Die Wahrheit über Störtebeker

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Die Wahrheit über Störtebeker

Klaus oder Klaas oder Claas oder Nikolaus Störtebeker oder Störtebecker oder Storzenbecher war und ist der berühmteste Freibeuter der Nordsee. Er kaperte schon Schiffe, lange bevor andere berüchtigte Piraten wie Blackbeard, Francis Drake oder Henry Morgan die Karibik unsicher machten. Zu Störtebekers Lebzeiten wusste in Europa allerdings noch keine Menschenseele, dass die Karibik überhaupt existiert. Als die ersten Europäer ihre Füsse auf den amerikanischen Kontinent setzten, war Störtebeker längst tot. Geköpft bei Hamburg im Jahre 1401.

Wie schon die Liste all seiner möglichen Namen erahnen lässt, ist über Störtebeker trotz seines immensen Bekanntheitsgrades nicht viel gesichertes Wissen überliefert. Die Legenden über ihn wurden erst lange nach seinem Tod gesponnen. Er soll seine Beute aus den Raubzügen gegen die Hamburger Handelsschiffe unter den Armen und Notleidenden verteilt haben. Er soll der Becherstürtzer gewesen sein, der einen Krug mit vier Litern Bier in einem Zug leertrinken konnte. Und er soll nach seiner Enthauptung ohne Kopf noch zwölf Meter zu Fuss zurückgelegt haben, um dadurch seine Männer vor der Hinrichtung zu bewahren.

Störtebeker habe nämlich mit dem damaligen Hamburger Bürgermeister Kersten Miles vereinbart, dass alle Männer verschont würden, an denen Störtebeker vorbeigehen könne, nachdem ihm der Kopf vom Rumpf getrennt worden ist. Und der kopflose Pirat soll tatsächlich an elf seiner Kameraden vorbeigeschritten sein, bevor er zusammengebrochen ist. Allerdings habe sich Miles anschliessend nicht an die Abmachung gehalten und trotzdem sämtliche 73 Gefolgsleute von Störtebeker hinrichten lassen.

Auch wenn die Legende mit dem Vier-Liter-Bierkrug selbst hartgesottene Biertrinker zu verblüffen vermag, ist es doch diejenige der Hinrichtung, die unweigerlich Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt aufkommen lässt. Dabei ist sie - im Gegensatz zu ersterer - wahr.

Und das kam so:

Die Zelle

Unablässig und im immergleichen Takt tropfte es von der Steindecke in die Pfütze, die annähernd den ganzen Boden des Kerkers bedeckte. Stunde für Stunde, Tag für Tag. Störtebeker hatte längst keine Ahnung mehr, wie lange er schon in diesem Loch hockte. Das ewige Getropfe setzte ihm aber beinahe am meisten zu. Mehr als die Kälte und die Dunkelheit. Mehr als der ungeniessbare Frass, der ihm vorgesetzt wurde. Mehr als der Gestank seiner Extremente aus dem Kübel in der Zellenecke. Mehr als die Einsamkeit der Einzelhaft im tiefsten Verliess des Waltboden-Hus, dem Gefängnis von Hamburg. Mehr fast noch als die anfänglichen Folterungen, mit denen sie das Versteck seines Schatzes aus ihm herausquetschen wollten.

Diese Armleuchter! Es existierte weit und breit kein Schatz. Alles was er und seine Kumpanen je erbeutet hatten, war innert kürzester Frist bis auf den letzten Heller verprasst worden. Störtebeker hatte nicht Schätze, sondern Schulden angehäuft. Als er die Folter nicht mehr aushielt, gab er an, einen Schatz bei einer Friedhofsmauer in Den Haag vergraben zu haben, wohin er schon mehrmals gereist war, um sich mit dem Grafen von Holland zu treffen. Im Wissen um die Fehde zwischen den Hansestädten und den Holländern, hoffte er, dass die feigen Pfeffersäcke nicht so schnell eine Expedition dorthin unternehmen würden, um den vermeintlichen Schatz zu bergen. Zu seiner Erleichterung schien sein Bluff aufgegangen zu sein, denn weitere Folterungen waren seither ausgeblieben. Verflucht noch eins! Wäre ihm diese List doch nur früher eingefallen. Dann würden ihm jetzt nicht sieben gebrochene Finger nicht in alle Richtungen abstehen, sein Rücken wäre nicht mit Narben überzogen und er hätte sein rechtes Ohr und seinen linken Nippel noch.

