Die Wortallergikerin

rotkehlchen

Mitglied
„Mensch Martha! Lange nicht gesehen! Wie geht’s denn so?“
„Beschissen.“
„Ach! Sieht man dir gar nicht an! Wo brennt´s denn?“
„Meine Wortallergie wird immer schlimmer.“
„Deine was?“
„Meine Wortallergie.“
„Nie gehört! Und wie macht sich diese Allergie bemerkbar?“
„Wenn du mir ein Eis spendierst erzähl ich´s dir.“

„Doro, Erinnerst du dich noch an den Jörgi aus der 13A? – Genau der! Neulich traf ich ihn zufällig in der Stadt und da erzählte er mir, er habe vor einem halben Jahr sein Herz verloren und gedenke, demnächst zu heiraten. Ohne zu überlegen rief ich: 'Oh, das ist ja entsetzlich! Warst du schon auf dem Fundbüro?' Silke, lach nicht! Ich weiß selbst, wie dämlich diese Bemerkung war. Was mich dazu bewog war einzig die Tatsache, dass man sein Herz nicht verlieren kann. Ich hab schon alles Mögliche verloren, aber mein Herz noch nie. Ich meine, eine Fahrkarte, gut, die kann man schon mal verlieren, ohne dass man es merkt. Die Geduld kann man verlieren oder etwas aus den Augen, zum Beispiel Tränen. Aber das Herz? Habe schon lange den Verdacht, dass manche Leute zu viel im Kopf haben, um sich präzise auszudrücken.“
„Du hast wirklich gesagt, er soll zum Fundbüro gehen?“
„Natürlich!“
„Und wie hat er reagiert?“
„Er fragte, ob ich noch ganz dicht ihm Kopf sei.“
„Und was hast du geantwortet?“
„Die Wahrheit! Dass ich Wortallergikerin bin und mich eine ungeschickte Wortwahl krank macht.“
„Hmm . . . Ich nehme mal zu seinen Gunsten an, Jörgi hat nur das falsche Wort erwischt. Wer kennt sich denn in der deutschen Sprache schon richtig aus! Ich überlegte, ob er vielleicht sagen wollte. He, sie haben mir mein Herz herausoperiert und durch ein Spenderherz ersetzt.
„Schon möglich. Aber wieso musste er er dann gleich heiraten? Er weiß doch gar nicht, wie lange sein neues Herz durchhält.“
„Tja.
„Vielleicht hat es der Jörgi ja verlegt, das Herz? Hast du daran schon mal gedacht? Wird auch gerne benutzt, das Wort, wenn man etwas vermisst und nicht weiß, wo es gerade ist.“
„Aber natürlich, Doro, natürlich! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Das wird es sein! Er hat es verlegt, sein Herz! Ha, willst du mich verarschen?“
„Nein. Ich denke nur: Was verlegen die Leute auch nicht alles! Mein Vater zum Beispiel ist einer der größten Verleger aller Zeiten, wie man so sagt. Nicht nur wegen seines Bierverlags. Meistens verlegt er auch noch seinen Autoschlüssel. Dann rennt er wie ein Besessener durch die Wohnung, sucht hier, sucht da, schreit: 'Eben war er doch noch da!' und: 'Doro, hast du zufällig meinen Autoschlüssel gesehen? Hab ihn wohl verlegt! Und meine Flasche Bier ist auch weg'! Ich schau mir die Komödie eine Weile an, dann sag ich: 'Mensch Papa, hast du nicht vorhin ein Bier in den Kühlschrank gestellt?' Und rums!, da liegt er, der Schlüssel! Im Kühlschrank! Neben der Bierflasche. Dann steht mein Herr Übervater verlegen grinsend da und brummt: 'Teufel auch, darauf wär ich nie gekommen!'“
„Hmm . . . Sag mal, Doro, du bist in der Zwischenzeit ganz schön füllig geworden. Das viele Eis, wie?“
„Na gut, ein paar Gramm könnte ich schon abnehmen – hallo, Martha, ist dir nicht gut? Du zitterst ja wie Espenlaub!“
„Geht schon, kommt vom abnehmen.“
„Wie, du auch? Bei deiner Figur –“
„Quatsch nicht! Ich meine das Wort 'abnehmen'. Birrr . . . Könnte aus der Haut fahren!“
„Aber wieso denn? Was ist denn an dem Wort so schlimm?“
