VeraL
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Die Tage zwischen dem 23. Dezember und Neujahr waren die traurigste Zeit im Jahr, da waren sich alle Bücher in der kleinen Bibliothek einig. Besonders schlimm war Weihnachten. Am Tag vor dem Heiligen Abend wurden die letzten Ausleihen zurückgebracht. Zum Fest bekamen die Menschen schließlich neue Dinge geschenkt. Frau Weigel, die Leiterin der Bücherei, nahm den Adventskranz, die restlichen Plätzchen vom Schnuppteller und die Schokonikoläuse und schenkte sie den ehrenamtlichen Mitarbeitern. Dann stellte sie die Heizung herunter, schaltete das Licht aus, hänge ein „Geschlossen bis zum 3. Januar“-Schild an die Tür und ging in ihren Weihnachtsurlaub. In den dunklen und kalten Regalen rückten die Bücher enger zusammen, um sich zu wärmen, und fanden Weihnachten blöd.
Die Bücher am Fenster berichteten am nächsten Tag den anderen Titeln, die nicht das Glück hatten, sehen zu können, was draußen vor sich ging. „Dahinten rennt ein Mann in einem schicken Anzug. Er versucht, in den Parfumladen zu kommen, aber der hat schon geschlossen.“
„Weihnachten scheint stressig zu sein. Ich weiß nicht, was die Menschen daran finden.“ Das kam aus der Ecke mit den Ratgebern.
„Vollkommen richtig.“ Die Thriller murmelten zustimmend. „Mord und Totschlag gibt es dann.“ Die Krimis fingen an, sich mit weihnachtlichen Mordgeschichten zu überbieten, aber das wurde den anderen Büchern zu gruselig. „Pssst, die Bilderbücher sind noch wach“, herrschte der dicke Elternratgeber die Krimis an, die sich daraufhin maulig hinten ins Regal verzogen.
Die Kochbücher geben das Thema nicht auf: „Das wundert mich gar nicht, dass sich um diese Jahreszeit alle gegenseitig umbringen. Wenn ihr so ein komplettes Weihnachtsmenü kochen müsstet, wärt ihr auch fertig mit den Nerven. Ich sag euch, alleine die ganzen Zutaten besorgen. Und dann die Tischdeko. Ehrlich, da würde jeder einen Rappel kriegen.“
Die anderen Bücher nickten mitfühlend und betrachteten „Köstliche Weihnachten“ und „Zauberhafte Weihnachtsmenüs“, die völlig erschöpft auf einem Präsentationsständer lagen und sich nicht rührten. Wahrscheinlich würden sie sich vor Ostern nicht mehr erholen.
„Schreckliche Erfindung dieses Fest, ganz und gar furchtbar. Es zeigt die Schlechtigkeit der Menschen“, brummte das dicke Buch mit den Märchen von Hans Christian Andersen.
„Jetzt komm uns nicht wieder mit dem alten Märchen von der kleinen Tanne, die im Wald geschlagen wird und erst zum Christbaum und dann zum Feuerholz wird. Die erzählst du jedes Jahr und wir können sie nicht mehr hören“, sagte ein frecher Comic. „Lass uns bloß in Ruhe mit den alten Kamellen. Und verdirb jetzt nur nicht allen die Laune, indem du von dem armen kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern anfängst.“
Der Märchenband machte beleidigt „Hmmpf“ und sagte dann nichts mehr.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Drinnen brachte nur das Schild zum Notausgang etwas grünliches Licht. Während sich Krimis, Kochbücher und Ratgeber weiter aufregten, begann es überall in den Regalen zu rascheln und zu murmeln. Besonders in der Ecke mit den Kinderbüchern wurde getuschelt.
„Hey, Ruhe auf den billigen Plätzen, wenn die Erwachsenen reden.“
„Nee, jetzt reicht es uns. Ihr seid so zynisch. Weihnachten ist wunderschön.“ Das war „Madita“, eine der mutigeren Kindergeschichten.
„Ach komm, bei Astrid Lindgren ist alles wunderschön“.
Da brach ein Sturm der Entrüstung los. Manche Bücher durfte man einfach nicht beleidigen. Die Kisten mit den Bilderbüchern rumpelten und wackelten, als ihre Bewohner aufgeregt darin herumhüpften und drohten umzufallen.
