Die Träume des Unteroffiziers

Meckie Pilar

Mitglied
Die Träume des Unteroffiziers

Fortsetzung 6

Irgendwoher organisierten sie sich eine Flasche Wein. Sie lachten und plauderten bis spät in die Nacht hinein, dachten sich Szenen aus ihrem zukünftigen Familienleben aus und erzählten sich Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit. Irgendwann kamen sie auf den Namen ihres Kindes zu sprechen. Herbert berichtete von der Sitte in seiner Familie, allen Jungen neben dem eigentlichen Jungennamen auch den Namen „Maria“ zu geben. Margot fand diese Sitte albern. Als sie hörte, dass ihr Liebster tatsächlich „Herbert Maria“ hieß, brach sie in schallendes Gelächter aus. Herbert sagte daraufhin etwas getroffen, er würde diese Tradition eigentlich gerne fortsetzen. Sie sah ihn kurz an und meinte, das könne ja wohl nicht sein Ernst sein. Er ließ darauf hin das Thema fallen. Ansonsten war es ein sehr schöner Abend.

Im Wissen um das Kind, das seine Liebste bekommen sollte, fing Herbert in diesen Tagen an, sich seiner Verantwortung als zukünftiges Familienoberhaupt bewusst zu werden und er begann, sich auf ganz neue Art und Weise um die Zukunft zu sorgen und Pläne zu wälzen. Jetzt kamen Aufgaben auf ihn zu, für die er die Lösung nicht in den Parks und Museen Dresdens finden würde. Bilder aus seiner Kindheit tauchten plötzlich wieder in seinem Kopf auf. Er sah das elterliche Wohnzimmer vor sich und konnte die Ruhe fühlen, die über alle gekommen war, wenn die Mutter begonnen hatte, die Suppe auszuteilen.
Herbert wusste, dass er noch einmal mit einer Einberufung an die Front rechnen musste und vielleicht nicht würde hier sein können, wenn das Kind zur Welt käme. Das beunruhigte ihn und beschäftigte ihn in dieser Zeit weitaus mehr, als alle Hochzeitsvorbereitungen um ihn herum.
Als Margot ihn einmal fragte, was mit ihm los sei, er wäre so still und nachdenklich geworden, ob er sich denn gar nicht auf die Hochzeit freue, strich er ihr übers Haar und antwortete, sie solle sich nur weiter freuen. Er freue sich ganz genauso. Nur spüre er sehr deutlich jetzt seine Verantwortung als Vater und zukünftiger Ehemann und mache sich eben um die Zukunft Gedanken.
„Typisch Mann“, sagte Margot und lächelte, „ich kriege das Kind und du machst dir die Sorgen“. Sie ließen es dabei.
Aber Herbert grübelte weiter. Schließlich schrieb Herbert an seine Eltern, dass seine Braut und zukünftige Frau (die Hochzeit sei noch im Herbst des Jahres geplant) bereits im Juli ein Kind erwarte und er überlege, ob er sie nicht zu ihnen nach Gelsenkirchen schicken könne, wenn er zur Front müsse. Herbert wusste, dass Margot diese Idee nicht besonders gut finden würde, aber er fand keine bessere Lösung. Die Mutter schrieb ihm zurück, dass seine Frau selbstverständlich bei ihnen leben könne. Der ältere Bruder mit seiner Frau, die gerade ihr zweites Kind bekommen habe, lebe allerdings auch schon bei ihnen, aber Margot müsse eben sehen, wie sie damit zurecht käme. Es könne doch recht eng werden. Sonst sagte die Mutter nichts über Margot und erwähnte auch nicht den Umstand, dass schon ein Kind unterwegs war, obwohl die Ehe noch gar nicht geschlossen wurde. Herbert war froh darüber und dankte ihr in seinem Herzen dafür.

