Die Wahrheit über Aschenputtel

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Hagen

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Die Wahrheit über Aschenputtel



Nach drei Bieren vertiefte sich meine 'Scheißegallaune', weil mir der dünnlippige Assistent des Personalchefs mit feistem Grinsen erzählt hatte, dass mein Arbeitsplatz wackeln würde. Und nun saß ich ganz allein in meiner Stammkneipe.

Zudem hatte ich Herrn Doktor Krüger, meinen Mitbewohner, seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Er wohnte zwar bei mir, aber wenn er keine Schicht hatte, war er bei einer Nachtschwester Ingeborg.

Aber egal, das Leben ist nicht anders.

Nach einem weiteren Bier fand ich das Mädchen am Ende der Theke schon mal recht hübsch, und als sie zu mir herüber lächelte, orderte ich ihr 'nochmal dasselbe' – sie hatte etwas bräunlich-trübes in Glas und Blick.

Egal, ich bestellte mir noch ein Bier und sah das Mädchen an, 'Schöntrinken' nennt sich sowas. Seltsamerweise werden gewisse Mädchen mit jedem Glas schöner, aber in den seltensten Fällen wissen die Mädchen das, sie schieben die Wirkung des Alkohols auf ihre Persönlichkeit und sind dann entsetzt, wenn der Kater am Morgen die Pseudoschönheit verdrängt.

Als ich mir den Schaum von der Lippe wischte, kam das Mädchen herüber und rutschte auf den freien Hocker neben mir.

„Hallo Alter“, eine Zigarettenpackung klatschte neben mein Bierglas, ihr Glas mit dem bräunlich-trüben Inhalt folgte, „haste mah' irgendwie Glut, ey?“

„Klar“, ich ließ mein Feuerzeug aufblinken, „und sonst?“

„Naja, es geht irgendwie so.“

Sie sog so tief an der Zigarette, dass die Glut sichtbar gesichtswärts knisterte, ihre Wangen fielen dabei noch etwas mehr ein. Zusammen mit den Augen, die unzählige Nächte im Bierdunst tief in die Höhlen gedrückt hatten, wirkte ihr Gesicht diesen Atemzug lang wie frisch beerdigt.

Möglicherweise war sie die Frau, die ich suchte; - fast kaputt, und niemand würde sie vermissen, sie könnte mir helfen, meinen Job zu retten.

Wie die Wehrmacht damals bei der Ardennenoffensive startete ich einen verzweifelten Versuch.

„Haste Geld? Wie schiebste denn die Kohlen ran, ey?“, drang ihre Stimme in Begleitung einiger Rauchschwaden zu mir.

„Materietransmitter“, sagte ich.

„'is 'n das, ey?“

„Geräte, mit denen man Materie, auch Menschen, an jeden Punkt der Erde senden kann; - und in jede Zeit!“

„Sowas gibt's echt ey?“

„Sowas gibt's!“

„Und das machst du echt?“

„Das mache ich, echt – ey.“

„lst ja irgendwie geil, ey.“

Ihre Zunge wurde langsam schwer, genau wie ihre Augenlider und die Zigarette zwischen ihren Fingern. Sie bekam Probleme, die Asche abzustreifen, sie traf noch nicht mal den Aschenbecher dabei.

„Meinst du nicht, dass du genug hast?“, fragte ich vorsichtig.

Sie sank über ihrem Glas zusammen und ein leises Lachen schüttelte ihre Schultern.

„Genug? – Ich hab' nie genug, ey – es gibt ja total genug von Allem, Alter!“

„Davon bin ich aber nicht überzeugt.“

„Ach, von jedem Scheiß gibt es doch genug! Du brauchst dich doch nur mal ganz spontan umdrehen! Brauchst Hasch, Koks oder Gift? Der Typ dahinten hat es.“

„Ach, das meinst du. Danke, nein. Ich muss morgen wieder arbeiten und Leistung bringen, ich brauch' meinen Job. Außerdem reicht mir die Droge Alkohol.“

„'is aber echt geil, son Trip – außerdem kannst'e sogar morgen tot sein, ey!“

„Und wenn ich nun nicht tot bin? - Nee, lass man.“

Ich zog meine Geldbörse.

„Ey, wo will'st 'n hin, Alter? Willst' dich abhängen?“

„Ich wollte eigentlich nach Hause.“

„Mein' ich doch, ey! Nimmst' mich mit?“

Ich nickte: „Wie heißt'n du?“

„Wiebke“, sagte sie und kam mit zu mir, kochte sich einen Trip auf und erzählte von ihren Entziehungskuren – rein ins Trockendock, clean wieder raus – die alte Umgebung, die alten Freunde, und die hatten den Stoff – es gab genug davon – leider gibt es kein Füllhorn mit Injektionsnadel – sie nahm ihr altes Leben wieder auf.

„Ich müsste verschärft dahin, wo es kein Gift gibt“, sagte sie langsam, „wo der Stoff absolut unbekannt ist, und wo mich keiner kennt – dann kann ich's echt packen, davon loszukommen...“

„Und wenn ich dir diese Chance gebe?“

Das Mädchen sah mich an, lachte und setzte sich den Schuss, sie tat mir keine Spur leid.

Ich legte mir die Sinfonie Nr. 9, die mit dem Schlusschor über Schillers Ode „An die Freude” vom guten alten Ludwig van in den CD- Player und setzte mich noch eine Weile an den Computer, wollte eine Love-Story schreiben, aber meine Motivation reichte nur, einige Dateien aufzuräumen.

Wiebke dämmerte langsam in irgendwelche Gefilde; - früher musste sie mal schön gewesen sein, aber jetzt...? Wie der von den Panzerketten der Sucht zerwühlte Boden eines Kriegsschauplatzes.

Sie bemerkte nicht, wie ich sie an die Bettkante rollte um genügend Platz zum Schlafen zu haben.

Sie lag noch da, als ich am Abend aus der Firma nach Hause kam, sie hatte sich an der gleichen Stelle zusammengerollt und fühlte sich elend.

„Mädchen“, sagte ich zu ihr, während ich meine Jacke aufhängte, „ich hab' es! Du wirst so clean, wie du willst!“

„Ach, du Scheiße.“

Ihre Zunge war wieder schwer, sie hatte sich über meinen guten Whisky hergemacht.