„Wir wollen jetzt ein Weihnachtsfest. Ein richtiges. Mit Christbaum und Geschenken und Liedern und Pfefferkuchen und allem Zipp und Zapp.“
„Jawohl. Das wollen wir.“
Ein Karibik-Reiseführer bekam einen Lachanfall. „Wie soll das denn gehen? Wo soll der ganze Kram herkommen? Ihr spinnt ja.“
„Dass fantasielose Reiseführer das nicht verstehen, ist ja wieder klar“, mischte sich „Tintenherz“ ein. „Wir sind Bücher. Weihnachten ist die Zeit für Geschichten und Fantasie. Wir müssen uns nur fest genug vorstellen, was wir wollen, dann wird es real.“
Der Reiseführer wedelte abwertend mit seinem Schutzumschlag. „Nie im Leben. Und selbst wenn, dann würde ich mich auf eine Kreuzfahrt träumen. Mit Sonne und blauem Meer.“ Seine Stimme wurde vom aufgeregten Rufen der Anderen übertönt. Auf Meer und Sonne hatte jetzt niemand Lust.
„Wie wäre es mit einem Kamin?“, dröhnte eine weise Stimme aus der Klassikerabteilung.
„Ähmm, ja, warum nicht?“
Der staubige Band von Theodor Storm bat um Ruhe. Sofort wurde es mucksmäuschenstill. Man sah, wie sich der gelbe Umschlag vor Anstrengung leicht rot verfärbte. Doch nach wenigen Minuten erschien vor einer Wand ein richtiger Kamin mit einem knisternden Feuer. Er war erst etwas durchscheinend, wurde dann aber immer klarer.
Sofort begannen die anderen Bücher in ihrem Inhalt nach Weihnachtsgeschichten zu suchen. Man hörte Jauchzen und freudiges Quietschen, wenn ein Buch etwas entdeckte. Angestrengt pressten sie die Seiten zusammen, um die schönsten Dinge sichtbar zu machen. Bald erschien rechts von dem Kamin ein funkelnder Weihnachtsbaum, um die Regale wanden sich Lichterketten und Girlanden mit Tannenzweigen. Knallbonbons lagen neben Bergen von Geschenken in buntem Glitzerpapier. Sogar die erschöpften Kochbücher schafften es, Teller mit Plätzchen und Bratäpfeln beizusteuern.
„Was fehlt jetzt noch?“, fragte jemand.
„Na, das ist doch klar“, rief ein dicker Notenband. „Wir brauchen Weihnachtslieder.“
Und so erklangen bis tief in die Nacht „Stille Nacht“, „O Tannenbaum“ und „O du Fröhliche“. Niemand meckerte mehr. Weihnachten feiern wir jetzt jedes Jahr, da waren sich alle einig.
Als Frau Weigel am 3. Januar wieder in die Bibliothek kam, wunderte sie sich. Roch es hier nach gebrannten Mandeln und Pfeffernüssen? Und wieso lagen Tannennadeln zwischen den Regalen? „Ich werde ein ernstes Wort mit der neuen Reinigungsfirma sprechen müssen“, schimpfte sie vor sich hin und hielt dann inne. Hatte da jemand gekichert?
Die Bücher am Fenster berichteten am nächsten Tag den anderen Titeln, die nicht das Glück hatten, sehen zu können, was draußen vor sich ging. „Dahinten rennt ein Mann in einem schicken Anzug. Er versucht, in den Parfumladen zu kommen, aber der hat schon geschlossen.“
„Weihnachten scheint stressig zu sein. Ich weiß nicht, was die Menschen daran finden.“ Das kam aus der Ecke mit den Ratgebern.
„Vollkommen richtig.“ Die Thriller murmelten zustimmend. „Mord und Totschlag gibt es dann.“ Die Krimis fingen an, sich mit weihnachtlichen Mordgeschichten zu überbieten, aber das wurde den anderen Büchern zu gruselig. „Pssst, die Bilderbücher sind noch wach“, herrschte der dicke Elternratgeber die Krimis an, die sich daraufhin maulig hinten ins Regal verzogen.
Die Kochbücher geben das Thema nicht auf: „Das wundert mich gar nicht, dass sich um diese Jahreszeit alle gegenseitig umbringen. Wenn ihr so ein komplettes Weihnachtsmenü kochen müsstet, wärt ihr auch fertig mit den Nerven. Ich sag euch, alleine die ganzen Zutaten besorgen. Und dann die Tischdeko. Ehrlich, da würde jeder einen Rappel kriegen.“
Die anderen Bücher nickten mitfühlend und betrachteten „Köstliche Weihnachten“ und „Zauberhafte Weihnachtsmenüs“, die völlig erschöpft auf einem Präsentationsständer lagen und sich nicht rührten. Wahrscheinlich würden sie sich vor Ostern nicht mehr erholen.
„Schreckliche Erfindung dieses Fest, ganz und gar furchtbar. Es zeigt die Schlechtigkeit der Menschen“, brummte das dicke Buch mit den Märchen von Hans Christian Andersen.
