Die Wanderbaustelle

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Mariaan

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Die Wanderbaustelle

Der Betonmischer stöhnte, die Schubkarre verdrehte die Augen. Schon wieder umziehen. Auch die anderen waren alles andere als begeistert. Die Ampelanlage blinkte hektisch rot, gelb, grün. Der Werkzeugkasten bebte vor Wut, so dass lautes Geschepper durchs Treppenhaus hallte. Nicht schon wieder. Seit einer Woche ging das so, treppauf, treppab. Jeden Tag wurde in einer anderen Etage gearbeitet. Der Verkehrsleitkegel und die Leitbake hatten inzwischen Blasen an den Füßen. Tagsüber schufteten sie, und nachts, wenn alle anderen Feierabend hatten, mussten sie noch ihre steifen Glieder durchs Treppenhaus ins nächste Stockwerk schleppen.

Das Umleitungsschild und das Baustellenschild 'Betreten der Baustelle verboten! Eltern haften für ihre Kinder!' versuchten mit Vernunft die Stimmung zu heben: „Denkt dran, wir haben immerhin einen Job und sind nicht in Kurzarbeit.“ „Ihr habt gut reden“, gaben Schaufeln und Spitzhacke zurück, „Ihr braucht auch den ganzen Tag nichts anderes zu tun als rumzuhängen.“

Der Bagger kicherte hysterisch. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich es heute noch schaffe mich wieder in ein anderes Stockwerk zu wuchten. Wo müssen wir denn dieses Mal hin?“

Die Säge wusste Bescheid. „Heute waren wir im Erdgeschoss, morgen geht’s im fünften Stock weiter.“

Der entsetzte Aufschrei aller Geräte, Maschinen und Absperrschranken hallte im Treppenhaus wider. Eine Träne der Verzweiflung rollte der Ampel aus der Grün-Leuchte und der Werkzeugkasten tobte.

Schaufeln, Spitzhacke und Säge machten sich auf Richtung Schubkarre. „Können wir bei Dir einsteigen?“

„Nee, Leute, ich bin platt. Mit Beladung komme ich nicht mehr in den 5. Stock“, lehnte die Schubkarre ab.

Es musste eine andere Lösung her.

Der kleine Schraubenzieher, der eigentlich in den Werkzeugkasten gehört hätte, aber auf dem Boden lag, überlegte kurz und schlug vor: „Wir fahren Fahrstuhl.“

Ein Raunen ging durch die Menge. Wie soll das das denn gehen? Der ist doch viel zu eng für uns. Ich habe Platzangst. Sind wir nicht zu schwer? Wie kriegen wir die Tür auf?

Der kleine Schraubenzieher warf einen Blick auf den Fahrstuhl, dann in die Menge. „Umleitungsschild, wenn Du Dich mit der Spitze Richtung Fahrstuhl stellst, müsstest Du den Fahrstuhlknopf genau treffen.“

Es wurde gerutscht, geschoben und gerückt. Schließlich stand das Umleitungsschild am Fahrstuhlknopf und drückte. Tatsächlich, der Fahrstuhl bewegte sich und kurz darauf öffnete sich die Tür. Alle drängten Richtung Fahrstuhl. Der Betonmischer und der Bagger verkeilten sich in der Tür.

„Stopp, Stopp, Stopp!“ rief der kleine Schraubenzieher. „Einer nach dem anderen. Wir passen nicht alle rein und müssen sicher mehrmals fahren“

Die Schubkarre wandte sich an die Schaufeln, Spitzhacke und Säge. „Kollegen, steigt bei mir ein. Wenn wir Fahrstuhl fahren, nehme ich euch mit.“ Schwupps, schon lagen sie drin.

Betonmischer und Bagger, sowie die Absperrschranke und der Verkehrsleitkegel standen inzwischen im Fahrstuhl, der damit voll war. Die Tür schloss sich. Die übrig gebliebenen warteten eine Weile. Dann drückte das Umleitungsschild wieder den Fahrstuhlknopf. Die Tür öffnete sich und sie blickten auf den Betonmischer, den Bagger und die anderen.

„Der fährt nicht“, stellte der Verkehrsleitkegel fest. „Ooohh“, stöhnten die anderen enttäuscht.

„Hier drin sind auch noch Knöpfe“, meinte der Bagger. Die Ampel steckte ihren Kopf in den Fahrstuhl. „Stimmt, da sind ganz viele Knöpfe mit Zahlen drauf. Einer leuchtet, da steht „E“ dran.“

„Das ist aber ein Buchstabe“, warf das Baustellenschild 'Betreten der Baustelle verboten! Eltern haften für ihre Kinder!' von hinten ein.

