Die Verwandlung des Schülers Kai Hufnagel

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rotkehlchen

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An einem Donnerstag im Mai, gegen vier Uhr morgens, wachte der Schüler Kai Hufnagel, 16, mit einem stechenden Schmerz im unteren Rückenbereich auf. Er griff unter sich und tastete die schmerzende Stelle ab. Zu seinem größten Erstaunen fühlte er am Steißbein ein dünnes wurmartiges Gebilde, etwa von der Länge eines halben kleinen Fingers. Verdutzt setzte er sich auf, der Schmerz ließ sofort nach. Noch rechnete er mit einer Sinnestäuschung; vielleicht, dachte er benommen, habe ich ja bis gerade noch geträumt, manche Träume sind ja realer als die Wirklichkeit. Doch ein erneutes Abtasten der bewussten Stelle zerstörte diesen Hoffnungsschimmer: Der Wurm war immer noch da und ziemlich empfindlich, denn als er ihn zur Seite bog, feuerte erneut ein heftiger Schmerz durch seinen Rücken.
Er stand auf und ging auf Zehenspitzen, um die Familie nicht zu wecken, in den Flur, wo der dreiteilige Garderobenspiegel stand. Er machte Licht und drehte die Seitenflügel des Spiegels so, dass er seinen Rücken betrachten konnte. Eine Weile starrte er die Stelle ungläubig an, ohne etwas zu begreifen. Es sah aus, als stecke ein kleines Kind seinen kleinen Finger, allerdings ohne Nagel, aus seinem Rücken heraus.
Kai ging wieder ins Bett und legte sich auf die Seite. An Einschlafen war nicht zu denken, er war jetzt hellwach. Die absonderlichsten Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum. Jetzt erinnerte er sich, im Biologieunterricht einmal etwas von Kindern gehört zu haben, die mit einem Stummelschwänzchen geboren wurden. Aber die wurden damit geboren, überlegte er, das Teil wuchs ihnen nicht auf der Schwelle zum Erwachsenenalter. Nun fiel ihm auch ein, dass der Lehrer von weiteren Abnormitäten gesprochen hatte, zum Beispiel von außergewöhnlich kräftigen oberen Eckzähnen bei manchen Menschen und noch einigem mehr, woran er sich nicht mehr erinnern konnte. Er wusste lediglich noch, dass es dafür einen Fachbegriff gab, der mit A anfing, aber das war auch schon alles. Damals hatte er sich darüber amüsiert und wieder weggehört, denn Bio war nicht sein Fach. Er hatte den Grundkurs nur belegt, weil der Lehrer als milde und Bio als 'leicht' galt.
Das Grübeln machte ihn müde, und er schlief wieder ein.

Am morgen, nach dem Aufwachen, musste er sich erst eine kleine Weile besinnen, denn der Traum, den er da geträumt hatte, war noch allzu frisch – und allzu fantastisch. In Gedanken drehte er sich auf den Rücken – und setzte sich sofort auf: Der Schmerz war wieder da und mit ihm die Gewissheit, dass es doch kein Traum gewesen war. Er sprang aus dem Bett und ging ins Badezimmer, aus dem gerade sein Vater kam, wie jeden Morgen frisch rasiert und dezent parfümiert.
„Morgen, Kai“, sagte der Vater gut gelaunt. „Wie war die Nacht? Hast du gut geschlafen?“
Kai murmelte einen Morgengruß und schloss die Tür hinter sich ab.
Eine erneute Besichtigung der Stelle ließ keinen Zweifel daran, dass sich bereits ein kleiner, nach oben gekrümmter Stummelschwanz gebildet hatte. Verstört griff er zur Zahnbürste, um sich die Zähne zu putzen. Da fiel ihm das mit den Eckzähnen wieder ein. Mit zusammengebissenen Zähnen grinste sich er sich im Spiegel an. Er hatte den Eindruck, dass seine Eckzähne über Nacht tatsächlich größer geworden waren. Nur, ganz sicher war er sich nicht, denn wann hatte er zum letzten Mal seine Zähne bewusst angeschaut? Da Probleme mit seinem Gebiss bisher ausgeblieben waren, war es für ihn immer eine Art terra incognita geblieben, und kein Schularzt hatte je etwas Auffälliges bemerkt.
Er setzte sich auf den Klodeckel, die tropfende Zahnbürste in der Hand. Eine Weile saß er so da, unfähig sich zu rühren. Deutlich fühlte er eine unheimliche Bedrohung auf sich zukommen.
Plötzlich sprang er auf.
„Ach was, Alter, bange machen gilt nicht!“ rief er und steckte die Zahnbürste in den Mund.
Es klopfte. Seine Schwester rief: „He, Kai, du alte Trantüte! Brauchst du noch lange? Ich muss mal!“
Er beschloss, vorerst niemandem von diesen Veränderungen zu erzählen, noch nicht einmal der Mutter.