„Jetzt komm uns nicht wieder mit dem alten Märchen von der kleinen Tanne, die im Wald geschlagen wird und erst zum Christbaum und dann zum Feuerholz wird. Die erzählst du jedes Jahr und wir können sie nicht mehr hören“, sagte ein frecher Comic. „Lass uns bloß in Ruhe mit den alten Kamellen. Und verdirb jetzt nur nicht allen die Laune, indem du von dem armen kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern anfängst.“
Der Märchenband machte beleidigt „Hmmpf“ und sagte dann nichts mehr.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Drinnen brachte nur das Schild zum Notausgang etwas grünliches Licht. Während sich Krimis, Kochbücher und Ratgeber weiter aufregten, begann es überall in den Regalen zu rascheln und zu murmeln. Besonders in der Ecke mit den Kinderbüchern wurde getuschelt.
„Hey, Ruhe auf den billigen Plätzen, wenn die Erwachsenen reden.“
„Nee, jetzt reicht es uns. Ihr seid so zynisch. Weihnachten ist wunderschön.“ Das war „Madita“, eine der mutigeren Kindergeschichten.
„Ach komm, bei Astrid Lindgren ist alles wunderschön“.
Da brach ein Sturm der Entrüstung los. Manche Bücher durfte man einfach nicht beleidigen. Die Kisten mit den Bilderbüchern rumpelten und wackelten, als ihre Bewohner aufgeregt darin herumhüpften und drohten umzufallen.
„Wir wollen jetzt ein Weihnachtsfest. Ein richtiges. Mit Christbaum und Geschenken und Liedern und Pfefferkuchen und allem Zipp und Zapp.“
„Jawohl. Das wollen wir.“
Ein Karibik-Reiseführer bekam einen Lachanfall. „Wie soll das denn gehen? Wo soll der ganze Kram herkommen? Ihr spinnt ja.“
„Dass fantasielose Reiseführer das nicht verstehen, ist ja wieder klar“, mischte sich „Tintenherz“ ein. „Wir sind Bücher. Weihnachten ist die Zeit für Geschichten und Fantasie. Wir müssen uns nur fest genug vorstellen, was wir wollen, dann wird es real.“
Der Reiseführer wedelte abwertend mit seinem Schutzumschlag. „Nie im Leben. Und selbst wenn, dann würde ich mich auf eine Kreuzfahrt träumen. Mit Sonne und blauem Meer.“ Seine Stimme wurde vom aufgeregten Rufen der Anderen übertönt. Auf Meer und Sonne hatte jetzt niemand Lust.
„Wie wäre es mit einem Kamin?“, dröhnte eine weise Stimme aus der Klassikerabteilung.
„Ähmm, ja, warum nicht?“
Der staubige Band von Theodor Storm bat um Ruhe. Sofort wurde es mucksmäuschenstill. Man sah, wie sich der gelbe Umschlag vor Anstrengung leicht rot verfärbte. Doch nach wenigen Minuten erschien vor einer Wand ein richtiger Kamin mit einem knisternden Feuer. Er war erst etwas durchscheinend, wurde dann aber immer klarer.
Sofort begannen die anderen Bücher in ihrem Inhalt nach Weihnachtsgeschichten zu suchen. Man hörte Jauchzen und freudiges Quietschen, wenn ein Buch etwas entdeckte. Angestrengt pressten sie die Seiten zusammen, um die schönsten Dinge sichtbar zu machen. Bald erschien rechts von dem Kamin ein funkelnder Weihnachtsbaum, um die Regale wanden sich Lichterketten und Girlanden mit Tannenzweigen. Knallbonbons lagen neben Bergen von Geschenken in buntem Glitzerpapier. Sogar die erschöpften Kochbücher schafften es, Teller mit Plätzchen und Bratäpfeln beizusteuern.
„Was fehlt jetzt noch?“, fragte jemand.
„Na, das ist doch klar“, rief ein dicker Notenband. „Wir brauchen Weihnachtslieder.“
Und so erklangen bis tief in die Nacht „Stille Nacht“, „O Tannenbaum“ und „O du Fröhliche“. Niemand meckerte mehr. Weihnachten feiern wir jetzt jedes Jahr, da waren sich alle einig.
Als Frau Weigel am 3. Januar wieder in die Bibliothek kam, wunderte sie sich. Roch es hier nach gebrannten Mandeln und Pfeffernüssen? Und wieso lagen Tannennadeln zwischen den Regalen? „Ich werde ein ernstes Wort mit der neuen Reinigungsfirma sprechen müssen“, schimpfte sie vor sich hin und hielt dann inne. Hatte da jemand gekichert?