte sich die Pranke – und jetzt sah er, dass es nicht die Pranke des Ungeheuers von der Wand war, sondern eine stark behaarte menschliche Hand – und wieder verspürte er einen leichten Schlag auf die Oberlippe, und die dunkle kratzige Stimme über ihm wurde noch lauter.

Als sich die Hand zum dritten Mal zum Schlag näherte, biss er blitzschnell zu.



3

„Ich habe den Jungen immer gut behandelt“, sagte die Frau. Ihr rundes, fülliges, glänzendes Gesicht war abweisend, das grau-braune, stark ondulierte Haar wirkte wie einbetoniert, ihr mit Goldfäden durchwirktes, hellbraunes Kleid glitzerte, besonders, wenn sie sich bewegte. Ihr Alter musste aber erheblich fortgeschrittener sein als das der anderen Frau, die ihr gegenüber saß. Die war in schlichtem Schwarz gekleidet, von Gestalt her unscheinbar, überschlank, geradezu zierlich. In ihren müden, dunkel umrandeten Augen lag die Erschöpfung vieler durchwachter Nächte und zerschlagener Hoffnungen.

„Und zu essen bekommt er auch genug.“

„Dann muss er einen Bandwurm haben“, sagte die zierliche Frau, die Mutter des Jungen. „Für sein Alter ist er zu klein und zu dünn.“

Die Luft in dem engen Raum roch muffig, stickig, abgestanden, wie überhaupt die ganze Wohnung nicht angenehm roch; es stank nach kaltem Zigarettenrauch und den ölig-fettigen Ausdünstungen der Ölradiatoren.

„Bandwurm! Unsinn!“ Die Frau mit der Betonfrisur machte eine unbestimmte Handbewegung und blickte ihre Schwester böse an. „Er hat den Satan im Leib, und der isst gerne mit!“

„Mein Gott, Martha, was redest du da! Den Teufel! Doch nicht in einem kleinen Jungen! Das kann doch nicht dein Ernst sein.“

„Ich hab ihn gestern während unserer Performance Dr. Immendorf gezeigt“, sagte die Frau, ohne den Einwand ihrer Schwester zu beachten. „Er ist derselben Ansicht, besonders, nachdem der Böse aus dem Mund des Jungen gefahren ist und ihn in den Zeigefinger gebissen hat, als er versuchte, die missgestaltete Oberlippe zu beschwören.“ Da die Schwester mit zusammengekniffenen Lippen schwieg, fuhr sie fort: „In der menschlichen Natur liegt eine starke Neigung, unangenehme Wahrheiten zu ignorieren. Mia“, rief sie beschwörend, „nimm doch endlich Vernunft an! Dein Junge ist besessen! Na gut, man könnte eine Teufelsaustreibung versuchen. Aber ich fürchte, bei ihm bringt das nichts. So, wie er den dunklen Mächten verfallen ist, dürfte auch der geschickteste Exorzist machtlos sein. Da müssen stärkere Mittel her.“

Die Mutter blickte alarmiert auf. „Stärkere Mittel? Was hast du vor?“

„Reg dich nicht auf! Zunächst noch gar nichts, ich stelle lediglich fest. Ad eins. Seit er hier ist, geht es Georg zunehmend schlechter. Mittlerweile ist seine Husterei kaum noch zu ertragen, und er kommt kaum noch aus dem Bett. Ad –“

„Und warum hört er nicht mit dem Rauchen auf? Ich denke – “

Die Frau sah ihre Schwester amüsiert an. „Ach nee, du denkst! Das überlass mal anderen! Im übrigen: Andere Männer in seinem Alter rauchen auch noch und sind nicht todkrank! Nein, dein Bankert ist´s, er hat Georg verhext! – Halt den Mund, ich bin noch nicht fertig! Ja, wenn es nur das wäre! Dann ist da auch noch dieser Stummelschwanz! Von hinten sieht er wie ein Schwein auf zwei Beinen aus, dein holder –“

„Martha, du übertreibst wieder mal maßlos! Das hat doch nichts mit dem Teufel zu tun! Wie oft soll ich das denn noch sagen! Eine seltene Fehlbildung, die immer mal wieder auftritt, und bei Hänschen fällt sie noch nicht einmal besonders auf! Sollte der Stummel größer werden, wird er wegoperiert.“

