Heinrich VII
Mitglied
Es war 1968, ich war kurz vor meinem 15. Geburtstag. In der Schule ging schon eine ganze Weile die Meldung um,
dass in der Bahnhofstraße in unserem kleinen Städtchen eine affenscharfe Diskothek aufgemacht hätte.
„Du musst unbedingt mal kommen“, hörte ich andauernd, „alle, außer dir, sind da.“
Na, so was, dachte ich, da werde ich wohl auch mal hingehen.
Die nächsten Wochenenden folgte ich diesem Vorsatz noch nicht. Warum, weiß ich nicht mehr, ist schon so lange her.
Dann, an einem Sonntag Mittag war ich so weit. Ich war nicht gerade ein geübter Diskobesucher. Ehrlich gesagt, war ich bis dato noch nie in einer gewesen. Ich sagte meiner Mutter bescheid. Die nickte und meinte, ich müsse Vater fragen. Er saß im Wohnzimmer und sah sich etwas im Fernsehen an. Er rauchte und sah gespannt auf den Bildschirm, als ich ihn mit einem Räuspern unterbrach.
„So?“, meinte er, als ich ihn ins Bild gesetzt hatte.
Er drehte sich zu mir um und musterte mich von oben bis unten.
„Wenn du am Sonntag weg willst, ziehst du einen Anzug an.“
Ich sah ihn entgeistert an. „Einen Anzug, um in die Disko zu gehen?“
Er nickte.
„Am Sonntag zieht man einen Anzug an, wenn man wo hin geht.“
Zu deiner Zeit vielleicht, dachte ich, aber heute?
„Du kannst wählen: Entweder du ziehst ihn an oder du bleibst zuhause.“
Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und sah wieder auf den Bildschirm.
Ich ging ein Stockwerk höher im Haus, wo mein Zimmer war. Dort schlug ich die Tür hinter mir zu und ließ mich aufs Bett fallen.
„Scheiß Alter“, murmelte ich, „verdammter Spießer.“
Ich hatte einen Plattenspieler im Zimmer stehen, so ein billiges Ding von Neckermann, einen Plattenwechsler.
Ich legte die Single von Jimi Hendrix auf, die ich besaß, Hey Joe. Danach ließ ich mich wieder bäuchlings aufs Bett fallen.
Die Klänge weckten meine Lebensgeister und ließen mich die Sache neu beurteilen. Ich kann wählen, dachte ich.
Also ziehe ich den Anzug an und kann in die Disko gehen, wo all die anderen sind.
Besser ich gehe im Anzug hin, als gar nicht – was sich jedoch noch als fataler Irrtum heraus stellen sollte.
Stroboskop-Licht empfing mich, als ich eintrat. Sehr laute Musik von James Brown. Als ich wieder einigermaßen sehen konnte, fiel mir eine dickliche Frau auf der Tanzfläche auf, die sich wie eine Furie zum Rhythmus des Songs bewegte. Ihr Spitzname war Sex-Machine, wie ich später erfahren sollte. Ich sah mich um und entdeckte meine Nachbarin an der Theke sitzen. Sie wohnte im vierten Stock des Hochhauses, das unserem Haus gegenüber stand. Rita Jäger. Sie lernte in einer Apotheke in der Stadt. Wir hatten hier und da schon mal miteinander geredet. Ein Kerl, den ich nicht kannte, saß neben ihr und redete auf sie ein, indem er die Musik überschrie.
Ich ging weiter. Hinten im Raum gab es eine Tür. Ich öffnete sie und sah den Billardraum vor mir.
An einem der Tische stand der Hans-Peter, der Hubert, die Jutta und die Regina und spielten eine Runde. Sie nahmen mich erst war, als ich auch am Tisch auftauchte.
Alle Vier unterbrachen das Spiel und sahen mich verwundert an. Jutta sagte: „Was hast n du an, Kleiner, willst du in die Kirche?“ Die anderen Drei lachten und sahen mich amüsiert an.
Man sagte Kleiner zu mir, nicht weil ich klein, sondern weil ich nicht auf dem Stand der aktuellen Tatsachen war. Die Haare zu kurz, mit Anzug in die Disko, keine oberverschärften Klamotten und keine Durchsetzung zuhause gegenüber meinen Eltern.
Um von meinem Äußeren abzulenken, fragte ich: „Kann ich eine Runde mit spielen?“
Die Vier lachten. Der Hubert nahm mich beiseite und erklärte mir: „Du gehst jetzt nach Hause und ziehst dir was Anständiges an. Dann kannst du zurück kommen und mit spielen.“ Er hielt mich am Arm fest, als ich weg wollte: "Und wasch dir die Haare, lass sie über die Ohren hängen."