Die Säge wurde gebeten sich das genauer anzusehen. Sie stieg auf den Betonmischer, betrachtete die Knöpfe eingehend und schlug vor: „Vielleicht muss man hier auch drücken, damit das Ding fährt. Wir müssen doch in den 5. Stock. Vielleicht müssen wir auf die 5 drücken?“

„Bevor wir zu Fuß gehen, probieren wir das aus“, entschied der Werkzeugkasten.

Doch wie an den Knopf kommen? Die Spitze des Umleitungsschilds kam nur an die 3. Der kleine Schraubenzieher schaute umher und hatte die Idee, die Griffe der Schubkarre könnten die Höhe von 5 haben. Erneutes Rücken und Schieben. Der Bagger stieg wieder aus, dafür die Schubkarre ein. Und tatsächlich, sie kam genau an den Knopf mit der 5.

Die Tür schloss sich und die Zurückgebliebenen hörten ein Surren. Als das Surren aufhörte, war erst ein Gerumpel, dann lauter Jubel zu hören. Offensichtlich waren die anderen im 5. Stock angekommen. „Huhu, wir sind oben“ hörte man den Verkehrsleitkegel durchs Treppenhaus rufen.

Kurz darauf war der Fahrstuhl wieder im Erdgeschoss. Die Schubkarre stand noch im Fahrstuhl, denn da ja nur sie an den Knopf mit der 5 kam, war sie wieder mit runtergefahren. Dieses Mal stiegen die Ampelanlage und der Bagger zu. Schwupps ging es nach oben. Noch ein weiteres Mal kam der Fahrstuhl mit der Schubkarre nach unten, der Werkzeugkasten, das Umleitungsschild und die anderen Verbliebenen stiegen ein.

Kurz darauf waren alle im 5. Stock angekommen. Oben herrschte großer Jubel und ausgelassene Stimmung. Es wurde gefeiert und getanzt. Die Ampelanlage lag sich mit dem Umleitungsschild in den Armen. Eine Schaufel und die Spitzhacke legten ein schnelles Tänzchen aufs Parkett, der Werkzeugkasten und der Betonmischer tanzten Pogo. Die Säge und der kleine Schraubenzieher sangen laut. So ausgelassen war die Stimmung abends schon lange nicht mehr gewesen.

Sie feierten noch ein paar Stündchen und als sie am nächsten Morgen wach wurden, waren sie so ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Die Handwerker wunderten sich später, dass ihnen heute die Arbeit so gut von der Hand ging.
 
Zuletzt bearbeitet:

Rosa Feder

Mitglied
Hallo Mariaan,

super geschrieben!
Ich finde die Geschichte sehr amüsant, konnte mir deine Charaktere bildlich sehr gut mit ihrem Problem vor dem Fahrtstuhl vorstellen und musste immer wieder lachen.

Großes Lob dafür!

Viele Grüße
Rosa Feder
 

Mariaan

Mitglied
Lieben Dank, liebe Rosa Feder!
Ich habe meine ersten Geschichten erst Ende August geschrieben, nachdem ich aus einer spontanen Laune heraus einen VHS Kurs 'Kreatives Schreiben' besucht hatte. Ich bin immer ganz aufgeregt, wenn ich hier etwas einstelle, weil ich - ehrlich gesagt - überhaupt kein Gefühl dafür habe, ob sie jemand anderes unterhalten könnten. Daher freue ich mich um so mehr über Deine Rückmeldung.
Das Wort 'Wanderbaustelle' hat schon im Verkehrsfunk immer herrliche Bilder in meinem Kopf ausgelöst und als ich den Artikel in der FAZ von der Wanderbaustelle im Frankfurter Messeturm las, musste ich so lachen und hab mich schnell hingesetzt und losgeschrieben.
Viele Grüße
Mariaan
 

Rosa Feder

Mitglied
Hallo Mariaan,

sehr gerne!
Das mit der Aufregung kenne ich, geht mir genauso! Was habe ich mich gefreut, als ich dieses Forum hier gefunden habe.
Wirklich toll, dass man hier solch schöne Texte/Geschichten lesen und sich austauschen kann.

Tatsächlich habe ich mir bisher nie Gedanken über Wanderbaustellen gemacht und nun dank dir noch etwas dazu gelernt. :)
Das ist und bleibt immer noch das Schönste, wenn man von Alltäglichem (wie zum Beispiel einem Verkehrsfunk) zu einer Geschichte inspiriert wird.

Viele Grüße
Rosa Feder
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Mariaan,

Du hast Deine Protagonisten sehr liebevoll beschrieben, man konnte sich die Situation gut vorstellen. Meine Lieblingsszene: natürlich die Feier, sie hat mich sehr erheitert. Eine Superidee!