Mittlerweile wurde er nicht mehr vom Foltermeister, sondern von dem steten Tropfgeräusch gemartert. Schlimmer als das Tropfen war nur die Ungewissheit, die durch das Getropfe aber noch quälender wurde, als sie ohnehin schon war. Zu Beginn seiner Gefangenschaft hatten sie ihn immerhin von Zeit zu Zeit aus der Zelle in den Gerichtssaal geführt. Das hatte für etwas Abwechslung und Unterhaltung gesorgt. Was für ein aufgeblasenes Theater diese feinen Pinkel veranstalteten! Richter, Kläger, Anwälte, Geschworene, Zeugen und weiss der Teufel wer noch alles, waren aufgeboten worden und hatten sich im Jammern über Störtebekers Verbrechen zu überbieten versucht. Die ollen Pfeffersäcke und ihre Handlanger machten ein unsägliches Aufheben, dabei war für einen jeden Menschen rund um die Nordsee sonnenklar, dass Störtebeker so schuldig war, wie man nur sein konnte.

Störtebeker macht sich keine Illusionen darüber, dass er mit dem Leben davonkommen würde. Ein Todesurteil war bei seinem Sündenregister so sicher wie das Amen in der Kirche. Deshalb hatte er es sich zum Spass gemacht, die Klagen gegen ihn zwar abzustreiten, jedoch nur um sie als masslose Untertreibungen zu bezeichnen und seine Straftaten noch viel schlimmer darzustellen, als sie geschildert worden waren. Die Anzahl überfallener Schiffe, getöteter Feinde und erbeuteter Waren verdoppelte und verdreifachte er in seinen Aussagen. Er prahlte, die Besatzungen der Handelsschiffe ganz alleine überwältigt zu haben und dass er Mann und Maus niedergemetzelt hätte, wenn seine Matrosen nicht jeweils versucht hätten, ihn zurückzuhalten. Das Ganze würzte er mit Geschichten von Seeungeheuern, Geisterschiffen oder Schatztruhen und dabei fluchte und beleidigte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie es sich für einen richtigen Piraten gehörte.

Die letzte Gerichtstagung lag aber bereits einige Zeit zurück und seither vegetierte er ohne jeglichen Bescheid vor sich hin und verzweifelte ob dem endlosen stetigen Tropfen von der Decke und der Ungewissheit um das Schicksal seiner Mannschaft. Die Hoffnung dank den Übertreibungen seiner eigenen Untaten, seine Männer vor dem Schafott bewahren zu können, war gering, aber gab ihm Kraft. Schliesslich war es einzig und allein der Wunsch, ihnen zu helfen, der ihn noch davon abhielt, sich selbst das Leben zu nehmen und damit diesen blasierten Hansefritzen die Freude und Genugtuung einer öffentlichen Hinrichtung zu verderben.

Die Wette

Dass es gar nicht mitten in der Nacht, sondern mitten am Tag war, als ihn das Hämmern an der Zellentüre aus dem Schlaf geschreckt hatte, bemerkte Störtebeker erst, als er gefesselt und umzingelt von vier Wachsoldaten, die Treppe hinaufgeführt worden war. Trotz des fahlen Lichts, das kaum durch die tiefhängende Wolkendecke zu dringen vermochte, musste er die Augen zusammenkneifen, als sie auf den Hof traten, wo ein Wagen mit einem Gitterkäfig bereitstand. Er wurde in den Käfig gestossen und das Fuhrwerk setzte sich in Bewegung. Eine sanfte Brise wehte von der Nordsee her über das Land. Gierig sog der Seemann die salzige Meeresluft ein. Die weckte seine Lebensgeister und kurz darauf pfiff er den ersten Passanten zu.

Es sollten alle herbeikommen und zuhören. Störtebeker sei wieder da. Von der verfluchten Hanse lasse er sich nicht kleinkriegen. Er habe diesen miesen Pfeffersäcken bloss wieder abgenommen, was sie den einfachen, rechtschaffenen Leuten gestohlen hätten, um es dem Volk zurückzugeben. Aber das passe denen dort oben natürlich nicht. Sie hätten ihn feige aus dem Verkehr ziehen und im Kerker verrotten lassen wollen, aber da mache er nicht mit. Jetzt müsse man ihn verlegen, weil er schon sämtliche Ketten durchgebissen habe und das Gefängnisgebäude einzustürzen drohe, ob all den Tunneln, die er mit blossen Händen gegraben habe. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, denn es war herrlich, wieder einmal unter Menschen zu sein. Mehr und mehr Stadtbewohner eilten herbei und folgten dem lauthals referierenden Freibeuter auf seiner Fahrt durch die Gassen von Hamburg.

