Die Träume des Unteroffiziers (2)

Meckie Pilar

Mitglied
Fortsetzung (2)

Herbert war das vierte Kind der Familie, der mittlere von drei Brüdern. Als kleiner Junge hatte er Rachitis und er behielt davon immer leichte O-Beine zurück. Auch sonst kränkelte er öfter. Er trat viel schüchterner und unsicherer auf als die anderen. Später war er der einzige seiner Geschwister, der es nicht schaffte, die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium zu bestehen. Herbert war sozusagen das schwächste Glied in der Familienkette. Unter den Geschwistern galt er zwar als einer der ihren, aber zweifellos immer als der Letzte von ihnen. Aber Herbert war mit diesem Los durchaus zufrieden.
Für seine Mutter fühlte Herbert sein Leben lang eine hochachtungsvolle Liebe. Sie war eine zarte, kleine, aber zähe Frau. Bevor sie Herberts Vater kennen lernte, hatte sie das städtische Lyzeum besucht und trug sich mit dem Gedanken, Lehrerin zu werden. Dann aber bekam sie sechs Kinder und sie begrub ihre Träume Stück für Stück.
Die Erziehung der Kinder war im Wesentlichen ihr Geschäft und sie bewältigte es souverän wie ein General. Keins der Kinder wagte ihr je zu widersprechen. Wenn sie tadelte, nahmen sie es Gott ergeben hin, wenn sie lobte, war dies wie eine feierliche Ehrung. Zärtlichkeiten wurden in Herberts Familie nicht ausgetauscht. Nur ganz kleine oder schwer kranke Kinder oder Haustiere hatten die Chance, die beruhigende Hand der Mutter zu spüren. Einmal, auf einem Familienspaziergang, durfte der schon heranwachsende Herbert die Mutter wegen einer zerbrochenen Brücke über einen Bach tragen. Sie war ganz leicht und sie zu tragen machte Herbert keine Mühe. Aber es erfüllte ihn mit großem Stolz. Keins der Kinder hätte je zugelassen, dass ihrer Mutter Leid zugefügt würde. Herbert nannte seine Mutter immer “Mutter“. Auch wenn er von ihr sprach, sagte er stets respektvoll “Mutter“.
Nur, wenn sie den Vater rief, weil etwas Außergewöhnliches vorgefallen war, erschien er im oberen Stockwerk und sorgte mit kurzen Worten und manchmal mit harten Schlägen für Ordnung und Gerechtigkeit. Aber das geschah selten. Herberts Vater hatte neben seinem Beruf nicht viel Zeit für die Kinder. Nur einmal nahm er Herbert auf eine Geschäftsreise mit. Es war für Herbert damals unfassbar, dass er nun den Vater so viele Stunden und Tage ganz für sich alleine haben sollte und ihn fragen konnte, was er wollte. Abends durfte er mit ihm zusammen in der Gaststätte sitzen und bekam eine Limonade. Er erlebte diese Reise als eine wunderbare Fügung und behielt sie als Auszeichnung im Gedächtnis, die ihm eigentlich gar nicht zugestanden hatte.
Solange die Geschwister unter sich blieben und in ihrem Garten miteinander spielten, litt Herbert kaum unter seiner Rolle als Schlusslicht in der Geschwisterreihe. Er fühlte sich aber zunehmend ausgeschlossen, als die Brüder und Schwestern anfingen, ihre Freunde mit nach Hause zu bringen. Es wurde ihm deutlich, dass seine Geschwister andere Freunde hatten als er. Dies waren besser gekleidete Kinder, die gebildet und gestelzt daherreden konnten oder damit angaben, dass ihre Väter sich wieder ein neues Automobil geleistet hätten. Herbert, der die Volksschule besuchte, lernte dort gemeinsam mit Handwerker- und Arbeiterkindern. Sein bester Freund Hansi war der Sohn eines Stahlgießers bei den Eisenwerken. Hansi sprach die derbe Sprache der Menschen im Ruhrgebiet und seine Kleidung war nicht selten ausgebessert oder sogar an manchen Stellen verschlissen, wie Herberts ältere Schwester Gretel einmal mit spitzer Zunge bemerkte. Hansi besuchte Herbert nur ungern, weil er sich nicht wohlfühlte bei den „feinen Pinkeln“, wie er sagte. Und Herbert konnte das gut verstehen. Auch er verstand kein Latein und kein Englisch. Cäsar war ihm kein Begriff und das Wort Biologie sagte ihm lange nichts. Als er einmal einer Freundin seiner Schwester gestand, dass er gar nicht die Oberschule besuche, fing sie an zu kichern und wandte sich von ihm ab. Unter den Pennälern mit ihren schicken Schulmützen und den feinen Mädchen vom Lyzeum fühlte er sich nicht mehr wohl. Er begann, sich immer mehr von seinen Geschwistern und ihren Freunden und Freundinnen zurückzuziehen.