Gruß, Ciconia
 
Hallo Mariaan,

das ist eine lustige Geschichte. Ließe sich gewiss auch auf andere Arbeitsbereiche übertragen. Ich denke nur an diesen Disney-Film, in dem sich das Küchengeschirr und andere Gegenstände miteinander kommunizieren. Oder eben andere Filme, wo sich die Tiere untereinander verständigen.
Aber das mit den Baustellengerätschaften ist auch eine niedliche Idee.
Gerne gelesen.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mariaan,

eine amüsante Geschichte!

Ich würde allerdings den Hinweis auf den FAZ-Artikel entfernen. Er nimmt zu viel vorweg und die Inspirationsquelle muss man ja nicht nennen.

Viele Grüße

DS
 

molly

Mitglied
Hallo Mariaan,
das ist eine phantasievolle Geschichte. Ich bin auch der Meinung, wie DocSchneider, dass der Hinweis auf die FAZ unnötig ist.

Viele Grüße
molly
 

Mariaan

Mitglied
Lieber DocSchneider, liebe Molly,
vielen lieben Dank für die Rückmeldung und den Tipp.

Ich habe den Hinweis auf den FAZ Artikel entfernt.

Viele Grüße
Mariaan
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Hallo @Mariaan

zunächst sprachliche Kleinigkeiten:

Wo müssen wir den dieses Mal hin?“
denn

Der entsetzte Aufschrei aller Geräte, Maschinen und Absperrschranken hallte im Treppenhaus wieder.
hallte wider

„Das ist aber ein Buchstabe“, warf das Baustellenschild „Betreten der Baustelle verboten! Eltern haften für ihre Kinder!“ von hinten ein.
"Das ist aber ein Buchstabe", warf das Baustellenschild von hinten ein. ""Betreten der Baustelle verboten! Eltern haften für ihre Kinder!"

Erneutes rücken und schieben.
Erneutes Rücken und Schieben.
Eine Schaufel und die Spitzhacke legten ein schnelles Tänzchen aufs Parkett, der Werkzeugkasten und der Betonmischer tanzen Pogo.
tanzten Pogo

Sie feierten noch ein paar Stündchen und als sie am nächsten Morgen wach wurden, waren sie so ausgeruht wie schon lange nicht mehr.
Lange wach bleiben und trotzdem ausgeruht am nächsten Morgen? Ich wünschte, ich könnte das auch.


Inhaltlich:

Für mich persönlich funktioniert der Text nicht. Das liegt vor allem an der Personifikation der Gerätschaften. Wenn in Fabeln
Tiere personifiziert werden, funktioniert das, weil Tiere eben auch einen Mund (oder ein Maul), Füße (Pfoten) und Arme haben.
Wenn dann ein Fuchs spricht, kann ich mir das vorstellen.

Der Betonmischer stöhnte, die Schubkarre verdrehte die Augen.
Für mich hakt es schon im ersten Satz. Eine Schubkarre mit Augen? Welches Bauelement einer Schubkarre könnte das sein?

Der Verkehrsleitkegel und die Leitbake hatten inzwischen Blasen an den Füßen.
Ein Kegel mit Füßen? Bei einem Tisch oder Stuhl, ja, aber bei einem Kegel?

Diese Problematik mit der Personifizierung macht sich dann später wieder bemerkbar.
Es wurde gerutscht, geschoben und gerückt. Schließlich stand das Umleitungsschild am Fahrstuhlknopf und drückte.
Hier wird nur geschoben, gerutscht und gerückt. Warum nicht gesprungen? Warum springt der Leitkegel nicht einfach auf
die Schubkarre und drückt mit seiner Hand auf den Knopf, wo er doch schon Füße hat.

Ich ahne, dass meine Kritik kleinkariert klingt. Man muss vielleicht bereit sein, die Logik der Personifizierungen nicht allzu
stark zu hinterfragen. Aber selbst dann finde ich eine Geschichte von Gerätschaften, die per Aufzug in den fünften Stock
fahren, nur mäßig interessant. Im Grunde erkenne ich hier das gleiche Problem wie bei meinem Text mit der Tunnelrutsche.
Man hat eine Idee (Wanderbaustelle ganz wörtlich verstehen) und fängt an zu schreiben. Beim Schreiben aber erkennt man
die praktischen Probleme des Textes und schreibt um sie herum unbeirrt weiter, weil einem die Ausgangsidee so gut gefiel.

Wie gesagt, nur meine persönliche Meinung.

Liebe Grüße,

CPMan
 



 
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