Die Taube

Die Taube

Am Tag vor ihrem Tod war sie plötzlich wach. Die Oma. Sie kam aus dem Schwarzwald, eine waschechte Renchtälerin.

Schwer krebskrank, Blasenkrebs. Wir pflegten sie Zuhause. Damit sie sich wohlfühlte, hatten wir einige ihrer schönen alten Möbel aus Offenburg nach Heidelberg gebracht und ihr Zimmer damit eingerichtet. In der Wohnung meiner Schwiegereltern, ein altes Haus, das Zimmer direkt unter einem französischen Dachstuhl.

Wach, klar und mit diesem schelmischen Glanz in den Augen, den ich schon fast vergessen hatte. Ich stand an ihrem Bett und wollte fragen, ob sie etwas braucht, aber sie kam mir zuvor.

„Jetzt möchte ich noch einen Speck und ein Bier“, sagte sie. Einfach so, als wäre es das Normalste der Welt.
Ich musste lachen. Ich war überrascht, aber auch froh. „Speck und Bier?“, fragte ich, und sie nickte ernst, so ernst, dass es beinahe feierlich wirkte.

Also ging ich los. Ich suchte den besten Speck, den ich finden konnte. Als ich zurückkam, strahlte sie mich an, als hätte ich ihr ein Stück Himmel mitgebracht.

„Den musst du so dünn schneiden, dass man die „Zittung“ durchlesen kann, aber das Messer muss hauen“, sagte sie in diesem typischen Renchtäler Dialekt und lachte dieses helle, kurze Lachen, das ich seit Monaten nicht mehr gehört hatte.

Wir saßen zusammen, sie in ihrem Bett, ich auf dem wackligen Stuhl daneben. Wir tranken Rothaus-Bier, Tannenzäpfle, aßen den Speck und redeten wenig. Es brauchte keine Worte. Dieser Moment war genug. Für sie. Für mich. Für alles, was kommen würde.

Am nächsten Tag riefen sie mich rein. Ich wusste, was es bedeutete. Ihr Atem war flach, das Gesicht still, so still, dass es schmerzte.

Ich tat das Einzige, was mir in diesem Augenblick richtig erschien: Ich ging ans Fenster. Ein Fenster, alt, mit schweren Flügeln. Ich öffnete es weit.
Die Luft war frisch.
Und dann geschah es.
Eine weiße Taube kam aus dem Nichts, flog direkt vor mich, so nah, dass ich den Luftzug spürte. Sie schaute mich mit ihren sanften Augen an. In diesem Augenblick fühlte ich eine tiefe Ruhe und Geborgenheit. Und dann setzte sie sich auf das Fensterbrett, vor meinen Bauch, und blieb so lang, bis hinter mir der letzte Atemzug verklang. Ich stand da, regungslos. Diese Taube, wundersam und still, wie eine Wächterin.

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen.
Da war nichts zu sagen, nichts zu erklären.

Nur ich, das offene Fenster mit dem blauen Himmel, die Taube – und der Frieden, der sich langsam in den Raum legte.
 



 
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