„Schlimm? Ein Scheißwort ist es! Was willst du dir denn abnehmen? Die Fettringe etwa? Da kann ich nur lachen! Natürlich. Ständig wird den Leuten etwas abgenommen, von der Polizei, vom Finanzamt, im Behördenzentrum, im Krankenhaus, auf dem Flohmarkt, am einarmigen Banditen – man glaubt ja gar nicht, wo und was alles abgenommen wird und wofür es alles Abnehmer gibt. Meine Mutter will sogar beim Nähen Abnehmer entdeckt haben. Aber eine Behörde nimmt nichts ab, sie zieht ein, beschlagnahmt, stellt sicher, konfisziert. Nein nein nein, auch 'abnehmen' trifft´s nicht. Zu vieldeutig, und schwierig, schwierig! Hab schon wieder diesen ekligen Juckreiz, allein vom daran Denken.“
„Dann ziehe ich eben den Bauch ein. Wär es so recht?“
„Mann! Hörst du überhaupt zu? Ich sagte doch eben: Einziehen kann nur ein Amt, eine Behörde. Der Vorteil beim behördlichen Einziehen ist immerhin, dass man sicher kann, dass der konfiszierte Gegenstand irgendwo aufbewahrt wird und man ihn gegebenenfalls wiederbekommt. Aber wo würdest du deine Fettringe denn aufbewahren? Im Kühlschrank etwa? Und, willst du sie wirklich wiederhaben? Na siehst du! Meine Schwester, die Meike – hast du sie eigentlich mal kennengelernt? Egal. Die will ständig – in Anführungsstriche – abnehmen, aber sie schafft es einfach nicht. ,Ich muss unbedingt abnehmen', röhrt sie, 'wenn das so weiter geht, seh ich in zehn Jahren aus wie die dicke Erna!' Ich wollte sie trösten und sagte: 'Was willst du denn abnehmen? Und wo soll das Zeug dann bleiben?', da keifte sie: 'Halt du dich da raus, du Schlampe!'“
„Ehrlich, Martha, solche fetten Sprüche würden mir auch nicht gefallen.“
„Brrrr – Schon wieder so´n Ekelwort.“
„Was hab ich denn nun schon wieder gesagt?“
„Du sagtest gefallen.“
„Und? Was ist daran so ekel?“
„Siehst du diese junge Frau da drüben in dem geblümten Sommerkleid?“
„Ach die! Was ist mit ihr?“
„Es ist ein gefallenes Mädchen.“
„Nun werd mal nicht albern. Das sagt doch heute keiner mehr!“
„Doch, meine Mutter! Neulich sagte meine Mutter zu meinem Bruder: 'Schau mal, Hansi, da drüben, das ist ein gefallenes Mädchen!' Dann warnte sie ihn eindringlich vor dem Umgang mit 'dieser Person', wie sie sich ausdrückte. Ich wunderte mich. Nach meinen Vorstellungen ist die 'Gefallene' kein Mädchen mehr, sondern eine junge hübsche Dame, etwa in meinem Alter. Na gut, vielleicht waren die Lippen für den Geschmack meine Mutter etwas zu rot und der Rock etwas zu kurz. Aber wir sind doch hier nicht im Iran! Und woher wusste meine Mutter überhaupt, dass die Frau gefallen war? Wir hatten nichts dergleichen beobachtet, und, Hand aufs Herz: Wäre sie´s, ich hätte ihr gerne aufgeholfen! Und, warum sollte sich mein Bruder vor einer Person hüten, auch wenn sie sogar mehrmals gefallen sein sollte? Ich zum Beispiel falle ständig. Also, wo ist da ein Problem? Ich fasste mir ein Herz und fragte meine Mutter, was sie gegen diese junge Frau habe, die würd´ mir schon gefallen. Da wurde sie böse und schnauzte: 'Halt den Mund!' Kannst du mir mal sagen, Doro, warum man an einem gefallenen Mädchen keinen Gefallen finden darf?“
„Mein Gott, Martha, es ist halt so´n Wort. Außerdem, viele Männer tun´s ja.“