„Ich erzähl' dir keinen Blödsinn! Was meinst du, wie lange wirst du brauchen, um clean zu werden? Ein Jahr? Zwei?“

„Gib' mir erst mal eine Zippe, ey! Finde ich total mies von dir, mich hier so abhängen zu lassen.“

„Ach, da habe ich nicht dran gedacht“, ich gab ihr meine Zigarettenschachtel, „was meinst du? Willst du wirklich clean werden?“

„Klar will ich das! 'müsste mal raus, auf einen Bauernhof oder so, da könnte ich dann langsam von runterkommen.“

„Langsam abbauen bringt es nicht, in keinem und keinstem Falle! Du musst voll rein springen! Willst du das?“

Ihre Augen wurden schmal, als sie an der Zigarette sog, ich blieb dran: „Ich bringe dich dahin, wo es keinen Stoff gibt, dafür aber jede Menge gute, gesunde Luft, und dich kennt garantiert niemand.“

„Bei meinem Pech treffe ich korrekt am ersten Tag 'n Junkie!“

„Es gibt da garantiert keine Dealer!“

„Wo soll 'n das sein, ey, in welcher Kiste'?“

„Hier! Allerdings sagen wir mal, sechshundert Jahre zurück! Du kannst auch ein bisschen mehr in den Süden, wenn du willst, allerdings sollten wir im deutschsprachigen Raum bleiben.“

„Ey, du willst mich wohl mit deiner komischen Beame konkret irgendwo hin beamen! Nee, Alter, das läuft nich', is total Sense!“

„Okay, wie du willst.“

Ich goss mir ein Glas Whisky ein, mischte ihn mit etwas Wasser und trank genüsslich, „du hattest ja schon genug!“

„Im Notfall kann ich auch konkret so runterkommen, sogar absolut subito.“

Fröstelnd zog sie die Bettdecke um die Schultern, lag eine Weile ruhig und sagte dann: „Ich brauchte heute eigentlich nur 'ne halbe Halbe, um nicht total auszurasten, und morgen ziehe ich das dann ernsthaft durch, dazu brauche ich deine Scheißbeame nicht, echt nicht, Alter. Ey, Alter, klar?“

„Naja, wenn du meinst“, ich zuckte die Achseln, „wenn du Morgen mitkommst in meine Firma, bekommst du heute deine, wie sagtest du noch gleich, halbe Halbe?“

Wie auf ein Stichwort sprang sie auf und zog sich an.



Mein Boss verdrehte erst mal die Augen, sah mich vorwurfsvoll an, als ich Wiebke am nächsten Tag anschleppte und reichte sie an den Betriebspsychologen weiter.

„Sowas“, sagte mein Boss, „hatte ich mir eigentlich nicht vorgestellt, als ich Sie bat, sich doch mal nach einer Versuchsperson umzuschauen.“

„Ich weiß nicht, was Sie sich vorgestellt haben, aber wie ich das mitbekommen habe, sind wir ziemlich in Druck, weil sich niemand freiwillig zur Verfügung stellt, erstmalig durch unseren Chronos zu gehen; - ich darf ja nicht. – Wir müssen aber Probeläufe nachweisen, weil wir das Ding sonst nicht verkaufen können! Wenn wir diese Frau aus irgendeinem Grunde während der Prüfung verlieren, wird sie kaum jemand vermissen. Nichts desto trotz werden wir natürlich alles Menschenmögliche versuchen, dass sowas nicht passiert; - aber Sie wissen ja: Der Teufel steckt im Detail.“

„Und wie haben Sie sich das jetzt vorgestellt?“

„Wir geben ihr einen Peilsender, schicken sie in ein ruhiges Jahr im Mittelalter und beobachten sie. Sie hat selber den Wunsch geäußert, clean zu werden und auf einem Bauernhof zu arbeiten. Ich halte es für das Beste, sie für ein Jahr oder zwei auf sich alleine gestellt dort zu lassen. Sie wird tüchtig malochen müssen, aber weil es im vierzehnten Jahrhundert zum Beispiel keine Drogen im heutigen Sinne gab, hat sie eine berechtigte Chance, und es wird für sie kaum möglich sein, in die Geschichte einzugreifen.“

Es war ein gutes Zeichen, dass mein Boss sich einen Cognac einschenkte, ich hob abwehrend die Hand, als er mit der Flasche auf mich zeigte.

„Wie haben Sie sich die Sache mit dem Peilsender vorgestellt?“, fragte mein Boss, „wir müssen schließlich ständig wissen, wo sie ist. Eine Transmittersonde werden wir ihr kaum mitgeben können.“

„Stimmt. Zudem wird sie mit einer Sonde kaum umgehen, geschweige denn unauffällig im Mittelalter leben können. Nein, ich dachte daran, ihr lediglich einen Mikrosender mitzugeben, und zwar im Schuh! Sie wird nichts davon merken.“

„Da sollten wir ihr doch lieber einen Sender implantieren, für den Fall, dass sie den Schuh wegwirft oder verkauft, oder was auch immer.“

„Boss, ich glaube kaum, dass sie mit einer Implantation einverstanden sein wird.“

„Dann machen wir es eben heimlich.“

„Damit sie einen Grund hat, uns wegen Körperverletzung zu verklagen? Junkies pflegen aus allem Kapital zu schlagen, ich jedenfalls bin strikt dagegen!“

„Hm“, mein Boss legte seine Stirn in Falten, „aber stellen wir uns mal vor, sie wird ausgeraubt und jemand anders rennt mit ihren Schuhen durch die Gegend. Dann holen wir eventuell eine fremde Frau aus der Vergangenheit herein, und finden unsere Versuchsperson nie wieder!“

„Stimmt!“ Ich zündete mir eine Zigarette an, „wir müssen natürlich eine Kennung einbauen. Wie Sie wissen, sind die Abdrücke auf den Fußzehen genauso charakteristisch wie Fingerprints. Die Zehenprints nehmen wir einfach als Kennung. Wir merken dann sofort, wenn jemand anderes die Schuhe trägt. Sicherheitshalber könnten wir sie auch mit zwei Paar Schuhen ausrüsten, für den Fall, dass ein Paar schnell verschlissen ist. Wir sollten ihr ohnehin noch einen Satz Zeug und etwas Geld mitgeben für die erste Zeit, damit sie nicht ganz auf dem Schlauche steht.“

Mein Boss kippte seinen Cognac:

„Wenn das schief geht“, sagte er, „wird man Sie schlachten, mein Lieber! Wir müssen aber erst abwarten, was unser Psychofritze dazu sagt.“

Der Betriebspsychologe legte ein Gutachten mit vielen Fremdwörtern vor, aus dem hervorging, dass er der Ansicht war, dass wir es riskieren könnten, und ich richtete die Schuhe her.

Normale Bundschuhe für den Alltag und ein paar hübsche, damit sie auch mal tanzen gehen könnte. Die guten Schuhe wirkten wegen der Solarzellen für die Batterien wie aus Glas, aber Wiebke fand die Dinger 'total geil'. Hoffentlich fiel das in der Vergangenheit nicht auf!

Die Bundschuhe machten mir allerdings mehr Schwierigkeiten, denn vor rund sechshundert Jahren trug man Schuhwerk, das aus einem dünnen Stück Leder zusammengenäht und mit Bändern zusammengehalten wurde, diese 'Schuhe' besaßen keine Sohle, in der ich den Sender hätte verstecken können, aber die Bänder boten sich als Antennen mehr als an.

Unser Chemikus schließlich baute uns die Bundschuhe aus strapazierfähigem Kunstleder, er machte die Stellen unter den Füßen so dick, dass ich Kennung und Sender einbauen konnte. Sodann ließ ich etwas Geld nachmachen und Kleider nähen.