2

Vom Sportunterricht in den ersten beiden Stunden ließ er sich, starke Kopfschmerzen vorgebend, befreien. Er setzte sich in das leere Klassenzimmer und machte Hausaufgaben für morgen. Allmählich beruhigte er sich und kehrte vom Alarm- in den Alltagsmodus zurück. Es ist alles halb so schlimm, redete er sich ein, während er versuchte, eine Gleichung mit fünf Unbekannten zu lösen. Das Teil wird wegoperiert, und nach einiger Zeit ist nichts mehr zu sehen.
Doch der gehässige Kobold der Verunsicherung hatte bereits von ihm Besitz ergriffen und gab keine Ruhe. Die Eckzähne... die Eckzähne... raunte es ununterbrochen. Kai hielt noch eine Gleichung durch, dann stand er ergeben auf, fletschte die Zähne und sah sie im Spiegel über dem Waschbecken an. Es schien, als seien die Eckzähne tatsächlich schon wieder größer geworden. Er öffnete den Mund einen Spalt breit und tastete die Zähne mit der Zungenspitze ab. Es fühlte sich ungewohnt spitz an, doch wieder war er nicht sicher, ob das früher nicht auch schon so gewesen und ihm nur nicht aufgefallen war. Oder dass er mittlerweile Gespenster sah.
„Hahaha, was ist denn mit dir los?“
Sein Klassenkamerad und Freund Sören war unbemerkt hinter ihn getreten sah amüsiert Kais Spiegelbild an.
Kai drehte sich um, wieder die Zähne fletschend. „Schau dir mal meine Zähne an“, stieß er undeutlich hervor, „fällt dir da was auf?“
„Schlägerei gehabt?“
„Nee. Nun sag schon! Fällt dir da was auf?“
„Nö, was soll mir da auffallen?“
„Die oberen Eckzähne!“
Sören trat etwas näher an seinen Freund heran. „Ich seh nix, und wo ich nix seh, ist auch nix“, sagte er und grinste vielsagend.
„Sind sie nicht auffällig groß?“
„Mann, kannst du hartnäckig sein! Na ja, ein bisschen stark vielleicht, aber mit solchen Hauern laufen viele herrum. Vielleicht solltest du sie öfter putzen.“
„Scherzkeks!
Die ersten Frühheimkehrer vom Sportunterricht kamen zurück, und sie mussten die Untersuchung beenden.
„Kommst du mit, eine rauchen?“, fragte Sören.
„Nee, hab heute keinen Bock. Ich brauch frische Luft.“