Als das Fuhrwerk das Tor zum Innenhof eines Amtsgebäudes, das offenbar das Ziel des Gefangenentransports war, passierten wollte, war die Menschenmasse bereits so gross, dass die Wachmänner alle Hände voll zu tun hatten, um sie draussen zu halten. Im Innenhof wurde Störtebeker aus dem fahrbaren Käfig wieder raus gezerrt und durch das prunkvolle Stadthaus in einen Speisessaal geführt. Dort sassen ein Haufen vornehmer Lackaffen an einer reich gedeckten Tafel und hatten anscheinend gerade diniert. Einige der Visagen kannte der Freibeuter von den Gerichtsverhandlungen her, unter anderem diejenige von Kersten Miles, dem Bürgermeister von Hamburg. Auch wenn es sich nur noch um Reste handelte, liessen die leckeren Speisen dem ausgehungerten Störtebeker das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er entriss sich dem Griff der Wachen und stürzte zum Tisch. Mit seinen gefesselten Händen packte er die Reste eines gebratenen Hähnchens und warf sich damit unter den Tisch. Heisshungrig schlang er von dem Brathähnchen herunter, was er nur konnte, während er mit den Füssen nach den Wächtern trat, die ihn fluchend unter dem Tisch hervorzuzerren versuchten.

Man schien ihm sein Mahl nicht zu gönnen, denn nachdem es den Wachsoldaten schliesslich gelungen war, ihn an den Füssen hervorzuziehen, droschen sie auf ihn ein wie die Berserker. Miles brauchte mit seiner Fistelstimme lange, bis er alle Beteiligten zur Ruhe aufgerufen hatte, zumal Störtebeker sich sogleich wieder auf den Tisch stürzte, kaum dass die Wachen von ihm abgelassen hatten, und sich einen ganzen, noch dampfenden Bratapfel ins Maul stopfte. Das brachte ihm einen Satz weiterer Fausthiebe und Fusstritte ein und sorgte dafür, dass er an einen Stuhl gefesselt wurde.

Ein unzivilisierter Wilder durch und durch sei er, gierig und ungehobelt, meinte Miles, indem er den Gefangenen angewidert musterte. Die Ratsherren am Tisch murmelten zustimmend. Was er bloss mit ihm machen solle, schob der Bürgermeister seufzend nach. Am besten lasse er ihn mit der Flasche Wein dort auf dem Tisch laufen, fiel ihm Störtebeker, noch auf den Apfelresten in seinem Mund herumkauend, ins Wort. Er wolle mal sehen, verkündete Miles so unheilvoll es ihm mit seiner Knabenstimme möglich war, ob Störtebeker immer noch dermassen vorwitzig sei, wenn er vor den Scharfrichter geführt werde. Seine Worte wurden von hämischem Gelächter der Männer im Saal begleitet. Triumphierend baute er sich vor dem Piraten auf und beobachtete die Wirkung des Todesurteils auf ihn.

Eine solche blieb, bis auf einen dröhnenden Rülpser von Störtebeker, allerdings weitestgehend aus. Der Apfel brannte höllisch den Magen hinauf. Genervt gab Miles einem der Wächter ein Zeichen, worauf dieser Störtebeker die Faust in den Bauch rammte. Derweil trat Miles zum Tisch und hob das zerrupfte Brathähnchen auf. Wie diesem Hähnchen hier werde ihm der Kopf abgeschlagen, ihm und all seinen Männern verkündete Miles schadenfroh und schwenkte das Vogelgerippe vor dem Gesicht des Verurteilten hin und her, liess es aber sogleich erschrocken fahren, als dieser mit den Zähnen danach schnappte. Wie ein Hund versuchte Störtebeker ohne Einsatz seiner Hände das Fleisch von den Knochen zu zerren, indem er seinen Kopf von einer Seite zur andern warf. Es dauerte keine fünf Sekunden und er schmeckte statt dem Hähnchenfleisch erneut die Fäuste der Wachen.

Eine solche Lappalie halte doch einen Mann wie ihn nicht auf, lachte Störtebeker lauthals. Wenn es sein müsse, werde er auch ohne Kopf dem Bürgermeisterchen eins in die Fresse hauen. Einen solchen Schwachsinn habe er ja noch nie gehört, meinte Miles kopfschüttelnd und an die Ratsmitglieder gewandt fügte er an, dass der Gefangene in seinem Verliess wohl den Verstand verloren habe. Dann drehte er sich ruckartig wieder um, zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Piraten und sprach mit erhobener Stimme, dass er keinen Wank mehr tun werde, wenn sein Kopf ab sei. Um ihm und den anderen Pinkeln in den Arsch zu treten, brauche er seine Füsse und keinen Kopf, blaffte Störtebeker zurück. Nur schlappschwänzige Schwächlinge würden einen Kopf benötigen, um zu leben, schob der Verurteilte in Richtung Miles nach. Sein Kopf sei ihm schon zwei Mal in einem Gefecht abgeschlagen worden, aber er habe nichtsdestotrotz weiter seine Feinde niedergemetzelt und sich seinen Kopf nach gewonnenem Kampf von Wilcke wieder annähen lassen. Beim zweiten Mal habe er allerdings Glück gehabt, weil sein Kopf bei schwerer See beinahe über Bord gerollt wäre und er sich erst in letzter Sekunde noch an einem Tau habe festbeissen können.

