Die Unterrichtsstunde

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Es muss in der achten Klasse gewesen sein. Eine Unterrichtsstunde Deutsch - mein Lieblingsfach - mit unserem neuen Referendar stand bevor.
„Ich finde den Typ so langweilig", seufzte meine Sitznachbarin Ingrid. „Hoffentlich geht die Stunde schnell um."
Ich fand den Typ vor allem gutaussehend: blond, groß, von zwar kräftiger, aber nicht übergewichtiger Statur. Allerdings mochte ich seine Lehrmethoden nicht: Meistens brachte er Folien mit, deren Beschriftungen er mit Hilfe eines Projektors an die Wand warf. Das fand ich eher ermüdend als interessant.

Wir wurden überrascht, er hatte keine Folien dabei, nur ein paar Bücher, die er achtlos auf das Lehrerpult legte.
„Ich wollte heute mit euch über etwas sprechen", begann er und es folgte - für mich enttäuschend - etwas, was mit dem Unterrichtsfach meiner Meinung nach nicht viel zu tun hatte. Es ging um das Verhältnis Deutschlands zu einem anderen Land. Da ich nicht mehr hundertprozentig weiß, um welches Land es ging, nenne ich das andere Land "X-Land."

Unser Referandar begann damit, X-Land zu loben. Was habe X-Land nicht alles für uns getan! Wir verdankten ihm Waren, die wir ohne seine Lieferungen nie bekommen hätten. Auch politisch stünde X-Land immer hinter uns. Undsoweiter undsofort. Am Ende der Litanei fragte er, wer dafür sei, dass wir das Verhältnis zu X-Land aufrecht erhalten sollten, so wie es sei. Alle zeigten auf. Wer war dagegen? Keiner. Enthaltungen? Gab es nicht.

„So", legte er nun mit gerunzelter Stirn los, „das glaubt ihr also wirklich. Ich sage euch mal was: X-Land hat gar nichts für uns getan. Andere Länder hätten uns die gleichen Waren geliefert, vielleicht sogar günstiger. Und politisch steht X-Land ganz und gar nicht hinter uns. Partnerschaft, wenn ich das schon höre! Die sind doch nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht." In dieser Richtung ging es weiter. Ich schaute den Referendar vollkommen verdutzt an und konnte mit den beiden gegensätzlichen Reden nichts anfangen. Was meinte er denn nun wirklich?
Ingrid neben mir kicherte. „Der spinnt."

Am Ende der zweiten Rede ließ der Referendar wieder abstimmen. Wer war nun dafür, dass wir nie wieder etwas mit X-Land zu tun haben sollten? Alle zeigten auf, bis auf Ingrid und mich. Einige murmelten Zustimmung, nein, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Wenn das ja alles so ist.....
Ich zögerte, ob ich jetzt dagegen stimmen sollte. Durfte man das wagen? Während seiner zweiten Rede war mir der Referendar fast wie ein Schauspieler vorgekommen. Aber alle anderen hatte er überzeugt. Bis auf Ingrid, die ihn nicht leiden konnte. Ich schaute Ingrid an. „Wir enthalten uns", flüsterte sie und brav streckte ich meinen Finger in die Luft. Wir waren die einzigen, die sich enthielten. Gegenstimmen gab es nicht. Aber eine Überraschung, die ich nie vergessen werde.

„Was habe ich jetzt gemacht?" fragte der Referendar. Alle schauten ihn an, keiner wusste eine Antwort.
„Ich habe euch manipuliert", erklärte er. „Vorher wart ihr ganz anderer Meinung. Ich wollte euch zeigen, wie so etwas passieren kann."

Nie habe ich soviel gelernt wie in dieser Unterrichtsstunde. Die Lehrmethode war unkonventionell, so eine Stunde habe ich nie wieder erlebt. Aber ich war unglaublich beeindruckt davon, was uns hier gezeigt worden war. Für mein weiteres Leben habe ich etwas sehr Wichtiges aus dieser Unterrichtsstunde mitgenommen: Pass auf, wenn man dich manipulieren will.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der damalige Referendar (es war Anfang der 80er Jahre) diese Zeilen liest, ist wohl eher gering. Trotzdem möchte ich auf diesem Wege sagen: Danke, Herr Referendar, für das, was Sie uns in dieser Stunde beigebracht haben.

Und ich ärgere mich noch heute, dass ich nicht dagegen gestimmt habe. Im Prinzip ließ ich mich auch von meiner Sitznachbarin manipulieren.....
 
Kenne ich auch. Bei mir war es die ausführliche Besprechung eines inhaltlich sinnlosen Textes.
Die Antwort verstehe ich nicht ganz. Was ist an einem inhaltlich sinnlosen Text bzw. einer ausführlichen Besprechung darüber manipulierend? Wenn der Inhalt sinnlos ist, kann man ja noch nicht einmal gegensätzlicher Meinung darüber sein.
Man kann natürlich immer geteilter Meinung darüber sein, ob ein Text vom Inhalt her sinnlos ist oder nicht.
 

revilo

Mitglied
Der Lehrer gab uns einen Text , den wir interpretieren sollten . Haben wir auch brav gemacht . Arbeitsgruppen gebildet, Folien geschrieben und die Ergebnisse vorgestellt. Der Text war eigens so geschrieben, dass er vollkommen blödsinnig war , was wir Interpretationsmaschinen es nicht bemerkten. Das hat uns der Lehrer dann klargemacht. Wenn das nicht manipulativ ist ...
 



 
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