Die Hochzeit hatten sie auf Allerseelen festgelegt. Die Vorbereitungen übernahmen weitgehend die Freunde des Paares und Herbert staunte einmal mehr, wie beliebt seine Braut war und wie sehr alle bereit waren, ihr eine Freude zu bereiten. Es sollte ein großer Tag werden. Gerade weil Krieg war und es so enorme Schwierigkeiten bereitete, ein bisschen Feierlichkeit herbeizuzaubern und etwas Überschwang und Freude zu organisieren, gaben sich alle ganz besondere Mühe. Margot selbst studierte mit ihrer Mädchengruppe einen Theatersketch ein, der für Herbert eine Überraschung werden sollte. Sie war erfüllt von der Vorfreude und ihrer Schaffenskraft.
Zwei Tage vor der Hochzeit brachte das Radio die Meldung, Gelsenkirchen sei bombardiert worden. Etliche Häuser in der Innenstadt waren zerstört. Margot wurde schlecht, als sie das hörte. Sie musste sich übergeben. Das war bisher noch nicht vorgekommen. Als Herbert abends kam, wusste er schon, was passiert war. Er hatte versucht, die Eltern anzurufen. Es war aber keine Verbindung zustande gekommen. Er wirkte beunruhigt und nervös und konnte sich ganz schlecht auf die schönen und erfreulichen Kleinigkeiten und Sorgen konzentrieren, die ein Brautpaar in den Tagen vor seiner Hochzeit eigentlich beschäftigen sollten.
Dann klingelte es und ein Telegrammbote stand in der Tür. Die Wirtin hatte ihn hereingelassen und blieb auf der Treppe stehen, um mehr zu erfahren. Das Telegramm war für Herbert, aber man hatte es an Margots Adresse gesandt. Herbert riss es auf und sagte eine Zeit lang nichts. Sie fragte nicht. Es war, als wolle sie es lieber nicht wissen.
„Es ist von zu Hause“, sagte er schließlich leise.
„Was ist passiert?“ Sie sprach ganz langsam. Es fiel ihr schwer, ruhig zu bleiben.
„Das Haus ist im obersten Stock zerbombt. Vater und Mutter waren mit Wilma auf der anderen Straßenseite im Luftschutzkeller. Es geht ihnen wohl gut. Na ja, den Umständen entsprechend, denke ich. Werner und Rudolf wollen noch heute kommen und mit aufräumen helfen. Sicher kann man noch was retten.“
Er schwieg.
„Na, Gott sei Dank!“, sagte Margot erleichtert. „Es hätte schlimmer werden können.“
Und weil Herbert immer noch schwieg und das Telegramm anstarrte, fragte sie besorgt: „Was ist denn? Steht noch was drin?“
„Ich soll sofort kommen und ihnen helfen“, sagte er. Es klang ein wenig kläglich.
Margot sah ihn liebevoll an. „Wie schwer es ihm fällt, mir das anzutun!“, dachte sie gerührt. „Schade, wir wollten ja eigentlich gleich morgen nach der Hochzeitsfeier losfahren. Aber weißt du, wir machen es dann eben so: Wir verschieben die Hochzeitsreise um eine Woche und du fährst, sagen wir, übermorgen los?“, bot sie ihm an.
Er schwieg.
Dann stand er plötzlich auf. Er ging zum Fenster, sah hinaus und sagte mit einem bestimmten Ton, den sie überhaupt noch nicht an ihm gehört hatte:
„Nein. Ich fahre sofort. Morgen früh um fünf Uhr kann ich den Zug kriegen, dann bin ich gegen Abend da. Sicher brauchen sie mich sofort und nicht in ein paar Tagen“.
„Aber Herbert!“, setzte Margot an. Es klang wie die Stimme eines Vogels, der in eine Falle geraten ist und noch hofft, ganz leicht wieder heraus zu kommen. „Morgen wollen wir heiraten.“
„Das geht jetzt nicht. Wir werden die Hochzeit verschieben.“
„Nein“, sagte sie entsetzt.
„Es sind meine Eltern und ich kann sie nicht hängen lassen“, antwortete er ohne aufzublicken.
„Aber deine beiden Brüder sind doch da und deine Eltern sind gesund.“ Sie machte eine kleine Pause. Ihre Stimme war laut geworden und aufgeregt. Auf ihrem Hals erschienen rote Flecken. „Wir wollen morgen heiraten, Herbert. Ist das denn nichts? Ist das auf einmal unwichtig für dich?“
„Sei nicht albern“, sagte Herbert vom Fenster her. „Heiraten können wir genauso gut in 14 Tagen. Aber das Haus meiner Eltern wurde gestern zerbombt.“
Margot schwieg. Tränen schossen in ihre Augen. Sie sah verzweifelt zu Herbert hinüber. Der blickte sie nicht an.
So standen sie eine lange Zeit, ohne dass einer etwas sagen konnte.
Schließlich löste Herbert sich vom Fenster und kam auf sie zu. Er streichelte ihr übers Haar und meinte:
„Nun lass mal den Kopf nicht hängen, Mädchen! Sei tapfer! Ich komme doch bald zurück.“
„Das können wir doch den Gästen nicht antun“, flehte Margot. „Sie haben doch alles vorbereitet.“ Ihre Stimme brach ab.
„Die werden das sicher auch verstehen, mein Schatz.“
„Aber ich verstehe das nicht“, sagte sie jetzt langsam und betont. In ihrer Stimme schwang zum ersten Mal Feindseligkeit und Misstrauen mit. „Soll das heißen, dass deine Familie vorgeht, vor mich und vor unser Kind?“
„Ach, Kleines, du bist einfach durcheinander. Sei nicht ungerecht! Dir macht es doch nichts aus, wenn die Hochzeit erst ein paar Tage später stattfinden kann. Aber meinen Eltern würde ein Helfer fehlen, der vielleicht etwas retten kann von ihren Sachen. Sie haben doch alles verloren.“
„Und das zählt, ja? Und was ich verliere, das zählt nicht?“
„Es sind meine Eltern, Liebes“, sagte er schlicht.
Sie wandte sich ab und sprach kein Wort mehr an diesem Abend.
Am anderen Morgen hatte Margot leichtes Fieber. Herbert fühlte ihre Stirn und machte ihr einen heißen Tee.
„Siehst du, mit einer Erkältung zu heiraten ist sowieso nicht so schön. Bis ich zurück bin, bist du wieder gesund, Liebes“, sagte er. Er begriff nicht, warum sie in Tränen ausbrach.