Empörte Ausrufe vermischt mit unterdrücktem Gelächter erfüllten den Raum nach dieser Schilderung. Nicht nur schwach-, sondern gar wahnsinnig sei der Verbrecher im Kerker geworden, krächzte Miles mit sich überschlagender Stimme. Das sei Seemannsgarn der übelsten Sorte. Doch Störtebeker widersprach aufs Heftigste. Er wisse es haargenau, schliesslich habe er seinen kopflosen Körper mit eigenen Augen von den Deckplanken aus kämpfen sehen. Diese Perspektive sei sogar sehr praktisch, denn so sehe man auch, wenn sich ein Feind im Rücken anschleiche. Das sei ja nun wirklich die dreisteste Lügengeschichte und der grösste Mumpitz, die ihm je zu Ohren gekommen seien, seufzte Miles. Er habe schon manche Köpfe von manchem Schurken rollen sehen und noch nie habe einer danach auch nur einen Finger gekrümmt. Er verwarf theatralisch die Hände und blickte vielsagend zu seinen Ratskollegen. Von dort stieg zustimmendes Gemurmel auf.

Die hätten ja auch keine Übung gehabt, erwiderte Störtebeker störrisch. So viele Köpfe wie er habe noch kein Mensch rollen sehen und viele der Geköpften hätten noch tapfer weitergekämpft. Wie jeder Esel wisse, flattere auch ein geköpftes Huhn noch lange umher, erklärte er belehrend. Wenn ein Huhn so etwas könne, könne das ein Mensch ja wohl noch viel besser und viel länger. Aber wenn sich der Herr Bürgermeister seiner Sache so sicher sei, dann könnten sie ja eine Wette abschliessen, schlug er vor. Wenn er gewänne, lasse Miles für jede Elle, die er nach seiner Enthauptung zurücklege, einen seiner Männer frei. Wenn er hingegen verliere, werde er auf der Stelle tot umfallen.

Da Miles bloss zischte, er habe nun genug von dieser Schmierenkomödie, und den Befehl gab, den Verurteilten zurück in sein Verliess zu karren, setzte Störtebeker einen drauf. Doch weder die Betitelungen als Feigling und Schlappschwanz noch die Gackergeräusche, die er von sich gab, als er aus dem Saal geschoben wurde, vermochten Miles aus der Reserve zu locken. Störtebeker schäumte und tobte vor Wut, während er aus dem Amtsgebäude raus- und in den Gitterwagen reingezerrt wurde. Vor dem Tor hatten sich in der Zwischenzeit noch mehr neugierige Bürger versammelt. Das Spektakel musste sich herumgesprochen haben, denn es hatte sich ein regelrechter Menschenauflauf gebildet. Die Wachmänner hatten Verstärkung anfordern müssen, um das Tor öffnen und die Menschen auseinanderdrängen zu können, damit das Pferdegespann passieren konnte.

Es war weniger strategisches Kalkül als schierer Jähzorn, der den Piraten dazu veranlasste, den ganzen Rückweg über der hinter dem Wagen herziehenden Meute zu zubrüllen, was für eine grandiose Wette er vorgeschlagen habe, doch welch armselige Memmen der Bürgermeister und seine Hanse-Hampelmänner seien. Seine dröhnende Stimme hallte durch die Gassen und wo das Fuhrwerk und die Menschenmenge durchzogen, traten die Anwohner vor die Türen oder streckten ihre Köpfe aus den Fenstern. Die Wachmänner waren derart damit beschäftigt, die Schaulustigen auf Distanz zu halten, dass keiner Zeit fand, den Gefangenen zu knebeln. So stachelte Störtebeker eine Häuserzeile nach der andern an, seinen Lauf ohne Kopf auf keinen Fall zu verpassen.