Ich stand da wie Pik Sieben und verstand die Welt nicht mehr. Es gab also auch hier eine Kleiderordnung – wenn sie auch etwas anders ausfiel, als die meiner Eltern. Die Vier ignorierten mich und spielten einfach weiter. Ich war Luft für sie. Im Anzug wollten sie nichts mit mir zu tun haben.
Jahre später ging ich wieder in diese Disko.
Es war immer noch 1968, ich war immer noch knapp 15 Jahre alt und es war immer noch der gleiche Tag und dieselbe Stunde.
Ich sah meine Nachbarin an der Theke sitzen und diesen Kerl, der die Musik überschrie und auf sie einlaberte.
Ich kümmere mich später darum, dachte ich. Ich ging weiter, nach hinten in den Billardraum, wo ich mich zu Hans-Peter, Hubert, Jutta und Regina gesellte. Sie sahen mich erstaunt an: „Wie siehst du denn aus“, fragte Jutta.
Ich zog die Jacke aus und warf sie über einen Stuhl. Dann riss ich mir die Krawatte runter und feuerte sie in eine Ecke.
Danach krempelte ich mir beide Ärmel hoch, kniff Jutta in den Hintern und sagte: „Wir spielen jetzt zu fünft – okay baby.“
Der Hans-Peter kam auf mich zu und wollte mir eine scheuern. Ich machte eine gekonnte Abwehr und stieß ihn mit der flachen Hand vor die Brust. Er taumelte rückwärts und fiel schließlich auf den Hintern. Das beste war sein verwundertes Gesicht. Der „Kleine“ hatte ihn zu Fall gebracht. Der Kleine, der schon seit seinem 9. Lebensjahr im Karateclub trainierte. Es sah so lustig aus, dass alle lachten. Ich ging zu ihm, gab ihm die Hand und half ihm auf.
„Können wir jetzt spielen“, fragte ich.
Später, nach einer weiteren Runde, verabschiedete ich mich. Jutta gab mir einen Kuss auf die Wange.
Sie flüsterte mir ins Ohr: „Kannst dich ruhig mal bei mir blicken lassen, weißt ja, wo ich wohne.“
„Ich komme darauf zurück.“
Im nächsten Moment zog ich meine Jacke an, die Krawatte verschwand in der Hosentasche.
Ich salutierte und verließ den Billardraum.
Meine Nachbarin saß immer noch an der Theke und der Kerl neben ihr laberte immer noch auf sie ein. Sie machte ein verdrießliches Gesicht – also musste ich ihr helfen. Ich ging hin und fasste den Kerl am Arm. „Deine Zeit hier ist um. Trink deinen Becher aus und mach die Fliege.“
Er sah mich an: „Du hast sie wohl nicht alle, zu Zirkusclown. Und dann noch im Anzug.“
„Gut beobachtet“, antwortete ich und packte ihm am Kragen. Ich zog ihn vom Sitz, drehte ihn um und gab ihm einen Arschtritt, so dass er in Richtung Tür taumelte.
Er war klug genug, nicht nochmal zurück zu kommen.
„Darf ich mich setzen?“, fragte ich.
Rita, meine Nachbarin lächelte und nickte.
Ich setzte mich neben sie. „Sorry, dass ich so ungestüm werden musste.“
Rita lächelte wieder: „Ich muss dir danken, dass du mich von dem erlöst hast.“
Ich bestellte zwei Bier.
„Bist du schon 16?“, fragte der Thekenmann.
„Allemal“, antwortete ich im Brustton vollster Überzeugung.
Der Thekenmann glaubte mir natürlich nicht, nickte aber und brachte uns das Gewünschte.
Rita und ich stießen die Gläser gegeneinander und tranken einen guten Schluck.
Im nächsten Moment legte der Discjockey wieder Sex-machine von James Brown auf. Das schien hier permanent zu laufen.
Ich fasste Rita bei der Hand und wir gingen gemeinsam auf die Tanzfläche. Eine dickliche Frau tanzte ebenfalls. Sie ließ anscheinend keine Gelegenheit aus, sich zu diesem Song zu bewegen. Das Stroboskop-Licht raubte mir für einen Moment die Sicht. Als ich wieder sehen konnte, gab ich Rita einen Kuss und dachte dabei auch an Jutta.
Wie das sein kann, fragt man sich jetzt vielleicht, dass ich zwei mal zur selben Zeit in dieselbe Disko gehe?
Sex-machine dröhnt in meinem Kopf. Ich sehe Rita sich neben mir bewegen und ich sehe die dickliche Frau, die wie wild tanzt.