Kai schlenderte über den weitläufigen Schulhof und blieb vor einer Gruppe von Schülern stehen, die zwei Tennisspieler beobachteten. Einige klatschten in die Hände, andere riefen den Spielern anfeuernde Worte zu. Kai ging auf einen der Rufenden zu, einen älteren, ihm unbekannter Schüler, und versuchte, ihm in den Mund zu schauen.
„Was guckst du?“, fragte der verblüfft.
„Ach nur so“, erwiderte Kai.
„Dann verpiss dich!“
Aber Kai hatte genug gesehen. Im Mund dieses Schülers hatten zwei makellos regelmäßige Zahnreihen geglänzt.
Niedergeschlagen schlich er davon und landete schließlich am Schulkiosk, in dem gerade die Hausmeisterin bediente. Die Schüler standen dicht gedrängt in mehreren Reihen, sodass er nicht hören konnte, was die Frau gerade sagte. Jetzt schüttelte sie den Kopf und lachte kurz auf, und da sah er es: Ihre Eckzähne waren deutlich länger und kräftiger als die anderen Zähne. Erleichtert wandte er sich ab und ging in die Toilette, um einen Vergleich anzustellen. Er musste nicht lange in den Spiegel schauen um festzustellen, dass der Vergleich zu seinen Gunsten ausfiel. „Alles im grünen Bereich“, murmelte er, „Sören hat Recht. Es laufen noch mehr Leute mit solchen Hauern herum.“
Wenn da nicht das Stummelschwänzchen gewesen wäre, das wieder zu schmerzen anfing, trotz der weiten Hose.
Gerade verkündete der Schulgong das Ende der großen Pause.

Kai rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Obwohl die Jeans ziemlich weit war und er den Gürtel gelöst hatte, drückte es noch.
„Kannst du nicht endlich mal stillsitzen“, zischte seine Sitznachbarin.
Kai versuchte stillzusitzen und klappte seinen Laptop auf. Vorne dozierte Dr. Hermann mit einschläfernder Stimme über alte Bewässerungssysteme im Irak. Nach einigem Suchen fand er die richtige Seite und den Fachbegriff, der mit A anfing.
Kai las ein paar Zeilen, dann blickte er auf.
Da waren genau die Veränderungen beschrieben, die er an seinem Körper bemerkte, und noch einiges mehr... Und dann diese schrecklichen Fotos...
Unter halb geschlossenen Lidern las er weiter:
Häufig werden Atavismen daher als Missbildung wahrgenommen. Sie zählen, ebenso wie die Rudimente, zu den klassischen Evolutionsbelegen und gelten als Belege gemeinsamer
evolutionärer Vorfahren...
Kai wurde für einen Moment schwarz vor Augen.
...Merkmale bei einem Lebewesen, die bei entfernteren stammesgeschichtlichen Vorfahren ausgebildet waren .. gelten als Belege gemeinsamer evolutionärer Vorfahren...
Er klappte den Laptop wieder zu. Welche Vorfahren waren da gemeint?
Eine rabenschwarze Ahnung stieg in ihm hoch.
Nach der Stunde ging er ins Sekretariat und meldete sich krank. Dann schlich er mit gesenktem Kopf nachhause.