Selbst das Lauffeuer konnte kaum mithalten, so rasch verbreitete sich die sensationelle Neuigkeit in der Stadt. Obwohl Miles die Meinung der gemeinen Stadtbevölkerung, die keinerlei Wahlrecht besass, nicht zu kümmern brauchte, wurde die Geschichte zunehmend unangenehm für ihn. Weniger in Verruf zu kommen, ein Feigling zu sein, denn als Sündenbock zu gelten, dass der Pöbel seine Sensationslust nicht befriedigen konnte, wurde je länger je problematischer. Die Hinrichtung eines berühmt berüchtigten Piraten wäre unter normalen Umständen spektakulär genug gewesen, um die Leute ein paar Monate in Atem halten, doch nach Störtebekers vollmundiger Ankündigung verlangte der Pöbel nach mehr als einer hundsgewöhnlichen Enthauptung. Erschwerend kam für Miles hinzu, dass sämtliche Ratsherren, die insgeheim auf sein Amt schielten, seine verzwickte Situation natürlich erkannt hatten und ihn unter Druck setzten, wohl wissend, dass für Miles bei der ganzen Sache nichts zu gewinnen war.

Doch Miles beabsichtigte, aus der Not eine Tugend zu machen und so sass er einige Tage später bereits wieder dem gefesselten Freibeuter gegenüber. Dieses Mal war Störtebeker jedoch wohlweislich nicht verfrachtet worden, sondern der Bürgermeister hatte widerwillig den Weg in das Verhörzimmer des Gefängnisses auf sich genommen. Ob das eine neue Art der Folter sei, ihn mit einem solchen Milchgesicht in einen Raum zu stecken, ohne dass er ihm eine reinhauen könne, fragte Störtebeker Miles zur Begrüssung. Heute könne er ihm leider nichts zu essen anbieten, konterte Miles, worauf Störtebeker ihm mitteilte, das sei nicht weiter schlimm, denn ihm sei sowieso eher zum Kotzen als zum Essen zumute, wenn er in die Visage eines Pfeffersacks blicken müsse.

Miles atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Er habe über diese kindische Wette nachgedacht, sagte er. Zwar liege es ihm fern mit einem solchen Strolch in irgendeiner Weise eine Übereinkunft zu treffen, aber weil er ein gütiger Mann sei, wolle er tatsächlich denjenigen Piraten, an denen Störtebeker nach seiner Enthauptung noch vorbeischreite, das Leben schenken. Dann dürfe er aber gefälligst nicht gefesselt werden, sonst sei die ganze Übung ziemlich witzlos, erwiderte Störtebeker argwöhnisch. Er träume wohl, lachte der Bürgermeister. Er werde geknebelt und seine Hände gefesselt. Die Füsse könnten seinetwegen frei bleiben. Das sei aber sein letztes Wort.

Der Henker

Dieser Auftrag würde ihm einen Platz in den Ruhmeshallen seiner Zunft sichern. Nicht nur dass es sich um den berühmtberüchtigten Seeräuber Störtebeker handelte und diese irrsinnige Abmachung mit dem Bürgermeister galt, auch die schiere Anzahl an Männern war einzigartig. Wobei diese aufgrund der Abmachung theoretisch noch sinken konnte. Allerdings hatte Scharfrichter Rosenfeld aus Buxtehude noch nie erlebt, dass sich ein Geköpfter noch nennenswert geregt hätte. Letzte Zuckungen durchliefen zuweilen die Körper, aber das war alles. Deshalb ging er mal von 73 Enthauptungen am selben Tag aus. Das lag meilenweit über seinem bisherigen Höchstwert und immer noch weit über allen ihm bekannten Massenhinrichtungen.

Rosenfeld entrollte das Pergament, das er vom Stadtschreiber erhalten hatte und die Liste der Verurteilten enthielt. Aufmerksam studierte er Namen, Alter und Herkunft der Männer. Etwa in der Mitte der Liste geriet er ins Stocken. War das möglich? Konnte das tatsächlich ihr Bruder sein? Vor-, Nachname und Geburtsort stimmten überein, mit dem, was Trude ihm von ihrem verschollenen Bruder erzählt hatte und auch das Alter passte. Grosser Gott, das brachte ihn gewaltig in die Zwickmühle. Wenn Trude mitbekäme, dass er ihren Bruder hingerichtet hatte, würde sie mit Sicherheit nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Erst recht nicht, wenn sie diesen Bruder seit Jahren schon vermisste, abgöttisch verehrte und immer wieder erzählte, wie gerne sie ihn wiedersehen würde.

Als Henker wurde Rosenfeld von seinen Mitmenschen gemieden wie die Pest. Einen Henker zu berühren, bringe Unglück, sagte der Volksmund. Im Wirtshaus ass er alleine am Tisch, in der Kirche sass er alleine auf der Bank und auf dem Markt machten alle, die wussten, wer er war, einen grossen Bogen um ihn. Als junger Mann hatte ihn das wenig gekümmert. Da reichten ihm die flüchtigen Bekanntschaften, die er inkognito schliessen konnte, aus. Doch war auch er nur ein Mensch. Ein Mensch mit seinen Sorgen und Nöten und je älter er wurde, desto mehr wuchs das Bedürfnis, sich jemandem anvertrauen zu können. Zu seinem Leidwesen war aber jede Freundschaft im selben Moment beendet, in dem er seinen Beruf preisgab. Piet Admusson war gar vom Stuhl auf- und aus dem Fenster seiner Wohnung im ersten Stock gesprungen, nachdem ihm Rosenfeld eröffnet hatte, wie er seine Brötchen verdiente.