Als der große Tag kam, Wiebke in die Vergangenheit zu flippen, stieg ein ganz normales Bauernmädchen, gewandet in ein langes, derbes, faltenreiches Kleid aus dem Mittelalter auf das Receiver-Slab unseres Transmitters und wühlte in ihrem Bündel mit Ersatzkleidern.

Ich hatte schon einen Aschenbecher vollgeraucht, während ich Transmitter und Sonde überprüft und vorbereitet hatte.

Der geballte Optimismus, den alle verströmten, lag mir quer im Magen. Ich hielt es lieber mit dem großen El Murphy, der die Behauptung aufgestellt hatte: Wenn etwas schief gehen kann, dann geht es auch schief.

Die Kamerasonde hatte ich schon in das Jahr 1389 zurückgeschickt, sie hing dort in einem Gebüsch getarnt und überwachte einen Weg und einige irgendwelche Blüten umgaukelnde Schmetterlinge.

Eine richtige Idylle. Kein Mensch war zu sehen, nur ein paar Häuser, etliche Kilometer entfernt. Das Sondenmikrophon übertrug Grillenzirpen und leises Vogelgezwitscher, möglicherweise eine Lerche irgendwo im Blau des Himmels. Ich drehte das Bild auf dem Monitor dunkel und den dazugehörigen Ton leise. Wiebke sollte nicht wissen, dass wir sie beobachten konnten, sie hätte sich spätestens, wenn sie am Abend die ersten Entzugserscheinungen gekriegt hätte, wieder einflippen lassen.

Meine Kollegen, die mit mir an dem Chronos gearbeitet hatten, und die sich allesamt als Murphologen bezeichneten, seilten sich ab, als sie mitbekamen, dass sich das Management unserer Firma zum Zwecke des 'Klugscheißens' zu dem Versuch einfinden würde. Fräulein Müller-Finkelbaum war auch da, verteilte Tassen und schenkte Kaffee aus, als ich drankam, war der Kaffee alle.

Der Einfallsreichtum der Herrn Kollegen war ebenso kreativ wie bemerkenswert: von 'Resturlaub nehmen, um die bedauerlicherweise gerade gestern während absoluter Windstille gekenterten und gesunkenen Jolle zu heben', über 'Einweckgläser von der Oma holen', bis 'die verbogene Reckstange richten, wozu man als Gerätewart des Firmensportvereins ja leider verpflichtet ist‘, reichte der Katalog der Ausreden.

„In welches Jahr schicken Sie die Versuchsperson?“, fragte irgendjemand.

„1389“, antwortete ich, „15. August.“

„Wieso gerade 1389? Und wieso 15. August?“

„Der 15. August war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein warmer Sommertag. Weil das Jahr 1389 im Mittelalter liegt und zudem in diesem Jahr der Landfriede zu Eger geschlossen wurde, können wir davon ausgehen, dass es in diesem Jahr sehr ruhig gewesen ist. Wir wollen ja nicht, dass unsere Wiebke in einen Krieg gerät, oder?“

„Natürlich nicht. Ein Krieg könnte die gesamte Mission gefährden. Haben Sie sich auch über Krankheiten informiert, Pest oder so?“

„Darüber konnte ich nichts in Erfahrung bringen, es dürfte in dem Jahr hier dahingehend nichts los gewesen sein.“

„Besteht auch nicht die Gefahr, dass die Versuchsperson als Hexe verbrannt wird?“

„Da müsste sie sich schon ganz entsetzlich dämlich anstellen! Wie Sie wissen, begann die berühmte spanische Inquisition erst 1478. Gregor IX stellte zwar von 1231-1233 die Regelung der kirchlichen Inquisition auf, aber die griff erst viel später, der berühmte 'Hexenhammer' schlug ja auch erst 1487 zu. Zudem gingen die ersten Verbrennungen hier in Bremen erst im fünfzehnten Jahrhundert los. Wir können also mit relativer Ruhe in die Vergangenheit blicken! Wenn die Dame nicht klaut, denn dann kann es ihr passieren, dass sie lebendig begraben wird, sollte eigentlich nichts schief gehen. Sonst alles klar, Wiebke?“

„Nein, ey“, sagte sie und stieg vom Slab, „ich gehe nicht! Cut! Totaler Cut! Absolut Sense!“

„Wieso nicht? Du hast deine Ausrüstung, du hast unterschrieben, du gehst, verdammt nochmal!“

„Ich gehe nicht, Alter! Ich habe keine Tampons! Wenn Typen schon mal eine Ausrüstung zusammenstellen, is' ja echt ätzend ey.“

„Tja, mein Lieber“, sagte mein Boss, „wenn das so weiter geht…“

Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als den Vorwurf weiterzugeben: „Der Doktor meinte, sie würde! Aber bevor wir uns hier in Grundsatzdiskussionen verstricken, könnte mal jemand in die Kantine gehen und Tampons holen, hoffentlich haben die da sowas.“

Fräulein Müller-Finkelbaum warf mir einen bitterbösen Blick zu und rannte los, glücklicherweise kam sie mit drei Päckchen Tampons wieder, „mehr war leider nicht da, Größe normal, ich hab's auf Kostenstelle schreiben lassen, zwanzigsiebenundneunzig für die drei Päckchen.“

„Was? So wenig ey?“

Wiebke machte ein entsetztes Gesicht:

„Damit komme ich aber nicht hin, das sind ja nur hundertzwanzig Teile, ey! Wie habt ihr Zombies euch das eigentlich vorgestellt ey? Die ganze Sache hier ist sowieso totaler Beschiss, Technoscheiß, echt wahr, technisches Gewichse und so, kannste mir absolut glauben, ehrlich, echt, könnt ihr knicken, die Aktion, stumpf abhaken, ey!“

Einer der Bosse hielt einen kleinen Vortrag, von wegen Vertragserfüllung und so, und der Psychologe appellierte an das soziale Bewusstsein in Form von wenigstens teilstrukturierter Einhaltung der Erwartungshaltung im situativen Handlungsinventar, er schlug eine operante Therapie mit Komplexreizen vor, um eine finale Aktivation bei der Versuchsperson zu erreichen.

„Was mosert der abgefuckte Muffkaiser da, ey? Das ist ja voll die Endhärte! ls' der total ausgerastet, oder was, ey? ls' ja echt ätzend!“

„Der Muffkaiser ist unser psychologischer Oberguru“, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an, „willste auch 'ne Flippe?“

„Klar, Alter, bevor ich total abdrifte, bei den Spaßguerillas hier.“

Ich gab ihr eine Zigarette und fuhr fort: „So, und nun stell' deine schlappen Lauscher mal auf Empfang! Du hast uns bisher so viel Kosten verursacht, dass du dein Leben lang ablöhnst, wenn du jetzt hier einfach so die Biege machst! Quirl' das mal eben durch deine Gedanken, aber lass' mit einfließen, dass du mit deinem verschärften Durchcheck aus unseren Tagen in der guten, alten Zeit den ganz großen Breiten machen kannst! Geschnallt, Alte, ey?“

„Ey, Alter, du kannst ja auch normal reden! 'find' ich ja verschärft affengeil! Warum kommst' 'n nich' irgendwie mit ey?“

„Hab' mich ganz cool auf die Anlage hier eingeflippt, damit dich keiner bustet inner Vergangenheit, das musste mah' dialektisch sehen, ey.“

„ls also echt keine Abkoche, hier, ey?“

„Worauf du einen lassen kannst! Und nun cool down und hiev' deinen Arsch auf das Slab, sonst werde ich dir solange Dröhnungen auf die Glocke verabreichen, bis du's freiwillig machst! Gebongt, ey?“

„Bevor du hier den Larry machst, Alter…“

Wiebke stieg brav und mit wichtigem Gesicht auf das Receiver-Slab des Transmitters.