„Gefallen . . . Wenn ich das schon höre! Dann fängt´s an, mich überall zu jucken. Mach Verrenkungen wie ´n verlauster Affe! Neulich behauptete irgend so ein Nachrichtenonkel, da und da seien etliche Soldaten gefallen und zog ein Gesicht, als litte er an chronischer Verstopfung. Auch dies wunderte mich sehr, denn auf den Militärparaden, die sie immer wieder im Fernsehen zeigen, ist noch nie ein Soldat gefallen. Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, dass einer mal auch nur gestolpert wäre. Das geht immer nur: Eins – zwei – drei – eins – zwei – drei . . . und hei, die Königin!, die Stiefel knallen aufs Pflaster, dass einem Hören und Sehen vergeht. Und sollte wider Erwarten doch mal einer fallen, dann sind doch genug Kameraden da, die ihm aufhelfen könnten. Also, warum tun alle so, als ginge die Welt unter, wenn mal ein paar Soldaten fallen. Wie ich schon sagte, ich falle ständig, und meistens sind gleich ein paar hilfsbereite Leute zur Stelle, die mir unter die Arme greifen. Warum sagen diese Futzis nicht ehrlich, die Soldaten sind getötet worden? Dass sie erschossen wurden? Dass sie elendig krepiert sind? Gefallen! Damit wird doch nichts besser! Nur das Wort ist verdorben! Gibt es überhaupt noch ein Wort, dem man vertrauen kann? Gibt es das überhaupt noch, das einfache, unverdorbene Wort? Manchmal habe ich den Eindruck, dass übler Mundgeruch nicht vom Magen, sondern von verdorbenen Wörtern kommt.“
„Nun mal nicht gleich den Teufel an die Wand! Es gibt schon noch einfache, unverdorbene Worte. Zum Beispiel Liebe, Treue, Ehrlichkeit.“
„Unsinn. Absoluter Fake. Wie kann einer lieben, wenn er sein Herz verloren hat, wie der Jörgi? Gibt es eine herzlose Liebe? Und Ehrlichkeit! Da kann ich nur lachen! Neulich hörte ich im Radio, irgendein Minister wolle sich mal 'ehrlich machen'. Sofort bekam ich wieder dieses Jucken. Das heißt doch, genau genommen will er sagen: All die vergangenen Jahre war ich ein verlogenes Schwein, doch jetzt, vor den Wahlen . . . Könnte lang auf den Tisch kotzen! Der Kerl war all die Jahre, die er im Amt ist, ein Lügner, und jetzt auf einmal, von einer Sekunde auf die andere, will er sich ehrlich machen! Wie denn? Indem er aufhört zu lügen? Im Wahlkampf? Glaub ich den lieben langen Tag nicht!“
„Mein Gott, Martha, du nimmst das alles zu genau, zu wörtlich! Das sind doch Redensarten!“
„Ja zu Teufel, wie soll ich Wörter denn nehmen, wenn nicht wörtlich? Verlieren, verlegen, abnehmen, gefallen, entsorgen . . . Alles Wörter, denen man nicht trauen kann, und die bei mir allergische Reaktionen hervorrufen. Und das sind beileibe noch nicht alle. Da sind auch noch die Wörter 'alt' und 'dick'. Diese beiden Erzspitzbuben der deutschen Sprache sind für mich das, was für andere Allergiker Katzenhaare sind.
Ein paar Beispiele. Da rennt doch vor ein paar Tagen der Flurnachbar aus der Tür und brüllt: 'Die Alte kann mich mal!' Die 'Alte' ist seine Frau und etwa so alt wie meine Mutter, also in den besten Jahren. Und meine Mutter redet niemand mit 'alte Frau' an. Im Gegenteil! Ständig höre ich: Junge Frau hier, junge Frau da . . . Ja was ist sie denn nun? Alt, jung oder beides?“
„Anscheinend gibt es solche alt-jungen Frauen tatsächlich. Mein Vater kennt eine Dame, die er eine alte Jungfer nennt. Ist sie nun alt oder jung oder was? Leider hat er sie noch nie zum Tee eingeladen, aus welchem Grund auch immer. Also bin ich, was ihr Aussehen betrifft, auf Vermutungen angewiesen.“