3

Kai sagte, die letzten beiden Stunden seinen wegen Krankheit der Lehrerin ausgefallen. Doch Frau Hufnagel ließ sich nicht täuschen. Zu wenig passte das verstörte Gesicht ihres Sohnes zu der gewonnenen Freizeit. Obwohl sie sich sicher war, dass da etwas gewaltig schief lief, stellte sie keine Fragen.
Auf seinem Zimmer warf Kai seine Sachen in den Schrank und setzte sich vor die Spielkonsole. Bisher hatte ihn an diesen Spielen nicht so sehr das Geschehen fasziniert, sondern die Möglichkeit, die getöteten Monster wieder auferstehen zu lassen, dabei hatte er sich jedesmal wie ein kleiner Gott gefühlt. Doch schon nach wenigen Minuten machte ihm das Töten von Cyber-Monstern keinen Spaß mehr. Ja, er hatte zwischenzeitlich das Gefühl, dass er nicht der Jäger, sondern der Gejagte war. Er nahm sein Matheheft heraus und kritzelte Zahlenkolonnen hinein. Er ließ Nullen und Einsen aufmarschieren wie ein General seine Soldaten. Aus den übrigen Zahlen bildete er feindliche Heere, mit dem Auftrag, die Nullen und Einsen zu eliminieren. Dabei benutzte er einfache Rechenregeln als Waffen, das Radiergummi als Grabschaufel. Anschließend sah die Seite aus wie ein imaginärer Friedhof. Als ihm auch dies zu öde wurde, legte er sich aufs Bett und dachte über das Problem der Primzahlzwillinge nach.
Dieses ungelöste mathematische Rätsel beschäftigte ihn mit Unterbrechungen schon seit Jahren, im Grunde seit der Zeit, als er begriffen hatte, welcher Schatz eine Zwillingsschwester sein kann. Er konnte in der Welt der Zahlen so gründlich versinken, dass er stundenlang, fast ohne sich zu rühren und nur dann aufzustehen, wenn es unbedingt nötig war, die Welt um sich herum vergaß. Deshalb hatte er vorgesorgt: Eine große Flasche Cola light, mehrere Schokoriegel, eine Tüte Popcorn lagen in einem Fach seines Schreibtisches.
Er steckte das Heft wieder weg und zog die Tabellen mit den mathematischen Formeln hervor. Die schmale Mappe enthielt alles, was er wissen musste, um sich eine fantastische Welt zu schaffen. Kai schloss die Augen. Allmählich lichtete sich das Dunkel, und er sah eine unübersehbare Menschenmenge, meist jüngere Leute. Jede dieser Figuren war eine Zahl. Aus dieser Menge ragten die blonden Haarschöpfe junger Mädchen mit dem Gesicht seiner Schwester hervor: Die Primzahlen. Kais imaginärer Blick versenkte sich in die Augen eines dieser Geschöpfe, eine Zahlenfolge erschien. Er öffnete die Augen, ergriff die Tabelle und sah nach: Es war eine fünfstellige Primzahl. Er irrte sich selten. Wie er das schaffte, wusste er selbst nicht. Es war ihm gegeben wie anderen Leuten das Hellsehen oder die Fähigkeit, Wasseradern zu finden. In der Schule galt er als Mathe-Ass; der Mathematiklehrer hatte vor dem gesamten Leistungskurs erklärt, dass sich Kai Hufnagel im abstrakten Zahlenraums besser zurechtfinde als er.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Kai Angst gehabt, abartig zu sein.Während andere Jungen in seinem Alter zum Teil schon mit festen Freundinnen gingen, waren die einzigen nichtfamiliären weiblichen Geschöpfe, denen er bisher nähergetreten war, diese imaginären Primzahl-Schwestern. Doch dann hatte ihm der Schulpsychologe gesagt, jeder Mensch sei eben anders, und die menschliche Gesellschaft lebe von der Vielfalt der Veranlagungen. Da hatte er sich beruhigt und nicht weiter darüber nachgedacht. Doch jetzt, in dieser Situation, stürmten diese Selbstzweifel wieder auf ihn ein.
Von innerer Unruhe getrieben, setzte er sich wieder vor die Spielkonsole. Doch trotz aller Versuche, cool zu bleiben und an etwas anderes zu denken, gab der Kobold in seinem Kopf nicht auf. Unablässig raunte er: Du bist ein Monstrum – Atavismus – Affe – Monstrum – Affe...
Endlich hielt er es nicht mehr aus. Um sich Mut zu machen, rief er: „Scheiße! Ich bin doch kein Weichei und stecke den Kopf in den Sand wie ein kleines Kind? Nächstes Jahr mache ich meinen Führerschein!“
Er ging in den Flur und stellte sich vor den Spiegel.
Der gekrümmte Steißbeinauswuchs hatte mittlerweile die Länge eines ganzen kleinen Fingers erreicht. Und es ließ sich jetzt auch nicht mehr darüber hinweg sehen, dass die Eckzähne zu richtigen Hauern geworden waren. Sein Blick glitt tiefer, und er zwang sich, genau hinzuschauen. Auf seiner bisher knabenhaft glatten Brust entdeckte er ein paar schwarze, borstige Haare. Auch schien etwas mit dem Unterkiefer nicht zu stimmen. War das Kinn nicht auch länger geworden?
Kai setzte sich auf den Hocker neben dem Spiegel. „Alter, verlier jetzt nicht die Nerven“, murmelte er mit pochenden Schläfen, „es besteht immer noch die hauchdünne Möglichkeit, dass die Wirklichkeit der Traum ist.“ Jetzt entsann er sich eines Traums, den er kurz nach dem Tode der Großmutter, seiner geliebten Oma Hannah, geträumt hatte. Sie hatte ihm, die Pfanne der einen, die Schüssel mit der Blaubeersuppe in der anderen Hand, Kartoffelpuffer serviert, sein Lieblingsgericht. Damals empfand er es als völlig abwegig, dass die Großmutter gestorben sein sollte, wie ihm die Mutter noch im selben Traum erklärte. Er hatte die Mutter wegen dieser absurden Behauptung sogar böse angeblickt. Der Traum war so real gewesen, dass er zunächst angenommen hatte, er sei jetzt, nach dem Aufwachen, erst eingeschlafen.
Ein Traum war jetzt der Strohhalm, an den er sich verzweifelt klammerte.
„Ich schlafe, ich träume“, murmelte er, „Oma Hannah, hilf! Oma Hannah, sag, dass ich träume!“
Doch all das beschwörende Gemurmel nutzte nichts. Die schwarze Wolke, die ihm heute morgen schon Angst eingejagt hatte, kam wieder auf ihn zu. „Nein, nicht!“, rief er, „ich habe doch noch gar nicht richtig gelebt!“
Er schlich in sein Zimmer, legte sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf.