Eigentlich war Herbert ein guter Schüler. Rechnen lag ihm ganz besonders. Seine Lehrer wussten sehr wohl, dass er das Zeug zu sehr viel mehr gehabt hätte. Nur seine Rechtschreibleistungen waren und blieben katastrophal. Also gab es nur einen Weg für ihn. Er schloss die Volksschule ab. Danach suchte sein Vater für ihn eine Lehrstelle in einer Eisenwarenhandlung.
Herbert beklagte sich nicht. Der Umgang mit Werkzeug, mit Schrauben und Dübeln, mit Bohrmaschinen und Feilen gefiel ihm durchaus. Er lernte gut und machte alles, was ihm aufgetragen wurde, gewissenhaft und sorgfältig. Nur hinter dem Ladentisch fühlte er sich nicht wohl. Lieber sortierte er das Lager oder säuberte die Geräte. Am liebsten jedoch sah er Handwerkern bei der Arbeit zu und versuchte, ihre Kunst einfach vom Zuschauen zu erlernen. Meist hatte er dabei Erfolg.

Seit er die Schule verlassen hatte, schloss Herbert sich mehr und mehr der katholischen Jugend seiner Pfarrgemeinde an und wuchs so in die christliche Jugendbewegung und ihre Ideale hinein. Offen und ohne Vorurteile wollten sie der Welt und dem Leben begegnen. Sie fühlten sich jung und stark und waren darauf stolz, anders zu leben als die verstaubte Generation ihrer Eltern. Woche für Woche gingen sie gemeinsam auf Fahrt, zelteten im Wald, sangen wilde und gefühlvolle Lieder, lasen gemeinsam Bücher und erdachten sich eine neue, bessere Welt, für die sich das Kämpfen lohnen würde.
Herbert brachte sich selbst Akkorde auf der Gitarre bei, um beim Singen die Begleitung übernehmen zu können. Als ihn sein älterer Bruder einmal dabei beobachtete und ihn mit erwachender Neugierde fragte, was er denn in seiner Jugendgruppe so mache, verschloss Herbert sich und redete sich heraus. Dies hier war seine Welt und die wollte er nicht mit den Geschwistern teilen.
In seiner Gruppe und in der Gemeinde fand Herbert Menschen, mit denen er über alles reden konnte. Hier war es für ihn möglich, seine Gedanken und Träume auszusprechen, ohne Angst davor haben zu müssen, ausgelacht zu werden. Die Freunde ermutigten Herbert auch dazu, weiter zu lernen. Herbert nahm die Anregung seines Jugendkaplans und anderer, schon älterer Kameraden dankbar an. Was seine Geschwister in der Schule auf einem silbernen Tablett geboten bekommen hatten, was man ihm verweigert hatte wegen ein paar dummer Rechtschreibfehler, das wollte er sich nun selbst holen, aus eigener Kraft.
Herbert fing an, in jeder freien Minute zu lesen. Er verschlang alles, was ihm der Jugendkaplan empfahl und über was seine älteren Freunde diskutierten. Er machte vor nichts halt: Er las Nietzsche und Augustinus, er studierte den Faust, er las Schillers Glocke und Stifters Novellen. Er versuchte, sich selbst Englisch beizubringen und am Sonntag, während der Messe, verfolgte er die Liturgie und prägte sich lateinische Worte ein, die er dann stolz in seinen Wortschatz aufnahm. Am meisten aber interessierten ihn die Naturwissenschaften und die Technik. Er nahm sich vor, irgendwann ein Ingenieurstudium aufzunehmen.
 



 
Oben Unten