Ich drückte meine Zigarette aus, murmelte: „ready, Teddy, go man go!“ und ließ den Chronos zugreifen. Die Warnlämpchen um das Slab begannen hektisch zu flackern, Wiebke stand einen Atemzug lang wie erstarrt, um sie herum erschien kurzzeitig eine helle Corona – und war plötzlich und ruckartig verschwunden.

Es roch etwas nach Ozon, irgendjemand räusperte sich: „Was stinkt das hier so?“

„Hier stinkt nichts“, sagte ich, „wenn Sie den Ozongeruch meinen, das ist normal. Das entsteht, wenn der Laserträger aktiviert wird. – Aber sehen wir uns doch mal unsere Versuchsperson an.“

Ich drehte den Monitor wieder hell.

Wiebke saß neben dem Weg und rauchte ihre Zigarette.

„Verdammt“, keuchte ich, „wenn das man gut geht!“

„Was ist denn schon wieder schief gegangen?“

„Die Dame raucht! Wie jeder weiß, gelangte der Tabak erst 1498 nach Europa! Wenn da jetzt einer des Weges kommt, denkt der bestimmt, die Frau brennt, oder hält das für Teufelswerk!“

„Da hätten Sie aber dran denken müssen, mein Lieber“, sagte mein Boss.

„Klar, einer muss ja die Schuld kriegen, im Zweifelsfall immer der Macher! Beim nächsten Mal sollte ein Geschichtskundiger bei den Vorbereitungen dabei sein, ich mache sowas ja nur hobbymäßig. – Soll ich die Frau wieder hereinholen?“

„Nein, besser nicht. Wir brauchen den konkreten Beweis, dass sie wirklich in der Vergangenheit war. Das hier könnte ja eine getürkte Landschaft sein.“

„Na, gut. Scheint ja noch mal gutgegangen zu sein, die Sache, schauen sie mal!“

Auf dem Monitor war zu sehen, wie Wiebke aufstand, die Zigarettenkippe weg warf, ihr Kleiderbündel schulterte und auf die Häuser zuging. Sie ging langsam, als fürchtete sie sich, irgendwo anzukommen, aber sie ging, und sie kam an.

Ich löste die Sonde aus dem kleinen Gebüsch und ließ sie in einiger Entfernung hinter Wiebke her schweben.

Die Kamerasonde CS-48 besaß einen kleinen g-Neutralisator, der die Schwerkraft unter ihr punktuell aufhob. Durch leichte Gewichtsverlagerung 'fiel' sie praktisch nach vorne oder in eine, mit einer Art 'Joystick' am Transmitter bestimmbare Richtung. Es erforderte eine gewisse Übung, die Sonde in etwa dahin zu lenken, wohin man sie haben wollte, es sei denn, man war nebenbei auch noch Hubschrauberpilot.

Wiebke kam an einer Gastwirtschaft an, sie ging hinein, und die Tür schloss sich hinter ihr.

Ich fingerte mir die letzte Zigarette aus der Schachtel und ließ mein Feuerzeug aufblinken, während ich die CS-48 vorsichtig in einem Gebüsch gegenüber der Wirtschaft versteckte.

„Was ist denn jetzt?“, fragte einer hohen Herren, „wie können wir die Versuchsperson jetzt überwachen?“

„Im Moment ist das unmöglich“, ich stieß den Zigarettenrauch durch die Nase, „aber sie wird ja wohl irgendwann wieder herauskommen. Ich fürchte allerdings, dass sie dann ziemlich betrunken sein wird, und zudem sozusagen 'voll den Affen schiebt'.“

„Ihre Ausdrucksweise mag ja im Zusammenhang mit der, meiner Ansicht nach sehr suspekten Versuchsperson, angebracht sein, aber was heißt 'einen Affen schieben'?“

„Wir wissen alle, dass die Dame heroinsüchtig ist. Wenn sie nichts mehr bekommt, wird sie Entzugserscheinungen kriegen. Es ist geplant, die Wiebke dort zu lassen, bis sie absolut sauber ist, sozusagen ‘clean‘.“

Meine Zigarette begann bitter und gallig zu schmecken während der Psychologe einen kleinen Vortrag über Entzugserscheinungen hielt. Es schien die hohen Herren nicht zu interessieren, einige begannen sogar eine Idee zu entwickeln. Ich bekam Wortfetzen wie 'kostengünstige Therapie' und 'kostendeckende Massenverschiebung in die Vergangenheit' mit.

„Wie viele Personen kann dieser Transmitter maximal in die Vergangenheit versetzen?“

Die Frage war mir gestellt.

„Der Chronos ist normalerweise für zwei Personen ausgelegt, im Kurzzeitbetrieb können auch mal drei Personen versetzt werden“, antwortete ich, „aber dann geht die Anlage an die Grenze der Belastbarkeit.“

„Auch dann sind wir noch kostengünstiger als jede therapeutische Einrichtung!“

„Moment mal“, ich stieß den Rauch meiner Zigarette ruckartig aus, „Sie wollen die Junkies doch nicht etwa hordenweise in die Vergangenheit schicken, damit die dort clean werden?!“

„Was stört Sie daran?“

„Mich stört daran, dass diese Leute unübersehbaren Schaden in der Vergangenheit anrichten können! Im schlimmsten Fall sägen die sogar den Ast unserer eigenen Entwicklung ab. Nein, meine Herren, sowas kann man nicht machen, ich mache da jedenfalls nicht mit!“

„Sie meinen also, hier einfach aussteigen zu können - ja? Können Sie haben!“

„Es geht mir nicht darum, auszusteigen – sondern ich glaube, dass wir auch eine gewisse Verantwortung für das tragen, was wir hier bauen! Ist Ihnen eigentlich klar, dass man einen Transmitter auch gezielt als Waffe einsetzen kann?“

„Die Verantwortung dafür, ob Waffe oder nicht, überlassen Sie getrost den Politikern! Ihre Aufgabe ist es, die Anlage zum Laufen zu bringen! – Was machen Sie sich überhaupt noch Gedanken? So wie Sie sich soeben benommen haben, sind sie so gut wie freigesetzt, was regen Sie sich noch auf?“

Ich schluckte trocken und dachte an die vielen Nächte an meinem Messplatz, die überquellende Aschenbecher, Hektoliter Kaffee und unzähligen Döner und Hot-Dogs vom nächtlichen Nudeldienst, die die Entwicklung dieses Transmitters gekostet hatte.