Einzig mit anderen Scharfrichtern konnte er tiefergehende Gespräche führen und seine Sorgen loswerden, doch die lebten alle mindestens einen halben Tagesmarsch entfernt. In Hamburg war er der Einzige seines Standes. Die Hoffnung auf eine Beziehung hatte er daher aufgegeben, denn einem Henker standen für die Partnersuche in der Regel bloss die Familien anderer Henker offen. Was sich ihm dort anbot, war allerdings nicht eben verlockend. Das Verlangen seiner Lenden stillte er daher in Freudenhäusern. Doch selbst die wenigen Dirnen, die nach dem geschäftlichen Teil bereit waren, noch ein wenig zu plaudern, begannen hysterisch zu kreischen, sobald er seine Erwerbstätigkeit erwähnte.

Trude jedoch war anders. Er hatte sich vorsichtshalber schon angezogen, um nicht noch hektisch seine Kleider zusammensuchen zu müssen, wenn er rausgejagt würde, als er ihr beichtete, wer er war. Doch anstatt loszuschreien, blickte sie ihn fasziniert an und bat ihn, noch ein wenig zu bleiben und von seinem Beruf zu erzählen. Sie hörte ihm aufmerksam zu und wollte jedes Detail seiner Arbeit erfahren, bis es an die Tür klopfte und eine Stimme in scharfem Ton mitteilte, dass die Zeit um sei. Von diesem Tag an zog es Rosenfeld immer wieder und immer stärker zu Trude. Sie war der erste und einzige Mensch, dem er sein Herz öffnen konnte. Aber auch Trude vertraute sich ihm an und so erfuhr er von ihrem älteren Bruder, der sich immer schützend zwischen sie und ihren gewalttätigen Vater gestellt hatte, bis er es eines Nachts, vom Vater grün und blau geprügelt, nicht mehr ausgehalten hatte. Er war von zu Hause ausgerissen, nicht ohne jedoch seiner Schwester seine ganzen Habseligkeiten in ihrem Versteck unten am Bach zu hinterlassen. Weil es auch Trude wenig später nicht mehr ausgehalten hatte und ebenfalls abgehauen war, hatte sie nie wieder etwas von ihrem Bruder gehört.

Ein Wiedersehen mit ihrem über alles geliebten Bruder würde Trude überglücklich machen. Allerdings nur, solange er dabei seinen Kopf auf dem Hals trug und der auf absehbare Zeit dort bleiben würde. Andernfalls wäre es vorbei mit der Herrlichkeit, denn Trude würde sicher nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, wenn er ihren Bruder geköpft hätte. Rosenfeld rieb sich nachdenklich die Stirn. Im vorliegenden Fall schien die Lösung auf der Hand zu liegen. Daher griff der Scharfrichter zur Feder, tunkte sie ins Tintenfass und machte mit einem kleinen Strichlein aus der Drei in Trudes Bruders Geburtsjahr eine Neun.

Die Hinrichtung

Es herrschte kein Wetter am 20. Oktober 1401. Der Himmel war weder blau noch grau, es war weder kühl noch warm und nicht der geringste Windhauch war zu spüren. Aus jeder anderen Witterung hätte man irgendeine göttliche Botschaft zur anstehenden Massenhinrichtung deuten können. An diesem Tag liessen die Wetterbedingungen hingegen höchstens die Vermutung zu, dass sich Gott keinen Deut um diese menschliche Schmierenkomödie scherte. Ganz im Gegensatz zu seinen Schäfchen in und um Hamburg herum. Die Vorfreude der Schaulustigen auf das Mordsspektakel war mit Händen greifbar. Sie hatte sich seit dem Tag von Störtebekers Gefangenentransport innerhalb wie auch ausserhalb der Stadtmauern fortlaufend aufgebaut und beherrschte die Gespräche sowohl in den feinsten Gaststuben wie auch in den heruntergekommensten Spelunken. Während in Ersteren darüber debattiert wurde, wie die Autorität mit einem solchen Halunken umgehen sollte, wurden in Letzteren die wildesten Szenarien ausgemalt, wie Störtebeker seine grossspurige Ankündigung in die Tat umsetzen würde.