„Manchmal sagt meine Mutter: 'Hmm . . . Ich glaube, langsam werde ich alt.' Dann seufzt sie schwer. Einmal wollte ich sie trösten und flötete: 'Mama, so alt wie Oma siehst du noch lange nicht aus!' Na da hättest du mal Mäuschen spielen sollen! Nicht wegen Mama, sondern wegen Oma! Die war nämlich gerade zu Besuch und hörte mit. Hätte nie gedacht, dass ein harmloses Wort solch ein Stimmungstöter sein kann. Dabei spricht Oma von sich doch immer als von einer älteren Frau. Und ist nicht älter eine Steigerung von alt? Ungereimtheiten, nichts als Ungereimtheiten. . . Ich weiß immer noch nicht, was daran falsch war. Habe mich deshalb entschlossen, auch noch das Wort 'alt' mit seinen Steigerungsformen aus meinem Sprachschatz zu streichen. Es stiftet doch nur unnötige Verwirrung. Werde stattdessen 'reif' benutzen. Eine reife Birne ist ja auch eine ältere, wenn nicht sogar eine alte Birne.“
„Martha! Das würde ich mir gut überlegen! Mein Vater sagte noch gestern: 'Die sind mal wieder reif für eine Abreibung!' Er meinte irgendeinen gegnerischen Fußballclub. Dann wäre ein Satz wie: 'Mama, so reif wie Oma bist du noch lange nicht!', auch wieder nicht die erste Wahl.“
„Oha! Da hätte ich mich beinahe wieder in die Nesseln gesetzt! Danke, Doro, danke! Auch dem Wort 'reif' kann man also nicht mehr vertrauen.“
„Offensichtlich nicht. Und was hast du gegen 'dick' einzuwenden? Trifft doch an sich den Nagel auf den Kopf.“
„Ich? Gar nichts, aber die dicke Erna, eine Freundin meiner Mutter. Immer, wenn ich Erna sehe, muss ich lachen. Diese Figur, eine Riesenbirne auf zwei Beinen! Und der Hintern erst! Ein Universum für sich! Alles Übrige ist auch nicht gerade schmal. Als 'uns' Erna vor Jahren zum ersten Mal besuchte, rief ich: 'Pooo, bist du aber dick!' Daraufhin biss sie die Zähne zusammen und sagte den ganzen Abend kein Wort mehr.
Seitdem rümpft Erna angeekelt die Nase, wenn sie mich sieht, so, als röche ich schlecht. Pah! Dabei habe ich doch nur wiederholt, was Mama vorher sagte, nämlich, dass sie und Erna zwei dicke Freundinnen seien, und mein Vater verkündete keine Stunde später, er habe da einen ganz dicken Fisch an der Angel. Ja Herrgottnochmal! Nun habe ich mir schon abgewöhnt, Mamas Freundinnen scharfe Nummern, komische Schrullen, krumme Hexen, dumme Kühe, dreckige Schlampen und so weiter zu nennen. Darf ich jetzt eine Frau auch nicht mehr komische Schrulle nennen, wenn sie aussieht wie ´ne Vogelscheuche, und dick, wenn sie n ´nen Umfang hat wie ´n Sauerkrautfass? Und alt, wenn die Falten in ihrem Gesicht zahlreicher sind wie bei ´ner gerefften Tüllgardine? Was bleibt denn da an Bezeichnungen noch übrig, ohne dass man sich gleich die Zunge verbrennt?“
„Tja, so gesehen ist das natürlich ein Problem. Allmählich verstehe ich dich.“
„Danke. Es wird darauf hinauslaufen, dass ich meinen so genannten Wortschatz noch weiter einschränken muss, auch auf die Gefahr hin, dass dann kaum noch etwas von dem übrig bleibt, was man gemeinhin Umgangssprache nennt. Meine Wörter werden keinerlei Nebenbedeutungen haben, und sie dürfen weder Juckreiz noch schlechten Mundgeruch erzeugen. Zum Beispiel süß oder salzig oder Sahne. Werde also sagen: 'Mama, so süß wie Oma siehst du noch lange nicht aus, zu meinem Vater: Hast du wieder ´nen salzigen Fisch an der Angel?, und zu Erna: 'Bist du aber Sahne!'“
„Vorsicht! Sahne kann dick machen!“
„Scheiße! Dann sag ich eben überhaupt nichts mehr. Soll´n sie mich doch zum Sprachheiltherapeuten schicken oder gleich in die Psychiatrie stecken! Alles noch besser als dieser ständige Juckreiz.“
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Rotkehlchen,