Das Stroboskop-Licht blendet mich erneut für einen Moment.
Es ist - als wäre das alles real.
dass in der Bahnhofstraße in unserem kleinen Städtchen eine affenscharfe Diskothek aufgemacht hätte.
„Du musst unbedingt mal kommen“, hörte ich andauernd, „alle, außer dir, sind da.“
Na, so was, dachte ich, da werde ich wohl auch mal hingehen.
Die nächsten Wochenenden folgte ich diesem Vorsatz noch nicht. Warum, weiß ich nicht mehr, ist schon so lange her.
Dann, an einem Sonntag Mittag war ich so weit. Ich war nicht gerade ein geübter Diskobesucher. Ehrlich gesagt, war ich bis dato noch nie in einer gewesen. Ich sagte meiner Mutter bescheid. Die nickte und meinte, ich müsse Vater fragen. Er saß im Wohnzimmer und sah sich etwas im Fernsehen an. Er rauchte und sah gespannt auf den Bildschirm, als ich ihn mit einem Räuspern unterbrach.
„So?“, meinte er, als ich ihn ins Bild gesetzt hatte.
Er drehte sich zu mir um und musterte mich von oben bis unten.
„Wenn du am Sonntag weg willst, ziehst du einen Anzug an.“
Ich sah ihn entgeistert an. „Einen Anzug, um in die Disko zu gehen?“
Er nickte.
„Am Sonntag zieht man einen Anzug an, wenn man wo hin geht.“
Zu deiner Zeit vielleicht, dachte ich, aber heute?
„Du kannst wählen: Entweder du ziehst ihn an oder du bleibst zuhause.“
Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und sah wieder auf den Bildschirm.
Ich ging ein Stockwerk höher im Haus, wo mein Zimmer war. Dort schlug ich die Tür hinter mir zu und ließ mich aufs Bett fallen.
„Scheiß Alter“, murmelte ich, „verdammter Spießer.“
Ich hatte einen Plattenspieler im Zimmer stehen, so ein billiges Ding von Neckermann, einen Plattenwechsler.
Ich legte die Single von Jimi Hendrix auf, die ich besaß, Hey Joe. Danach ließ ich mich wieder bäuchlings aufs Bett fallen.
Die Klänge weckten meine Lebensgeister und ließen mich die Sache neu beurteilen. Ich kann wählen, dachte ich.
Also ziehe ich den Anzug an und kann in die Disko gehen, wo all die anderen sind.
Besser ich gehe im Anzug hin, als gar nicht – was sich jedoch noch als fataler Irrtum heraus stellen sollte.
Stroboskop-Licht empfing mich, als ich eintrat. Sehr laute Musik von James Brown. Als ich wieder einigermaßen sehen konnte, fiel mir eine dickliche Frau auf der Tanzfläche auf, die sich wie eine Furie zum Rhythmus des Songs bewegte. Ihr Spitzname war Sex-Machine, wie ich später erfahren sollte. Ich sah mich um und entdeckte meine Nachbarin an der Theke sitzen. Sie wohnte im vierten Stock des Hochhauses, das unserem Haus gegenüber stand. Rita Jäger. Sie lernte in einer Apotheke in der Stadt. Wir hatten hier und da schon mal miteinander geredet. Ein Kerl, den ich nicht kannte, saß neben ihr und redete auf sie ein, indem er die Musik überschrie.
Ich ging weiter. Hinten im Raum gab es eine Tür. Ich öffnete sie und sah den Billardraum vor mir.
An einem der Tische stand der Hans-Peter, der Hubert, die Jutta und die Regina und spielten eine Runde. Sie nahmen mich erst war, als ich auch am Tisch auftauchte.
Alle Vier unterbrachen das Spiel und sahen mich verwundert an. Jutta sagte: „Was hast n du an, Kleiner, willst du in die Kirche?“ Die anderen Drei lachten und sahen mich amüsiert an.
Man sagte Kleiner zu mir, nicht weil ich klein, sondern weil ich nicht auf dem Stand der aktuellen Tatsachen war. Die Haare zu kurz, mit Anzug in die Disko, keine oberverschärften Klamotten und keine Durchsetzung zuhause gegenüber meinen Eltern.
Um von meinem Äußeren abzulenken, fragte ich: „Kann ich eine Runde mit spielen?“
Die Vier lachten. Der Hubert nahm mich beiseite und erklärte mir: „Du gehst jetzt nach Hause und ziehst dir was Anständiges an. Dann kannst du zurück kommen und mit spielen.“ Er hielt mich am Arm fest, als ich weg wollte: "Und wasch dir die Haare, lass sie über die Ohren hängen."