Der Grasbrook vor der Hafeneinfahrt, wo sich der Richtplatz befand, war gerammelt voll. Schon Stunden vor der Hinrichtung waren die Massen herbeigeströmt. Es herrschte Jahrmarktstimmung. An improvisierten Ständen wurden Waren, Speis und Trank feilgeboten, Musikanten spielten auf und Gauklergruppen gaben ihre Kunststücke zum Besten. Einen solchen Menschenauflauf hatte Rosenfeld bei einer Hinrichtung noch nie erlebt. Das allein wäre Grund genug gewesen, um aufgeregt zu sein. Doch darüber hinaus war da noch die Geschichte mit Trudes Bruder. Der Scharfrichtet betete zu Gott, dass sein Plan aufgehen möge.

Einige Tage zuvor war ein Zaun errichtet worden, der den Pöbel fernhalten und ausreichend Platz für die Exekution einer solchen Menge an Verurteilen bieten sollte. Der daraus entstehende Richtplatz war gegen eine halbe Hektare gross. Inmitten des Runds stand Rosenfeld mit seinem langen, blankpolierten Richtschwert und wartete. Ausser ihm war der Richtplatz noch leer, abgesehen von einigen Soldaten, die am Zaun herumlungerten und zwei Gerichtsschreibern, die in gebührenden Abstand zum Henker ihre Köpfe zusammenstreckten und diskutierten. Ausserhalb des Zauns herrschte dichtes, reges Treiben und einige Schaulustige hatten bereits die vordersten Plätze direkt am Zaun in Beschlag genommen.

Die verurteilten Piraten und der Stadtrat hätten eigentlich längst eingetroffen sein müssen. Vorerst erschien aber nur der verschwitzte, keuchende Sekretär des Bürgermeisters auf dem Richtplatz und gab Bescheid, dass die Gassen der Stadt heillos verstopft seien und der Konvoi kaum vorwärtskomme, ob all den Gaffern und Radaumachern. Knapp eine Stunde später kamen die Mitglieder des Stadtrates an, die sich irgendwann vom Konvoi gelöst und über Umwege auf den Grasbrook gelangt waren. Erst nach einer weiteren Stunde kündigte ein tumultartiger Lärm aus der Ferne die Ankunft Störtebekers und seiner todgeweihten Seemänner an. Ursprünglich mit dem Auftrag betraut die Straftäter zu bewachen war die bis auf den letzten Mann aufgebotene Stadtwache mit nichts anderem beschäftigt, als den Pulk zurück- und sich durch ihn hindurch zu drängen. Währenddessen wurde der Pöbel von einem wild umherhampelnden und - soweit es die Fesseln und der Knebel zuliessen - faxen machenden Störtebeker angepeitscht.

Die mit dem Konvoi aus der Stadt mitziehende vermengte sich mit der vor der Stadt auf dem Grasbrook wartenden Menschenmasse und von da an musste sich die Stadtwache den Weg zum Richtplatz regelrecht freiprügeln. Die Verurteilten sollten längst nicht die einzigen Todesopfer an diesem Tag bleiben. Als alle Beteiligten endlich am Ort des Geschehens versammelt waren, war die Stimmung im und ums Rund bereits gewaltig aufgeheizt. Obwohl jeder Verurteilte von einem Soldaten der Stadtwache mit einer Lanze im Rücken bewacht wurde, hatte Scharfrichter Rosenfeld seine liebe Mühe, die Seemänner ihrem Alter nach in aufsteigender Folge ins Spalier einzureihen. Rosenfeld selbst hatte Miles diese Reihenfolge vorgeschlagen und der hatte nicht nur keinen Verdacht geschöpft, sondern war regelrecht begeistert gewesen von der Idee, die sich politisch hervorragend verwerten liess. Deshalb und wegen Rosenfelds kleiner Korrektur auf der Liste der Verurteilten stand Trudes Bruder an drittvorderster Stelle.

Die Menschen drängten sich derweil dicht und dichter an den Zaun heran, johlten, pfiffen und warfen mit faulem Obst und Gemüse um sich. Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis endlich die Trommeln ertönten und Miles vortrat, um das Urteil zu verlesen und seine salomonische Lösung mit der Reihenfolge nach Alter der Verurteilten zu verkünden. Doch so fest er auch dagegen anschrie, ging seine Fistelstimme im Lärm des allgemeinen Trubels vollkommen unter. Selbst Rosenfeld, der nicht weit weg von ihm platziert war, verstand kaum ein Wort des Bürgermeisters. Störtebeker krümmte sich derweil vor Lachen. Den suchenden Blicken des Scharfrichters in seine Richtung schenkte der Pirat keine Beachtung.