den Anfang fand' ich richtig gut - tolle Idee und gute Dialoge - aber dann - spätestens ab dem gefallenen Mädchen - wo Martha selbst 'sich ein Herz fasst' - bricht da etwas auf und dann war ich raus. Ich glaube auch, dass der Text zu lang ist bis zur wenig überraschenden Schlusspointe. Und ich frage mich auch, ob eine 'echte' Allergikerin 'Scheiße' sagen würde?

Liebe Grüße
Petra
 

rotkehlchen

Mitglied
Hallo Petra,
vielen Dank für dei Feedback. Ich werde mir deine Kritik zu Herzen nehmen und demnächst eine gekürzte Fassung einstellen. Warum allerdinds eine Allergikerin nicht Scheiße sagen darf erschließt sich mir nicht, wo es neuerdings sogar ein dt. Spitzenpolitiker auf offener Bühne tat.

Liebe Grüße
Rotkehlchen
 

petrasmiles

Mitglied
Warum allerdinds eine Allergikerin nicht Scheiße sagen darf erschließt sich mir nicht, wo es neuerdings sogar ein dt. Spitzenpolitiker auf offener Bühne tat.
Das hat nichts mit 'das sagt man nicht' zu tun, sondern ich sehe Deine Martha als 'Sprachliebhaberin', jemand, der genau überlegt, was er sagt, und ob es nicht ein Wort geben könnte, das noch genauer trifft, was sie sagen will. 'Scheiße' ist sprachlich ein Wort der Resignation - es fällt einem nichts anderes ein - und das sehe ich bei Martha nicht.

Liebe Grüße
Petra
 

rotkehlchen

Mitglied
Die Wortallergikerin
2. Fassung

„Mensch Martha! Lange nicht gesehen! Wie geht’s denn so?“
„Schlecht.“
„Ach! Sieht man dir gar nicht an! Wo brennt´s denn?“
„Meine Wortallergie wird immer schlimmer.“
„Deine was?“
„Meine Wortallergie.“
„Nie gehört! Und wie macht sich diese Allergie bemerkbar?“
„Wenn du mir ein Eis spendierst erzähl ich´s dir.“