Mir war es immer um die Sache gegangen, ich hatte die Zeitreise als Aufgabe gesehen, wie ein Maler, der erst ein Bild fertigstellt ohne auf den Feierabend zu achten und sich dann Gedanken über den Verkauf macht.

„Was ist nun?“, fragte einer der hohen Herren, „wollen Sie die Versuchsperson nicht wieder reinholen?“

„Solange sie im Hause ist, wird das kaum möglich sein, weil nicht auf den Zentimeter genau feststellbar ist, wo sie sich aufhält“, antwortete ich.

„Sie hat doch den Peilsender im Schuh!“

„Der Schuh bewegt sich zur Zeit nicht, und die Kennung spricht auch nicht an. Sie scheint ihn ausgezogen zu haben. Wie ich sie kenne, hat sie sich ruckartig volllaufen lassen und muss nun ein wenig ausnüchtern. Ich denke, wir holen die Sonde herein, und setzen sie Montag wieder an die gleiche Stelle.“

„Und wenn die Frau dann weg ist?“

„Wir können die Sonde auch zeitlich an die gleiche Stelle setzen, das wäre nicht das Problem.“

„Was wäre denn das Problem?“

„Das Problem ist, sie außerhalb des Hauses, und zwar allein zu erwischen. Außerdem sollte sie auch eine Weile in der Vergangenheit gewesen sein, um clean zu werden.“

„Na schön.“

Die hohen Herren rotteten sich zusammen und sahen auf ihre Uhren: „So, meine Herren, es wird Zeit“, sagte einer, und zu mir gewandt: „Sie holen jetzt die Sonde zurück! Sie bekommen dann Bescheid, was weiter zu tun ist.“

Ich schluckte trocken, nickte und zerdrückte einen Fluch im Mundwinkel verdammte Fremdbestimmung.

Ich holte die Sonde herein, schaltete die Anlage aus und machte Feierabend.



Freitagabend, Wochenende.

Zwei Tage nichts tun, vielleicht etwas lesen, Fernsehen und abends auf ein Bierchen in die Stammkneipe. Zur Hölle mit den Junkies und den Frauen, aber in der Kneipe lernte ich Chantal kennen, und die sah so gut und vielversprechend aus, dass ich sie zum Essen einlud.

„One – night – stands sind absolut in“, lächelte Chantal. Sie hatte gewisse Vorstellungen was das Vorher betraf und ein Stammrestaurant, das gerade den zweiten Stern bekommen hatte.

„Liegt voll im Trend, das Lokal“, meinte Chantal.

„Normalerweise mache ich ja keine Trends mit“, sagte ich, „im Gegenteil. Richtige Männer folgen keinen Trends, die setzen sie! Da muss ich blöd sein, etwas nachzumachen, was sich andere ausdenken und dafür auch noch Geld ausgeben! Aber wenn du meinst, ausnahmsweise.“

Das Taxi dahin kostete schon ein Heidengeld und das Essen war in etwa so teuer wie die zweite Stufe der Ariane-Rakete und schmeckte auch so.

Glücklicherweise bin ich Technikfan.

Sodann wollte Chantal vorher noch etwas tanzen und zwar in einer Nobeldisko.

Na, gut. Opfer müssen gebracht werden, aber als ich mal vom Klo wiederkam, war Chantal verschwunden.

„Die ist mit Charly weg“, klärte mich einer mit Modefrisur auf.

Ich fuhr mit der Bahn nach Hause.

Am Sonntagmittag rief Chantal an, und sie war sehr böse mit mir.

Wie ich sie da so einfach hatte hängen lassen können, und sie hätte fast ihren Körper an einen Taxifahrer verkaufen müssen, um nach Hause zu kommen, und was ich mir überhaupt dabei gedacht hätte.

„Du hättest ja auch mit der Bahn fahren können“, sagte ich. Chantal war empört über dieses Ansinnen – sie in einer ordinären Straßenbahn! Wie ich das wohl wieder gut machen wollte?

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, Hochspannung in das Telefonnetz einzuspeisen, aber ich ließ es dabei, innerlich auf die Frauen zu schimpfen, während ich meine Whiskyflasche alleine leerte.

Wenn bloß Herr Doktor Krüger dagewesen wäre, aber der hing sicher wieder bei Nachtschwester Ingeborg rum und kümmerte sich einen Scheißdreck um seinen Mitbewohner.

Aber irgendwie gönnte ich ihm das, ich wollte ihn nicht in meine Misere mit reinziehen.



Stark gedämpft kam ich im am Montag in der Firma an, und ich hatte im ersten Moment auch nichts dagegen, als mein Boss mir mitteilte, dass man beschlossen hatte, die Versuchsperson aus Kostengründen 'aufzugeben'.

Wiebke sollte also in der Vergangenheit zurückgelassen werden, weil man beschlossen hatte, das Projekt bis auf weiteres zu kanzeln, kein Euro sollte mehr investiert werden.

Na gut, egal. Wiebke war sowieso bloß ein Junkie. Ich ging in die Kantine, schüttete Kaffee in meinen schweren Kopf und versuchte, die ganze Geschichte zu verdrängen.

Irgendwann, so nach dem ersten Liter, kam der Assistent des Personalchefs mit feistem Grinsen vorbei und fragte, ob ich nichts zu tun hätte.

„Doch“, sagte ich, „ich mache mir Gedanken, wie wir die Wiebke wieder herkriegen.“

„Sie haben doch mitgekriegt, dass die Versuchsperson aufgegeben wurde.“

„Sie haben die Frau aufgegeben, ich nicht!“

„Was soll das denn heißen?“

„Das heißt, dass ich die Frau wieder heraushole aus der Vergangenheit, ganz einfach. Ich habe sie ja auch hingeflippt!“

„Ach, befürchten Sie irgendwelche Repressalien, oder dass man Sie für den misslungenen Versuch zur Verantwortung zieht? Da brauchen Sie keine Angst zu haben, Sie haben ja auf Befehl gehandelt.“

„Ja, Scheiße, das haben nach '45 angeblich alle getan!“

„Das ist ja auch was anderes. Damals war Krieg.“

„Ich bin nicht der Ansicht, dass das was anderes ist! Außerdem werden Sie schwerlich jemanden Anderen finden, wenn ruchbar wird, wie leichtfertig und schnell Sie die Versuchspersonen 'aufgeben', wie Sie das so schön formulieren.“

„Sie wissen, dass sie projektbedingt zum Stillschweigen verpflichtet sind! Noch sind Sie hier angestellt. Sollten Sie etwas verlauten lassen, machen Sie sich strafbar.“

„Nun kommen Sie mir nicht so! Ich bin in erster Linie mir und meiner Berufsethik verpflichtet, falls Sie noch wissen, was das ist. Wenn ich dazu beigetragen habe, die Frau in eine Scheiße zu reiten, tue ich auch das Meine dazu, sie wieder herauszuholen!“

„Und wie wollen Sie das machen?“

„Das weiß ich noch nicht, aber ich hole die Frau da raus, das schwöre ich Ihnen! Und wenn das meine letzte Tat in dieser Firma ist! – Ich empfinde es als Mordssauerei, die hier mit einem Menschen gelaufen ist. Technische Probleme, okay, darüber war sie informiert. Ich würd' mich gern mal schlau machen, ob 'aus Kostengründen' einfach hängen lassen juristisch haltbar ist!“