*

Kai erwachte durch das Klopfen an der Tür. Durch den Türspalt leuchtete ihn die blauen Augen seiner Schwester an.
„Darf man hereinkommen?“
Noch bevor Kai antworten konnte, saß sie schon neben ihm auf der Bettkante.
„Mama sagt, dir geht es nicht gut. Was ist denn los, mein Kleiner?“ Sie war noch in Reitklamotten und Reitstiefeln. Der 'Kleine' war überhaupt nicht ironisch gemeint, obwohl sie die Kleinere war. Es war der Ausdruck schwesterlicher Zuneigung. Die beiden verstanden sich gut, vielleicht auch deshalb, weil sie Zwillinge waren.
„Ach, es ist nichts“, wehrte Kai ab.
„Liebeskummer?“
„Was ist das denn für´n Onk?“
„Mir kannst du es doch sagen! In diesen Dingen kenn´ ich mich aus.“
„Nee, Fehlanzeige.“
„Könnte doch sein, oder? Wer so aussieht wie du, hat meistens Liebeskummer. Und das passende Alter hast du.“
„Quatsch.“ Kurz darauf: „Wie seh ich denn aus?“
„Wie ne ausgequetschte Zitrone.“
Kai atmete erleichtert auf. „Nein, da ist wirklich nichts. Ich fühl mich nur ein bisschen dusselig in der Birne. Was ich jetzt brauch ist Ruhe.“
Sybille berührte ihren Bruder am Arm. „Erzähl mir nichts, du hast doch was. Deinem Schwesterchen kannst du es doch sagen. Ich verrate auch nichts.“
Kai schwieg.
„Nun komm schon! Spuck´s aus!“
Kai fuhr auf. „Herrgottnochmal, kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen? Außerdem stinkst du nach Stall!“
Sybille zog einen Schmollmund und stand auf. „Na schön. Wer nicht will, der hat schon.“