„Solange ich hier das Sagen habe, wird nichts wegoperiert! Oder willst du etwa den bösen Mächten das Handwerk verbieten? Das Böse muss in der Welt sein, damit es Gerechtigkeit geben kann. So. Und als wäre ein Teufelsschwanz noch nicht Zeichen genug, hat er auch keinen Amor –“

„Ach! Und du bist eine von den Gerechten! Da kann ich nur lachen! Du und gerecht! Du Geizknochen hast dich doch früher freiwillig noch nicht einmal von einem schnöden Stück Schokolade getrennt!“

Die Frau im Glitzerkleid blickte hasserfüllt in das gepuderte, schminkverschmierte Gesicht der Schwester, und ein leiser Ekel stieg in ihr hoch. „Wie siehst du wieder aus!“, grollte sie, „wie eine von der Straße! Pfui!“ Ihre Augen waren zwei winzige, spitze Dolche, die jetzt gnadenlos zustachen: „Ist dir inzwischen eingefallen, wer Hänschens Vater ist?“

Die zarte Frau, kreidebleich, mit schwarzen Augenrändern, starrte ihre Schwester ein paar Sekunden lang sprachlos an. Dann sprang sie auf, der Stuhl knallte gegen die Wand. „Martha, ich verbiete dir, so mit mir zu reden!“, schrie sie mit quietschiger Stimme, „wie steht es doch in deinem schlauen Buch? Wer unschuldig ist, der werfe den ersten Stein.“ Doch ihr Aufbegehren brach kraftlos am ironisch-abweisenden Grinsen der Schwester zusammen, auch daran, dass sie die Schwächere war.

„Mia, willst du mir etwa das Wort verbieten?“ Die Frau lachte höhnisch. „Schrei hier nicht herum, sonst wird der Junge noch wach, und setz dich wieder!“

Die Mutter nahm den Stuhl hoch, setzte sich nieder, weiß im Gesicht, und starrte vor sich hin.

„Es passt alles zusammen“, fuhr ihre Schwester rohzüngig fort, „der Biss, der Teufelsschwanz, der fehlende Amorbogen. Dein Sohn gehört in das Reich des Bösen, und ich werde für Gerechtigkeit sorgen, denn irgendjemand muss es ja mal tun und die Konsequenzen ergreifen. Du bist zu schwach dazu.“

„Wieso –“

„Halt den Mund und hör endlich zu!“ Die Frau schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, „du weißt anscheinend nicht, was ein fehlender Amorbogen bedeutet. Was glaubst du wohl, warum Hitler diesen lächerlichen Stummelbart trug? Nicht weil er einen hässlichen Mund hatte, wie manche behaupten, sondern weil ihm der Amorbogen fehlte, genau so wie deinem unseeligen Sprössling, und das wollte er vor seinen Anhängern verbergen! Solche Leute gelten nämlich seit alters her als lieblose und böse Menschen, und die Geschichte hat gezeigt, dass dieses Urteil kein Vorurteil ist!“ Sie dämpfte ihre Stimme zu einem leisen hohlen Flüstern. „Dein Hänschen ist die Reinkarnation Hitlers, und Hitler war von bösen Mächten besessen! Ich werde dafür sorgen, das er die Welt nicht noch ein zweites mal heimsucht! Denn ich gehöre zu den Sieben Gerechten, von denen das schlaue Buch, wie du es nennst, berichtet.“

Die schmale Frau bäumte sich auf. „Willst du ihn umbringen?“, schrie sie in höchster Verzweiflung.

Die Frau sah ihre Schwester kalt an. „Geh jetzt! Wenn du zu spät kommst, sperren sie dir den Freigang!“

„Kann ich den Jungen... Ich bin auch ganz leise.“

„Nichts da! Geh jetzt endlich!“

Das Gesicht der Schwester wurde kreideweiß. Sie stand auf und verließ grußlos und schwankend das Zimmer.