„Wenn Sie das tun, können Sie sich gleich Ihre Papiere abholen! Gefällt mir gut, die Idee. Wir können Sie fristlos feuern und sparen auch noch die Abfindung! – Ich wollte Ihnen sowieso gerade Ihre Kündigung bringen.“

„Das ist mir ebenso klar wie egal! Ich bin jetzt eh so gut wie ‘rausrationalisiert‘. Sie sollten aber auch wissen, dass ich nicht unbedingt bereit bin, Stillschweigen zu wahren. So, und jetzt habe ich wirklich keine Zeit mehr, einige Dauertests mit dem Chronos und der Sonde stehen noch an.“

„Die können Sie ja noch fertig machen und die Anlage dann einmotten“, das Grinsen meines Gegenübers vertiefte sich, „trifft sich gut mit Ihrer Kündigung. Da Sie demnächst viel Zeit haben werden, sollten Sie mal einen Kurs über Kostenrechnung absolvieren.“

„Da Sie ja oft und gern von der Kündigung reden, Sie hatten mir zugesagt, dass ich meinen Arbeitsplatz behalte, wenn ich Ihnen eine Versuchsperson besorge! - Das habe ich getan!“

„Wo ist die denn, die 'Versuchsperson'?“

„Auf Ihre Anordnung hin im Jahre 1389.“

„Das ist weit weg! Bringen Sie die doch her, dann behalten sie ihren Job vielleicht. Ansonsten sehe ich schwarz!“

Er lachte laut, als er raus ging.

Ich schlich ein wenig deprimiert an meinen Platz und überlegte mir etwas mit Arbeitsgericht während ich den Transmitter warmlaufen ließ. Als ich dann wieder vor dem Gerät und an meinem Schreibtisch, den ich gelegentlich schon mal aufräumen wollte, saß, fühlte ich mich der absoluten Resignation sehr nahe und ging nach Feierabend auf ein Bier in die Kneipe.

Dort saßen sie wieder bei wichtigem Gespräch und mit ebensolchem Gesicht an der Theke, Kurt von der Tanke und ein Typ namens Marcus, es ging darum, woran der Mann erkennen kann, ob die Frau auch wirklich einen Orgasmus hat oder ihn nur vortäuscht.

Marcus war der Ansicht, dass man das an den erigierten Brustwarzen sehen könnte. Kurt war der Ansicht, dass die Frau dann anschließend Hunger bekommt, Patricia zum Beispiel, mit der er seit kurzem zusammen war, würde nach einem guten Orgasmus sogar noch aufstehen und Kartoffelpuffer machen.

„Was meinst du denn dazu?“, Kurt stieß mich an, „woran erkennst du, ob deine Frau einen Orgasmus hatte oder nicht'?“

„Ich hab' keine“, sagte ich und nahm mein erstes Bier in Empfang.

„Aber du wirst doch wohl mal mit einer Frau gebumst haben.“

„Ja, kam schon mal vor.“

„Und? Woran erkennst du, ob die Frau dir nur einen vorgestöhnt hat?“

„Naja, an den Augen.“

„Wie, an den Augen?“

„Naja, blauäugige kriegen kurzzeitig grüne Augen und umgekehrt.“

„Glaub' ich nicht“, sagte Marcus, „und was ist mit den braunäugigen?“

„Naja, die schielen nach einem Orgasmus kurzzeitig.“

„Patricia hat braune Augen“, sagte Kurt, „ich achte mal drauf, danke für den Typ, habbich noch nicht gewusst.“

Ich trank grinsend mein Bier aus, zahlte, ging heim, dachte an Wiebke und daran, dass das hier irgendwie nicht meine Welt war.

Aber was zum Teufel war meine Welt?

Zuhause aktivierte ich den Computer und dachte an eine Liebesgeschichte in einer anderen Welt. Ich sollte auch mal eine richtig schöne Liebesgeschichte schreiben.

Nebenan begannen sie sich zu zoffen, keine rechte Atmosphäre um eine Liebesgeschichte zu schreiben.

Ich holte mir ein schönes, dunkles Bier aus dem Kühlschrank, dabei wunderte ich mich über das neue Weinregal in der Küche.

In Herrn Doktor Krügers, Zimmer war Licht und dezente Musik, Vivaldi. Ich ging an meinen Computer, schenkte ein Glas voll, drehte mir eine Zigarette, zündete sie an, rauchte einige Züge, stand wieder auf und klopfte bei Herrn Doktor Krüger.

„Jau.“

„Na, da sind sie ja auch mal zuhause.“

„Guten Abend Herr von Wegen.“

Ich trat ein, Herr Doktor Krüger sah von einem Buch auf und drehte die Musik etwas leiser.

„Guten Abend Herr Doktor Krüger. Das frisch vermählte Ehepaar nebenan zankt sich heute ein wenig heftig. – Darf ich einen Moment bei Ihnen bleiben, bis sie sich vertragen oder gegenseitig totgeschlagen haben?“

„Aber gerne. – Was macht das wehrte Befinden?“, fragte er, deutete auf einen Sessel und legte das Buch zur Seite, es war die Bibel.

„Sag' mal, was liest du denn da?“

„Die Bibel! Ich hab' hier gerade das Hohelied, ist echt stark. Magst du ein Glas Wein?“

„Hab' mir grad 'n Bier aufgemacht. – Um mit der Tür in das Haus hinein zu fallen: Kennst du jemanden, der mir eine mittelalterliche Gewandung machen könnte, so ein bisschen Edelmann oder so, mit dem ich im Jahre 1389 nicht auffallen würde?“

„Ich glaub schon. Ich hab' einen Kollegen, der sammelt Kostüme. Als die die DEFA-Studios aufgelöst haben, ist der hin und hat sich mächtig eingedeckt. Wir hatten letztens mal 'ne Rokoko-Feier, war echt lustig!“

„Das wäre ja phantastisch!“

„Gut.“ Er zückte sein Handy, „das machen wir gleich, bevor ich’s vergesse. – Hallo Theo, kannst du einem Freund von mir mal ein Kostüm pumpen?“

Die Sache ging glatt durch, unheimlich schnell, wie es unter richtigen Männern üblich ist. Herr Doktor Krüger fuhr sogar noch mal eben los, die Sachen holen.

„Hab gerade den Wagen von Nachtschwester Ingeborg“, grinste er, „das möchte ich ausnutzen. – Hab‘ da schon mal ein paar gute Weine besorgt, die sind allerdings nicht für alle Tage, aber bei besonderer Gelegenheit…“ er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

„Dann trinken sie also kein Bier mehr? Eigentlich schade.“

„Natürlich werden wir nochmal das eine oder andere Bier zusammen trinken! Aber das mit den Weinen ist ein Hobby von mir. Man gönnt sich ja sonst nix. – Aber nun will ich mal los. Theo ist nicht ewig auf.“

Das Kostüm passte wie maßgeschneidert und ich kam mir ein wenig vor wie ein Edelmann, als ich eine Anprobe machte.