4

Die Hufnagels nahmen ihre Hauptmahlzeit abends ein, meist so gegen neunzehn Uhr. Herr Hufnagel saß diesmal nicht mit am Tisch; er hatte sich mit der Begründung entschuldigt, er habe noch Kundschaft.
Zum Erstaunen von Mutter und Schwester erschien Kai pünktlich und in aufgeräumter Verfassung. Während des Essens plauderte er munter drauflos; er erzählte, dass Frau Sowieso seit Wochen via Internet gemobbt werde und angeblich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehe, dass eine Unterrichtsstunde bei Dr. Hermann zehn Stunden Tiefschlaf ersetze und ähnliches krauses Zeug. Dabei aß er mit gutem Appetit, der Kummer hatte ihn hungrig gemacht. Dieser Mitteilungsdrang war zu unmotiviert, um echt zu wirken. Die beiden Frauen tauschten besorgte Blicke.
Auf einmal lachte Sybille laut auf. „Mann, Kai, rief sie, „wann hast du das letzte Mal in den Spiegel geschaut?“
Kai erbleichte. „W-wieso... was ist denn?“, stotterte er, wie vom Donner gerührt.
„Ja hast du es denn noch nicht gesehen? Du kriegst einen Bart! Mama, jetzt haben wir zwei echte Männer im Haus!“
Kai stand auf, lief ins Badezimmer und blickte in den Spiegel.
Über der Oberlippe lag ein dunkler Schatten. Er wollte sich schon beruhigt abwenden, da sah er, dass sich der Schatten über den Mund hinaus bis in die Wangen hinein zog. Im Vergrößerungsspiegel erkannte er: Auch da wuchsen Haare. In böser Vorahnung riss er sich das Hemd vom Leib. Brust und Rückten waren von einem Flaum feiner, dunkler Härchen bedeckt. Unter der linken Brustwarze war ein kleiner, dunkelroter Fleck.
Eine überzählige Brustwarze... Sie und die Behaarung waren auf der Internetseite zu sehen gewesen...
Er fühlte sich, als sei er mit dem Kopf in voller Wucht gegen eine Mauer gerannt. Fast betäubt taumelte er in sein Zimmer, warf sich bäuchlings aufs Bett und steckte den Kopf unter die Kissen. Dann begann er, hemmungslos zu schluchzen.
Er gab sich keinen Illusionen mehr hin. Seine Verwandlung in einen Affen schritt zügig voran.
Bald schlief er, ermüdet von Kummer und Gram.
Als die Mutter am anderen Morgen nach ihm schaute, zeigte er ihr, was zu zeigen war.

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Die Schule verlangte nach dreitägiger krankheitsbedingter Abwesenheit ein Attest. Auch wenn man diese Frist verstreichen ließe, dem Familienrat war klar: Lange würde sich Kais Zustand nicht mehr verheimlichen lassen. Da Kai sich weigerte, sein Zimmer zu verlassen, wurde der Hausarzt hergebeten.
Dr. Nolte löste sich aus seiner Verblüffung und schüttelte den Kopf. „Ein einmaliger Fall“, sagte er. „Soweit ich weiß, ist eine derartige Anhäufung von ausgeprägten Atavismen bei einem Menschen noch nicht beschrieben worden. Gewöhnlich sind sie auch weniger stark ausgeprägt und fallen im Alltag, nach entsprechenden operativen Eingriffen, kaum mehr auf. Stark behaarte Männer sind übrigens keine Seltenheit, und kaum jemand käme gleich auf die Idee, hier einen Atavismus zu sehen.“
„Kann das mit diesen verdammten Computerspielen zusammenhängen?“, fragte Herr Hufnagel. Auf einmal wurde er laut. „Wie oft habe ich ihm gesagt, er soll die Finger davon lassen!“, rief er, „das ist Teufelszeug! Aber er konnte ja wieder einmal nicht hören!“
„Papa, das ist doch Unsinn, was du da erzählst“, sagte Kai, „dann müsste es doch noch andere Jugendliche wie mich geben.“
Der Doktor betrachtete Kais Hand mit den überlangen Fingern und dem kurzen Daumen, die Hand eines Baumhanglers. „Da hat Ihr Sohn zweifelsohne Recht, Herr Hufnagel“, sagte er, „solche Veränderungen kommen nicht von außen, sondern von innen.“
Jetzt rang die Mutter die Hände. „Aber was ist denn mit ihm?“, rief sie, „das ist doch alles nicht zu begreifen!“ Sie warf sich über Kai und bedeckte seine behaarte Stirn mit Küssen.
„Es gibt viele Dinge, die auch wir Mediziner nicht erklären können“, erwiderte der Doktor ernst. „Es bleibt uns nur, sie staunend zu akzeptieren.“ Es war dem Doktor anzuhören, wie nah ihm das alles ging. „Ich werde eine Überweisung in das Universitätsklinikum ausstellen, möglicherweise wissen die dort ja mehr als ich.“