Die Freunde waren bestürzt und voller Mitgefühl. Natürlich erklärten sie sich sofort bereit, die Hochzeit 14 Tage später genau so schön zu feiern. Als Herbert schon abgereist war, kam Margots beste Freundin und setzte sich zu ihr ans Bett. Sie sagten kein Wort. Nur einmal fragte die Freundin: “Hast du geahnt, dass er das so machen würde?“
Margot antwortete lange nicht. Schließlich sagte sie: „Jetzt ist es zu spät. Ich bekomme ein Kind.“
Und wieder schwiegen beide und als es schon dunkel im Raum war, verabschiedete sich die Freundin, denn sie musste den letzten Bus bekommen, der noch nach Dresden hinein fuhr.

In Gelsenkirchen hatte Herbert manches alte Möbelstück retten können, außerdem die gesamte Bettwäsche seiner Eltern. Dass er in den Trümmern beinah abgestürzt war, erzählte er lieber nicht.
Die Hochzeit wurde 14 Tage nach dem ursprünglichen Termin genau so gefeiert, wie sie geplant worden war. Alle gaben sich große Mühe, die schiefen Töne, die in der Luft lagen, zu ignorieren und zu übertönen. Das große Porzellanservice, das die Freunde den beiden geschenkt hatten, verpackte Herbert am Tag nach der Hochzeit sorgfältig in Kartons und lagerte es im Keller von Margots Mutter ein. Sie wollten es holen, wenn sie ihre eigene Wohnung und genug Platz haben würden.
Nun waren sie verheiratet und sie versuchte manchmal zu lächeln.
Zwei Wochen später erhielt Herbert den Frontbefehl. Margot arbeitete weiterhin in dem Kindergarten der kleinen Stadt und wartete auf das Kriegsende, ihren Mann und das Kind. Sie wartete nicht mehr auf das Glück.

Im Februar bekam Herbert Fronturlaub. Sie wohnten nun als Ehepaar zusammen in Margots enger Stube, teilten ihre alltäglichen Sorgen und sprachen über die unsichere Zukunft. An einem Abend färbte sich der Himmel im Osten tief rot. Dort lag Dresden. Ständig gab es Fliegeralarm. Sie verbrachten die Nacht im Luftschutzkeller. Am nächsten Tag erreichte sie die Nachricht vom Bombenangriff auf Dresden. Die Stadt seiner Träume und die Stadt ihres Lebens lag in Trümmern.
Margot weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht.
Am nächsten Tag machte Herbert sich auf, um in Dresden nach Margots Mutter zu suchen. Margot wollte unbedingt mitkommen, aber er ließ es nicht zu, dass seine inzwischen deutlich sichtbar schwangere Frau sich diesen Strapazen und diesen Schrecken aussetzte. So sehr er ihren Mut und ihre Tapferkeit immer bewundert hatte, in einer solchen Situation musste er als Mann die Aufgabe alleine lösen. Er ließ sie weinend zurück und wanderte nach Dresden. Dort traf er auf nichts als auf Flammen, Rauch und Leichen. Er fand das Haus der Schwiegermutter zerbombt vor. Von ihr gab es keine Spur. Der Keller aber war unversehrt. Er entdeckte das Hochzeitsgeschirr, doch als er es auspackte, zerbröselte es in seinen Händen.
Wieder zu Hause angekommen, fand er sie noch immer in Tränen aufgelöst. Sie weinte unablässig über all das, was sie verloren hatte. Da erzählte er ihr lieber nur wenig von den Schrecken, die er gesehen hatte.
Am Tag darauf musste er zurück an die Front.
 



 
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