Nach dem Bürgermeister trat ein Pfarrer vor, der zwar über ein kräftigeres Stimmorgan verfügte, aber trotzdem nur unwesentlich mehr Gehör fand. Dann war es endlich so weit. Störtebeker wurde vorgeführt und im selben Augenblick kehrte auf dem Grasbrook Stille ein. Rosenfeld nahm seine Position vorne am Anfang der Kolonne der Verurteilten ein. Endlich hatte der Freibeuter den Blick des Scharfrichters mit einem Zwinkern erwidert, bevor er ihn seiner Mannschaft zuwandte. Die Menge auf dem Marschland vor den Toren Hamburgs hielt den Atem an, während der Kapitän mit geschwelter Brust und hoch erhobenem Haupt ein letztes Mal den Blick über seine Männer schweifen liess. Unmittelbar nachdem seine Wache die Fussfesseln gelöst hatte, schlug sich Rosenfeld mit der Breitseite seines Schwerts gegen den Fuss. Auf dieses Zeichen hin, rannte Störtebeker los. Rosenfeld hob das Schwert auf die Höhe der Kerbe.

Drei Wochen war es her, seit er für seine Unterredung mit Störtebeker das Gefängnis aufgesucht hatte. Dass ein Henker dem Verurteilten Anweisungen für seine Hinrichtung erteilte, war nichts Aussergewöhnliches, erst recht nicht bei einer derartigen Affiche. Weder sein Besuch noch der lange Stock, den er mit sich getragen hatte, hatten Anlass gegeben, Verdacht zu schöpfen, zumal Rosenfeld ein Hinken vorgetäuscht hatte und auch Gefängniswärter so wenig wie nur irgendwie möglich mit einem Henker zu tun haben wollten. Rosenfeld war äusserst angetan gewesen von Störtebeker, der sich zuallererst dafür entschuldigte, seinem Gast keine Erfrischung anbieten zu können ausser einem Schluck aus der Wasserlache am Boden, wovon er aber abrate, denn da pisse er notgedrungen jeweils rein. Im Gegensatz zum was sich der Scharfrichter gewohnt war, hatte sich der Freibeuter seiner Gesellschaft gänzlich ungezwungen verhalten und noch so manchen Spruch mehr geklopft. Nachdem die Schritte der Wärter verklungen waren, war Rosenfeld sofort zur Sache gekommen und hatte Störtebeker in seinen Plan eingeweiht. Der Pirat hatte ohne zu zögern zugestimmt, sich anstandslos neben den Stock gestellt und das Kinn gehoben, damit Rosenfeld Mass nehmen und auf der Höhe von Störtebekers Hals eine Kerbe einritzen konnte.

Auf der Elbinsel vor den Toren Hamburgs unter dem blassen Himmel und den Augen der tausenden, atemlosen Zuschauer stürmte der dem Tode Geweihte breit grinsend auf seinen Henker zu. Dieser holte zum Hieb aus und schwang sein Schwert, kurz bevor der heranpreschende Störtebeker ihn passiert hatte, wie er es in den letzten zwanzig Tagen tausendfach geübt hatte. Der messerscharfe, geölte Stahl glitt waagrecht und sauber durch des Piraten Kehle zwischen zwei Halswirbeln hindurch, ohne mehr Rückstoss als irgendwie möglich bei seinem früheren Träger zu verursachen. Störtebekers Kopf blieb praktisch in der Luft stehen, während sein Körper unter ihm hinfort rannte Ein Schritt, zwei Schritte, drei, vier, fünf, dann geriet er ins Taumeln. Auf der Höhe des elften Matrosen brachen die Beine schliesslich ein, der Körper überschlug sich und blieb mit verrenkten Gliedern im Gras liegen. Einen Atemzug später brandete ohrenbetäubender Jubel auf.

Zu Rosenfelds Leidwesen ist auch der zweite Teil der Legende wahr. Miles zeigte sich nach Störtebekers postmortalem Kunststück als schlechter Verlierer. So sei nicht gewettet worden, kreischte er mit hochrotem Kopf und gab den Befehl auf der Stelle sämtliche Seeräuber zu exekutieren. Im darauffolgenden Tumult hatten die unbewaffneten Gefangenen gegen die mit Lanzen, Säbeln und Pfeilbogen ausgerüsteten Stadtwachen nicht die geringste Chance. Einer nach dem andern fiel leblos ins Gras, auch der Bruder von Trude, welche nie erfahren sollte, dass ihr sehnlichst vermisster Bruder unter den Gefangenen war. Denn der Scharfrichter Rosenfeld wurde von Bürgermeister Miles noch an Ort und Stelle angeklagt mit den Seeräubern unter einer Decke zu stecken, verurteilt und mit seinem eigenen Schwert enthauptet.
 



 
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