Sie operierten ihm den Stummelschwanz weg, ein Krankenpfleger rasierte ihn zweimal in der Woche Gesicht, Hals und Hände, in der Zahnklinik deutete man die Bereitschaft an, das Gebiss zurückzusetzen, sagte aber auch, dass dies eine lange und schmerzhafter Prozedur sei, erst müsse man die weitere Entwicklung abwarten. Tags darauf, in der Chirurgie, nachdem man den Patienten eine Weile bestaunt hatte, sagten sie, ja, das ginge, man könne den Daumen verlängern oder, wenn es nicht anders ginge, durch einen künstlichen ersetzen, auch die langen Arme könne man verkürzen, das sei heutzutage schon Routine, aber man wolle doch erst die weitere Entwicklung abwarten...

*

„Es gibt also keine Hoffnung mehr?“, fragte Kai. Seine Worte waren kaum zu verstehen und erinnerten wie das Bellen eines kleinen Hundes.
Der Professor hatte zu einem Konsilium in Anwesenheit der Eltern geladen.
„Hoffnung gibt es immer, junger Mann, solange das Herz noch schlägt.“
Prof. Neumann überlegte eine Weile, bevor er weitersprach. „Ich will Ihnen angesichts des Ernstes der Lage, in der Sie sich befinden, reinen Wein einschenken. Mit vertröstenden Floskeln ist Ihnen am wenigsten gedient. Ihre Verwandlung in ein affenähnliches Wesen wird weiter voranschreiten. Schon jetzt sehen wir Merkmale, die für Menschenaffen typisch sind, etwa das prognathe Gebiss, die überlangen Arme, die Zurückbildung des Daumens, die dichte Körperbehaarung, die stark fliehende Stirn, um nur die auffälligsten zu nennen. Dieser Prozess ist meines Erachtens nicht mehr umkehrbar, davon bin ich überzeugt. Fragt sich nur, wie weit er voranschreitet.“
Frau Hufnagel schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
„Verdammt nochmal“, brauste ihr Mann auf, „wollen Sie und erzählen, dass Kai in einem Affenkäfig landet?“
„Ich will Ihnen gar nichts erzählen“, erwiderte der Professor leicht irritiert, „ich wollte nur andeuten, in welche Richtung sich Kais zukünftiges Leben bewegen wird. Und wer sagt Ihnen denn, dass Kai als Menschenaffe nicht genau so glücklich sein wird wie als Mensch? Oder, da sein Geist weniger anspruchsvoll sein wird, zufriedener? Wir dürfen jetzt auf keinen Fall den Kopf in den Sand stecken und tatenlos zusehen.“
Herr Hufnagel räusperte sich. „Was stellen Sie sich vor?“
„Zunächst muss Kai von der Öffentlichkeit streng abgeschirmt werden. Nicht auszudenken, wenn irgendein Paparazzi von der Sache Wind bekommt. Dann müssen wir uns nach einem geeigneten Lebensraum für ihren Sohn umsehen. Ich will Ihnen dabei gerne behilflich sein. Ihn wegzusperren oder in die Obhut eines Zoos zu geben kommt nicht infrage und wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.“ Er sah seinen Kollegen, der bisher noch nichts gesagt hatte, fragend an. Der nickte. „Und dann ist da noch die Versicherungsfrage“, fuhr der Professor fort. „Ich befürchte, lange wird Ihre jetzige Krankenversicherung nicht mehr mitspielen. Machen Sie sich auf zähe Verhandlungen, möglicherweise sogar vor Gericht, gefasst. Sollte es dazu kommen, stehe ich als Gutachter gerne zur Verfügung.“