„Doro, Erinnerst du dich noch an den Jörgi aus der 13A? – Genau der! Neulich traf ich ihn zufällig in der Stadt und da erzählte er mir, er habe vor einem
halben Jahr sein Herz verloren und gedenke, demnächst zu heiraten. Ohne zu überlegen rief ich: 'Oh, das ist ja entsetzlich! Warst du schon auf dem Fundbüro?' Doro, lach nicht! Ich weiß selbst, wie dämlich diese Bemerkung war. Was mich dazu bewog war einzig die Tatsache, dass man sein Herz nicht verlieren kann. Ich hab schon alles Mögliche verloren, aber mein Herz noch nie. Ich meine, eine Fahrkarte, gut, die kann man schon mal verl–“ „Du hast wirklich gesagt, er soll zum Fundbüro gehen?“
„Natürlich!“
„Und wie hat er reagiert?“
„Er fragte, ob ich noch ganz dicht ihm Kopf sei.“
„Und was hast du geantwortet?“
„Die Wahrheit, Doro, die Wahrheit! Dass ich Wortallergikerin bin und mich eine ungeschickte Wortwahl krank macht.“
„Hmm . . . Ich nehme mal zu seinen Gunsten an, Jörgi hat nur das falsche Wort erwischt. Wer kennt sich denn in der deutschen Sprache schon richtig aus! Ich überlegte, ob er vielleicht sagen wollte. He, sie haben mir mein Herz herausoperiert und durch ein Spenderherz ersetzt.“
„Schon möglich. Aber wieso musste er er dann gleich heiraten? Er weiß doch gar nicht, wie lange sein neues Herz durchhält.“
„Tja.“
„Vielleicht hat es der Jörgi ja verlegt, das Herz? Hast du daran schon mal gedacht? Wird auch gerne benutzt, das Wort, wenn man etwas vermisst und nicht weiß, wo es gerade ist.“
„Aber natürlich, Doro, natürlich! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Das wird es sein! Er hat es verlegt, sein Herz! Ha, willst du mich auf den Arm nehmen?“
„Nein. Ich denke nur: Was verlegen die Leute auch nicht alles! Mein Vater zum Beispiel ist einer der größten Verleger aller Zeiten, wie man so sagt. Nicht nur wegen seines Bierverlags. Meistens verlegt er auch noch seinen Autoschlüssel. Dann rennt er wie ein Besessener durch die Wohnung, sucht hier, sucht da, schreit: 'Eben war er doch noch da!' und: 'Doro, hast du zufällig meinen Autoschlüssel gesehen? Hab ihn wohl verlegt! Und meine Flasche Bier ist auch weg'! Ich schau mir die Komödie eine Weile an, dann sag ich: 'Mensch Papa, hast du nicht vorhin ein Bier in den Kühlschrank gestellt?' Und rums!, da liegt er, der Schlüssel! Im Kühlschrank! Neben der Bierflasche. Dann steht mein Herr Übervater verlegen grinsend da und brummt: 'Teufel auch, darauf wär ich nie gekommen!'“
„Hmm . . . Sag mal, Doro, du bist in der Zwischenzeit ganz schön füllig geworden. Das viele Eis, wie?“
„Na gut, ein paar Gramm könnte ich schon abnehmen – hallo, Martha, ist dir nicht gut? Du zitterst ja wie Espenlaub!“
„Geht schon, kommt vom abnehmen.“
„Wie, du auch? Bei deiner Figur –“
„Quatsch nicht! Ich meine das Wort 'abnehmen'. Birrr . . . Könnte aus der Haut fahren!“
„Aber wieso denn? Was ist denn an dem Wort so schlimm?“