„Was hast du denn damit vor?“, fragte Herr Doktor Krüger.

„Das ist eine lange Geschichte. Sie wird mindestens eine Stunde dauern“, sagte ich.

„Dann erzähl sie mir morgen. Aber nicht vergessen! Ich muss jetzt nämlich schlafen, weil ich morgen wieder Leistung zu bringen habe. – Aber nicht vergessen!“



Am nächsten Tag nahm ich das Paket mit der mittelalterlichen Bekleidung darin mit in die Fabrik. Der Pförtner guckte zwar ein Wenig argwöhnisch, sagte aber nichts.

Bis zur Mittagspause verlieh ich mir mit irgendwelchem Schreibkram den Eindruck von Wichtigkeit und schaltete, als alle Kollegen in der Kantine waren und sich irgendwas schlecht Schmeckendes mit Kartoffeln reintaten, den Transmitter an.

Umziehen konnte ich mich ja später noch, denn mein Plan war, da Wiebke die Schänke anscheinend nie zu verlassen pflegte, hineinzugehen und sie in irgendeiner Form zu einem Spaziergang oder was auch immer zu überreden. Dazu musste die Sonde irgendwo in der Schänke Gegend versteckt sein. Ich hätte Wiebke mit der Sonde wieder auf das Receiver-Slab des Transmitters in der Firma flippen können und mich hinterher.

Zu diesem Zweck hätte ich mich erst mit dem Transmitter in die Vergangenheit und in die Nähe der Sonde flippen müssen, und zwar schnell, bevor die Kollegen vom Essen kamen.

Ich hatte zwar Angst, aber ich musste es tun, ich konnte nicht jemanden hängen lassen, mich feige absetzen.

Ich ließ die Sonde in die Vergangenheit gleiten, in den 15. August 1391. Zwei Jahre sollten reichen, um clean zu werden.

Ich zündete mir mit nervösen Fingern eine Zigarette an. Nach dem ersten Zug schon lieferte die Sondenkamera dank des Restlichtverstärkers Bilder, Bilder einer fast unberührten Natur auf der sich die Stille der Vergangenheit ausgebreitet hatte, von einigen zirpenden Grillen abgesehen.

Ich machte mir keine Gedanken darüber, was die Menschheit draus gemacht hatte und ließ die Sonde langsam einen Vollkreis beschreiben, keine Menschen.

Gut.

Ich aktivierte die Empfänger für die Sensoren der Schuhe, die wir Wiebke damals mitgegeben hatten.

Die Sonde suchte, etliche Züge an der Zigarette lang, und dann lieferte sie Daten.

Beide Schuhpaare waren noch in Betrieb.

Die Bundschuhe lagen ruhig in der Schänke. Offenbar hatte Wiebke die Schuhe mit den Solarzellen an, die wie gläserne Schuhe aussahen.

Wiebke hatte die Schuhe zwar an, aber sie ging nicht damit, und sie war etliche Kilometer entfernt, ganz knapp innerhalb der Reichweite der Sender in den Schuhen.

Ich drückte meine Zigarettenkippe in den Aschenbecher, keine Zeit zu überlegen. Ich ließ die Sonde aufsteigen und in Richtung der Schuhe schweben.

Wenige Augenblicke später geriet eine Kutsche in den Erfassungsbereich der Kamera, eine prächtige Kutsche mit vier Pferden davor. Einige Bogenschützen ritten davor und dahinter. Einer dieser Kerle schien die Sonde trotz der Dunkelheit gesehen zu haben, er stieß seinen Nebenreiter an, deutete genau in Richtung Kamera und legte einen Pfeil auf.

Ich nahm die Sonde sicherheitshalber ein Stück zurück und ließ sie einmal um die Kutsche schweben.

Kein Zweifel, im Zentrum des Kreises, also in der Kutsche, saß Wiebke!

Es war eine geschlossene Kutsche, wie sie nur hochgestellte Persönlichkeiten, Fürsten, Prinzen und dergleichen fuhren, reich beschnitzt und mit zwei Lakaien hinten drauf. Vor den Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, keine Chance Wiebke direkt zu sehen, zudem wurden die Bogenschützen langsam nervös, einige weitere Kerle zogen ihre Degen und fuchtelten drohend in Richtung Sonde. Sie hätten mir das teure Stück sicherlich kurz und klein geschlagen, wenn es in ihre Reichweite gekommen wäre.

Also zurück mit ihr, in sichere Entfernung.

Ich hätte mich sicher auch mit diesen Schergen rumschlagen können, wenn ich versucht hätte, in Wiebkes Nähe zu kommen. Wieso hatte ich mir die ganze Geschichte eigentlich so einfach vorgestellt?

Einfach hingehen und sagen: 'Hay, Alte, wieder clean? Pack deine Sachen, wir flippen zurück!‘, war zu einfach.

Wie mochte Wiebke in diese hochherrschaftliche Kutsche gekommen sein?

'Vom Junkie zur Prinzessin', dachte ich, während ich mir wieder eine Zigarette anzündete, 'eine Story wie sie das Leben schrieb. Dumm ist nur, dass sie sich im Mittelalter abspielt.'

Ich ließ die Sonde auf den Spuren der Kutsche zurückschweben.

Für einen Schriftsteller wäre ein Transmitter, mit dem man durch die Zeit gehen kann, natürlich ein gefundenes Fressen, er brauchte nur in der Zeit herumzuflippen und schon hätte er Geschichten noch und nöcher.

Ich ertappte mich bei der schweinischen Überlegung, die Anlage auf meine letzten Tage zu klauen, aber das wäre unter meinem Niveau gewesen. Journalisten, die zu phantasielos sind, sich selbst was auszudenken oder literarische Dumpfmeister wie der Geheimrat Goethe hätten sowas gebrauchen können!

Ein Schloss schälte sich aus der Dunkelheit, hell erleuchtet und mit Leben erfüllt, heruntergebrannte Fackeln, Betrunkene, Liebende, leergegessene Tafeln, vergossener Wein auf den Tischen und zerbrochene Gläser – eine sterbende Feier.

Ob Wiebke an dieser Feier teilgenommen hatte?

Und irgendein Prinz hatte sie aufgerissen und abgeschleppt?

Wie damals in den Märchen, die ihre Wurzeln im Mittelalter oder früher haben?

Die Antwort auf diese noch unformulierte Frage rollte irgendwo in der Kutsche durch die Nacht.

Also zurück in der Zeit mit der Sonde!

Der Computer fragte nach Ort, Tag und Uhrzeit. Ich ließ die Sonde an der gleichen Stelle, allerdings zwei Stunden früher, mit Blick auf das Schloss mit der großen Freitreppe. Die Entfernung war so groß, dass die Sonde nur durch Zufall zu sehen war, aber die Kamera lieferte mir noch Bilder in einer Auflösung, bei der ich Gesichtszüge erkennen konnte.

Nahezu übergangslos flippte die Sonde zurück, und sie meinte, dass der Solarzellenschuh nur wenige Meter entfernt sei.