6

Die Feder des Berichterstatters ist zu schwach, um das Drama zu schildern, das sich während Kais Verwandlung in der Familie abspielte. Deshalb hat er dazu bisher auch nur sehr wenig mitgeteilt. Richtig berichtet würde es Bände füllen. Er beschränkt sich deshalb darauf, in wenigen Sätzen das zu erwähnen, was ihm noch erwähnenswert erscheint.
Zunächst einmal: Der Professor behielt Recht. Schon nach einem halben Jahr weigerte sich die Krankenversicherung, nachdem ein interner Gutachter lange vor Kais Käfig gestanden und eifrig auf seinem Laptop herumgeklappert hatte, die Kosten für die 'Chimäre' Kai Hufnagel zu übernehmen. Sie empfahl den Abschluss einer Krankenversicherung für Hunde. Nun gingen Gutachten hin und her – auch diesen Streit nur ansatzweise zu schildern weigert sich der Berichterstatter, denn er ist zu unerfreulich. Nur so viel: Bisher ist weder von der einen noch von der anderen Versicherung eine Zahlung erfolgt, obwohl der Patient bereits verstorben ist.
Dem Berichterstatter erscheint aber einen Vorfall erwähnenswert, weil dieses Ereignis schlaglichtartig die seelische Verfassung beleuchtet, in der sich Kais Eltern befanden. Kurz nachdem Kai seinen neuen Lebensraum bezogen hatte, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten. Frau Hufnagel bestand darauf, Kai wenigstens mit Hose und Hemd zu bekleiden, auch wenn er den Blicken der Leute entzogen sei. Das gebiete schon der Anstand, meinte sie, außerdem sei er immer noch ihr Sohn. Herr Hufnagel, aufs äußerste gereizt, hieb mit der Faust auf den Tisch und fauchte: „Diese Familie bringt mich noch um! Wenn es mit ihm schon so weit gekommen ist, dann gönne ihm doch wenigstens die natürliche Würde eines Affen!“
Der Berichterstatter verzichtet auch darauf, Kais neues Lebensumfeld zu beschreiben. Er teilt lediglich mit, dass sich Kai darin offensichtlich wohl fühlte und einen ausgeglichenen und zufriedenen Eindruck machte. Seine Mutter besuchten ihn zwei- oder drei Mal, dann war sein Anblick auch für sie unerträglich. Lediglich Sybille kam regelmäßig; sie hielt Kais Hand, die er ihr durch das Käfiggitter entgegenstreckte, und sie unterhielten sich in einer Sprache, die nur sie beide verstanden.
Kai Hufnagel starb mit siebenundzwanzig Jahren eines natürlichen Todes in der Gestalt eines Bergschimpansen. Sein Wärter und Freund fand ihn eines Morgens tot kopfüber in einem Klettergerüst hängend.
Er wurde unauffällig in einem Waldfriedhof begraben. Ein kleines Holzkreuz mit Namen, Geburts- und Sterbetag erinnerte noch einige Zeit an seine irdische Existenz. Dann verfiel das Kreuz, und bald war Gras über die Stelle gewachsen.
 

Amave

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Eine schöne, ansprechende Erzählung, sprachlich gut gemacht und trotz der Thematik (Abweichung von der Norm, Mutation, Schicksal Gendefekt...) amüsant geschrieben, - das Rhinozeros lässt grüßen, oder auch das Känguruh. In der Mitte hat es möglicherweise ein paar Längen. Aber das wäre nur ein Kleinigkeit, die zu kritisieren wäre. Die Geschichte ist wirklich klasse!
 



 
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