Die Frau blickte auf die Tür, hinter der ihre missratene Schwester verschwunden war. „Wir werden sehen“, murmelte sie, „ob Hänschen wirklich von dunklen Mächten besessen ist. Es gibt da ein todsicheres Mittel...“



4

Der Junge lag schon eine ganze Weile wach; die lauten Stimmen und ein Hustenanfall des Onkels hatten ihn geweckt. Die Hoffnung, die Mutter, deren Stimme er erkannt hatte, jemals wiederzusehen, hatte er aufgegeben. Er wartete deshalb auch nicht darauf, dass die dunkle Scheibe in der Tür hell würde und die Mutter hereinkäme. Die Scheibe wurde hell – er hörte ihre leisen Schritte im Flur – und wieder dunkel. Mit klopfendem Herzen verfolgte er das Geräusch, bis es sich unhörbar in der Tiefe des Treppenhauses verlor. Dann fiel unten die Haustür zu.

Enttäuscht schloss er die Augen. Nein, nicht die Mutter hatte ihn enttäuscht – die Riesen waren es! Nicht ein einziger hatte sein Versprechen eingelöst und ihn besucht! Und der Tante gezeigt, wer der Stärkere war! Also fürchteten sich die Riesen genauso vor der Tante wie der Onkel, der auch nur das machte, was die Tante befahl. Wenn auf die Riesen kein Verlass ist, dachte er, dann vielleicht auf Zwerge! Auch die Kurzen besitzen Macht!

Ein Bild tauchte vor ihm auf, verschwommen wie hinter Nebelbänken... Ein Riese, so groß und breit wie eine ganze Stadt, gefesselt am Boden, lauter Winzlinge krabbeln auf ihm herum und schießen ihm Pfeile ins Gesicht! Wie hieß er bloß, dieser Riese... Gulli... Gulli... könnte er doch die Großmutter fragen... ja, Gulliver hieß er, Gulliver!

Und er beschloss, ein Zwerg zu werden in einer Welt voller Zwerge, und sie zu seinen Freunden zu machen! Er würde sich nicht lumpen lassen und ihnen seinen Haferbrei geben! Schon sah er die Tante gefesselt am Boden liegen, sah, wie sie sich vergeblich drehte und wendete, sich aufbäumte, sah, wie er eine Zwille nahm und ihr eine Erbse ins Auge schoss, und eine seltene Ruhe überkam ihn...



*

Das Licht ging an und nicht wieder aus, die Tür öffnete sich; die Tante, einen groben Kartoffelsack in der Hand, trat auf leisen Sohlen ein. Einen Augenblick blieb sie mit angehaltenem Atem stehen und lauschte; aus dem Bett erklangen regelmäßige Atemzüge. Sie öffnete den Sack und beugte sich über den Jungen; ehe der begriff, was mit ihm geschah, hatte sie ihm den Sack übergestülpt. Der Knabe, jetzt hellwach, begann zu strampeln, doch vergeblich; die Sektenchefin klemmte sich Sack und Knaben einfach unter den Arm und ging damit ins Badezimmer. Dort band sie den Sack, in dem es seltsam ruhig geworden war, mit einer Schnur zu und legte ihn in die Badewanne.

„Morgen früh wird es sich zeigen“, sagte sie, „wer stärker ist, das Böse oder das Gute, die Mächte der Finsternis oder des Lichts, die Gerechten oder die Ungerechten.“ Sie ließ Wasser einlaufen und prüfte die Temperatur. „Der HERR wird ein sicheres Urteil fällen... lässt er dich schwimmen, habe ich mich getäuscht, gehst du unter...“ Der Knabe, aus seiner Schockstarre erwacht, begann fürchterlich zu schreien und zu strampeln, doch die Tante redete unbeirrt weiter. „Keine Angst, ich weiß, du frierst schnell. Deshalb wird dieses Gottesurteil ausnahmsweise mit warmen Wasser durchgeführt. Eine Gerechte will nicht, dass jemand unnötig leidet!“ Sie regulierte den Zustrom so ein, dass die Wanne nicht überlaufen konnte, dann knipste sie das Licht aus, verließ das Badezimmer und schloss die Tür.



*



Die Erzählung basiert auf einer Zeitungsnotiz
vom Juli diese Jahres:

Die mutmaßliche Sektenchefin soll den vierjährigen Jungen,
ihren Neffen... in einen über dem Kopf zusammengeschnürten
Leinensack eingeschnürt, im Badezimmer ihres Hauses abgelegt
und ertränkt haben. Die Angeklagte soll den Jungen als 'von
den Dunklen besessen' angesehen und beschlossen haben,
ihn zu töten... Sie habe ihn als 'Schwein und Reinkarnation
Hitlers' bezeichnet.
 
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