Ich stand da wie Pik Sieben und verstand die Welt nicht mehr. Es gab also auch hier eine Kleiderordnung – wenn sie auch etwas anders ausfiel, als die meiner Eltern. Die Vier ignorierten mich und spielten einfach weiter. Ich war Luft für sie. Im Anzug wollten sie nichts mit mir zu tun haben.
Jahre später ging ich wieder in diese Disko.
Es war immer noch 1968, ich war immer noch knapp 15 Jahre alt und es war immer noch der gleiche Tag und dieselbe Stunde.
Ich sah meine Nachbarin an der Theke sitzen und diesen Kerl, der die Musik überschrie und auf sie einlaberte.
Ich kümmere mich später darum, dachte ich. Ich ging weiter, nach hinten in den Billardraum, wo ich mich zu Hans-Peter, Hubert, Jutta und Regina gesellte. Sie sahen mich erstaunt an: „Wie siehst du denn aus“, fragte Jutta.
Ich zog die Jacke aus und warf sie über einen Stuhl. Dann riss ich mir die Krawatte runter und feuerte sie in eine Ecke.
Danach krempelte ich mir beide Ärmel hoch, kniff Jutta in den Hintern und sagte: „Wir spielen jetzt zu fünft – okay baby.“
Der Hans-Peter kam auf mich zu und wollte mir eine scheuern. Ich machte eine gekonnte Abwehr und stieß ihn mit der flachen Hand vor die Brust. Er taumelte rückwärts und fiel schließlich auf den Hintern. Das beste war sein verwundertes Gesicht. Der „Kleine“ hatte ihn zu Fall gebracht. Der Kleine, der schon seit seinem 9. Lebensjahr im Karateclub trainierte. Es sah so lustig aus, dass alle lachten. Ich ging zu ihm, gab ihm die Hand und half ihm auf.
„Können wir jetzt spielen“, fragte ich.
Später, nach einer weiteren Runde, verabschiedete ich mich. Jutta gab mir einen Kuss auf die Wange.
Sie flüsterte mir ins Ohr: „Kannst dich ruhig mal bei mir blicken lassen, weißt ja, wo ich wohne.“
„Ich komme darauf zurück.“
Im nächsten Moment zog ich meine Jacke an, die Krawatte verschwand in der Hosentasche.
Ich salutierte und verließ den Billardraum.
Meine Nachbarin saß immer noch an der Theke und der Kerl neben ihr laberte immer noch auf sie ein. Sie machte ein verdrießliches Gesicht – also musste ich ihr helfen. Ich ging hin und fasste den Kerl am Arm. „Deine Zeit hier ist um. Trink deinen Becher aus und mach die Fliege.“
Er sah mich an: „Du hast sie wohl nicht alle, zu Zirkusclown. Und dann noch im Anzug.“
„Gut beobachtet“, antwortete ich und packte ihm am Kragen. Ich zog ihn vom Sitz, drehte ihn um und gab ihm einen Arschtritt, so dass er in Richtung Tür taumelte.
Er war klug genug, nicht nochmal zurück zu kommen.
„Darf ich mich setzen?“, fragte ich.
Rita, meine Nachbarin lächelte und nickte.
Ich setzte mich neben sie. „Sorry, dass ich so ungestüm werden musste.“
Rita lächelte wieder: „Ich muss dir danken, dass du mich von dem erlöst hast.“
Ich bestellte zwei Bier.
„Bist du schon 16?“, fragte der Thekenmann.
„Allemal“, antwortete ich im Brustton vollster Überzeugung.
Der Thekenmann glaubte mir natürlich nicht, nickte aber und brachte uns das Gewünschte.
Rita und ich stießen die Gläser gegeneinander und tranken einen guten Schluck.
Im nächsten Moment legte der Discjockey wieder Sex-machine von James Brown auf. Das schien hier permanent zu laufen.
Ich fasste Rita bei der Hand und wir gingen gemeinsam auf die Tanzfläche. Eine dickliche Frau tanzte ebenfalls. Sie ließ anscheinend keine Gelegenheit aus, sich zu diesem Song zu bewegen. Das Stroboskop-Licht raubte mir für einen Moment die Sicht. Als ich wieder sehen konnte, gab ich Rita einen Kuss und dachte dabei auch an Jutta.
Wie das sein kann, fragt man sich jetzt vielleicht, dass ich zwei mal zur selben Zeit in dieselbe Disko gehe?
Sex-machine dröhnt in meinem Kopf. Ich sehe Rita sich neben mir bewegen und ich sehe die dickliche Frau, die wie wild tanzt.
Das Stroboskop-Licht blendet mich erneut für einen Moment.
Es ist - als wäre das alles real.
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