„Schlimm? Ein Unwort ist es! Was willst du dir denn abnehmen? Die Fettringe etwa? Da kann ich nur lachen! Natürlich. Ständig wird den Leuten etwas abgenommen, von der Polizei, vom Finanzamt, im Behördenzentrum, im Krankenhaus, auf dem Flohmarkt, am einarmigen Banditen – man glaubt ja gar nicht, wo und was alles abgenommen wird und wofür es alles Abnehmer gibt. Meine Mutter will sogar beim Nähen Abnehmer entdeckt haben. Aber eine Behörde nimmt nichts ab! Sie zieht ein, beschlagnahmt, stellt sicher, konfisziert. Nein nein nein, auch 'abnehmen' trifft´s nicht. Zu vieldeutig, und schwierig, schwierig! Hab schon wieder diesen ekligen Juckreiz, allein vom daran Denken.“
„Dann ziehe ich eben den Bauch ein. Wär es so recht?“
„Mann! Hörst du überhaupt zu? Ich sagte doch eben: Einziehen kann nur ein Amt, eine Behörde. Der Vorteil beim behördlichen Einziehen ist immerhin, dass man sicher kann, dass der konfiszierte Gegenstand irgendwo aufbewahrt wird und man ihn gegebenenfalls wiederbekommt. Aber wo würdest du deine Fettringe denn aufbewahren? Im Kühlschrank etwa? Und, willst du sie wirklich wiederhaben? Na siehst du! Meine Schwester, die Meike – hast du sie eigentlich mal kennengelernt? Egal. Die will ständig – in Anführungsstriche – abnehmen, aber sie schafft es einfach nicht. ,Ich muss unbedingt abnehmen', röhrt sie, 'wenn das so weiter geht, seh ich in zehn Jahren aus wie die dicke Erna!' Ich wollte sie trösten und sagte: 'Was willst du denn abnehmen? Und wo soll das Zeug dann bleiben?', da keifte sie: 'Halt du dich da raus, du Schlampe!'“
„Ehrlich, Martha, solche fetten Sprüche würden mir auch nicht gefallen.“
„Brrrr – Schon wieder so´n Ekelwort.“
„Was hab ich denn nun schon wieder gesagt?“
„Du sagtest gefallen.“
„Und? Was ist daran so ekel?“
„Na überleg mal.“
„Gefallen . . . gefallen . . . Hmm . . . Ich komm nicht drauf. Klingt doch gut.“
„Klingt überhaupt nicht gut. Einer ist vom Baum gefallen, ein Soldat ist gefallen, ein Mädchen ist gefallen, das könnte dir so gefallen . . . Merkst du nichts? Das Wort lügt wie gedruckt.“
„Mein Gott, Martha, du nimmst das alles zu genau, zu wörtlich! Das sind doch Redensarten!“
„Ja zum Teufel, wie soll ich Wörter denn nehmen, wenn nicht wörtlich? Verlieren, verlegen, abnehmen, gefallen, entsorgen . . . Alles Wörter, denen man nicht trauen kann, und die bei mir allergische Reaktionen hervorrufen. Und das sind beileibe noch nicht alle. Da sind auch noch die Wörter 'alt' und 'gut'. Diese beiden Erzspitzbuben der deutschen Sprache sind für mich das, was für andere Allergiker Katzenhaare sind.“
„Alt und gut? Versteh ich nicht.“
„Wer ist jünger, eine alte oder eine ältere Frau, hä? Wie so hat ein gut Verdienender eine dickere Lohntüte als ein besser Verdienender?“
„Lohntüten gibt’s nicht mehr.“
„Nun werd mal nicht spitzfindig.“
„Da hört sich doch alles auf! Wenn hier jemand spitzfindig ist, dann bist du es doch!“
„Nein. Ich bin nicht spitzfindig, ich höre nur genau hin. Weißt du Doro, manchmal bin ich kurz davor, überhaupt nichts mehr zu sagen. Soll´n sie mich doch zum Sprachheiltherapeuten schicken oder gleich in die Psychiatrie stecken! Alles noch besser als dieser ständige Juckreiz.“
„Da wüsste ich was Besseres.“
„So? Und was?“
„Lies ein gutes Buch! Muss ja nicht gleich Goethes Faust sein. Dann gewinnst du wieder Vertrauen in die Wörter. Möchtest du auch noch ein Eis?“
 



 
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