Ich fuhr die Kamera in die Richtung und sah, dass ein Mann den Schuh in der Hand hatte, und er probierte ihn gerade einer Frau an.

Der Mann trug einen Umhang über einem Rüschenhemd, Knickerbockerhosen, eine Art Strumpfhose, spitze Schuhe und jede Menge Schmuck.

'Was für ein Dandy', dachte ich.

Der Schuh schien irgendwie nicht zu passen, denn die Frau wurde weggeschickt. Die Nächste. Die hatte Blut am Hacken und versuchte, den Schuh trotzdem überzustreifen. Das funktionierte auch nicht.

Irgendwie entstand ein dezenter Tumult während jemand den Schuh reinigte. Die Sonde hatte zwar ein Richtmikrophon, aber sie war zu weit weg, um auch nur die Fetzen eines Gesprächs auffangen zu können – verdammt, da gab es doch mal so ein Märchen in dem ein gläserner Schuh eine Rolle gespielt hatte.

Ich grübelte, während die Anprobe weiterging.

Eine andere Frau streifte den Schuh über, und die Kennung sprach an!

Wiebkes Fuß mit ihren Zehenabdrücken steckte in dem Schuh!

Sie hatte sich schwer verändert, so schwer, dass ich sie zunächst nicht erkannt hatte. Eine schlanke dunkelhaarige Frau stand mit wogendem Busen auf der Freitreppe vor dem Schloss, und der Prinz – es musste ein Prinz sein – der sie nun in den Arm nahm und küsste, verlieh dieser Szene etwas klassisch-märchenhaftes.

Ich blieb mit der Kamera an dieser Szene und sah zu, wie der Prinz die Wiebke auf Händen zu einer Kutsche trug – zu der Kutsche, in der die Sonde Wiebke zwei Stunden später ausgemacht hatte.

'Da gab es doch mal so ein Märchen', grübelte ich und holte die Sonde wieder zurück, 'möglicherweise hat das Ding hier seinen Ursprung, denn wie sonst sollen die Leute sonst auf den Bolzen mit dem 'gläsernen Schuh' gekommen sein?'



Zum Teufel mit dem Job und dem dünnlippigen Assistenten des Personalchefs!

Was hatte Wiebke als Exjunkie hier für eine Zukunft?

Was bedeutete schon ein Arbeitsplatz in miesem Betriebsklima?

Klar dass ich Wiebke dort ließ, wo sie war – diesmal mit Absicht.

Ich legte die Füße vor mir auf den Schreibtisch und dachte nach, während ich sorgsam die Daten der letzten Aktivität löschte.

Gerne hätte ich jetzt ein schönes Schwarzbier gehabt, aber ich wollte den Schlipsträgern nicht unbedingt auf meine letzten Tage einen Grund liefern, mich fristlos zu feuern, ohne Abfindung.

'Angenommen, ich hätte die Wiebke ein Jahr nach ihrem Flipp in die Vergangenheit aufgespürt und wieder zurückgeholt', grübelte ich, 'dann hätte ich der Welt möglicherweise ein Märchen genommen…

Ich wollte weiterdenken, aber der dünnlippige Meister des feisten Grinsens kam herein, kritisierte meine Sitzhaltung und stichelte eine Weile herum, weil ich es ja doch nicht geschafft hatte, die Wiebke wieder zurückzuholen, obwohl ich eine mehr als dicke Lippe riskiert hatte, wobei er ein Vokabular wie 'Verlierertyp' und 'Loser' boshaft oft benutzte. Ich machte Feierabend bevor ich der Versuchung erliegen konnte, seinem Zahnarzt noch wenigstens eine kleine Freude zu machen.

Ich brachte Herrn Doktor Krüger das mittelalterliche Gewand zurück sowie ein paar Biere mit, Hefeweizen, für ein gutes Gespräch.

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte mit Wiebke, und er war der Ansicht, dass das Märchen vom Aschenputtel hier seinen Ursprung gehabt haben könnte.

„Da sollten wir ein gutes Gespräch drüber führen“, sagte Herr Doktor Krüger und ging eine Flasche Wein holen, „ich habe ein Dekantiergefäss erworben. Hätten Sie was dagegen, wenn wir es einweihen?“

„Aber mitnichten, Herr Doktor Krüger.“

„Eine gute Frage“, sagte Herr Doktor Krüger mit nachdenklichem Gesicht als er den Wein vorsichtig durch ein Tuch in das Gefäß laufen ließ, „wenn du die Dame zurückgeholt hättest, hättest du der Welt möglicherweise ein Märchen genommen, ein schönes Märchen! Das wäre schade, denn es gibt viel zu wenig davon!“

Ich stellte die Überlegung an und sprach die Frage aus, ob es dieses Märchen geben könnte, wenn ich die Wiebke bevor der Märchenprinz sie angebaggert hatte, wieder aus der Vergangenheit zurückgeholt hätte.

„Wie heißt es doch so schön in den Märchen? … und sie lebten glücklich und in Frieden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

„Sicher war es auch das Beste für die junge Dame“, meinte Herr Doktor Krüger und goss Wein in die Gläser, „aber eigentlich sollte jeder selber entscheiden, was für einen gut ist.“

„Allerdings müssen Männer hin und wieder mal für Frauen Entscheidungen treffen, weil den Damen das gute, maskuline Denken ja wohl abgeht.“

„Stimmt“, sagte Herr Doktor Krüger, und sah nachdenklich die Farbe des Weins an, „du hättest deinen Arbeitsplatz gerettet, wenn du die Dame zurückgeholt hättest.“

„Vorausgesetzt, der Personalchef hätte sein Wort gehalten.“

„Also dein Arbeitsplatz gegen das Wohlergehen einer jungen Dame“, Herr Doktor Krüger ließ einen Schluck Wein im Mund kreisen, „wunderbar.“

„Sie werden mich jetzt wahrscheinlich für blöd halten.“

„Das wird die allgemeine Meinung sein, aber ein Mann ist in erster Linie sich selbst verantwortlich. Ich halte sie mitnichten für blöd!“

Wir tranken, nein, wir genossen, und wir redeten – über Ethik, Märchen und Frauen.

„Eigentlich“, sagte ich, „müsste ich mal mit mir ins Gericht gehen, mein Leben überdenken…“

„Das sollte jeder Mal machen! – Ach, bevor ich’s vergesse: Ich mache mal ein bisschen Urlaub, mit Nachtschwester Ingeborg. Wären sie so nett, in der Zeit mein Alpenveilchen zu gießen?“

„Natürlich! – Auf dem Jobcenter tut sich ja doch nichts … Ich werde in der Zeit einen Roman schreiben! Mit einem Magier, allerdings in der heutigen Zeit. Es spukt schon eine ganze Weile in meinem Kopf rum … der Magier versucht einen riesigen Schädel, der seit Urzeiten in der Wüste liegt, mit der Kraft seiner Gedanken zum Fliegen zu bringen.“

„Hört sich interessant an“, sagte Herr Doktor Krüger, „dann kann ich das Kostüm ja zu Theo zurückbringen.“
 



 
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