Hallo Ubertas,
ich bin ein bisschen zwiegespalten bei der Bewertung deines Gedichtes. Zum einen möchte ich den Inhalt und die Botschaft loben. Zum anderen bin ich mir nicht sicher, ob seine Metaphorik funktioniert. Nun, schauen wir mal genauer hin.
Meiner Lesart nach handelt das Gedicht vom Umgang der Gemeinschaft mit Störern, schwarzen Schafen, Querdenkern sozusagen.
Dabei beginnt der Text in der ersten Strophe mit einem "Du" im Kindes- und Schulalter. Diesem Kind wird das Eigene, die Wehrhaftigkeit, das Ungestüme und Unangenehme aberzogen, damit es später (wenn es
blüht), der Gruppe (dem "wir") angepasst ist. So könnte man das
Blatt, aus dem
Stacheln und
Dornen entfernt werden, auch als Papier deuten, auf welchem der Schüler z.B. einen Aufsatz mit seiner eigenen Meinung schreibt, die dann aber vom Lehrer durch richtig- und falsch Kategorisierungen zur Anpassung gezwungen wird. Das Kind wird somit zur Bravheit erzogen und die mögliche Blüte wird nicht wild, sondern im Sinne der Norm kultiviert und vorgefertigt schön ausfallen.
Der geneigte Leser wird an dieser Stelle aber darüber nachdenken müssen, ob dem Ideal unberührter Freiheit, welches dem Gedicht zu Grunde zu liegen scheint, nicht die praktische Frage der Notwendigkeit des
Stacheln und
Dornen Entfernens gegenübersteht. So hat ja schon 1939 Norbert Elias in seinem Buch
Über den Prozeß der Zivilisation beschrieben, dass der Weg in moderne Gesellschaften auch als ein Prozess zunehmender Affektkontrolle zu verstehen ist. Darauf zu verzichten hieße also möglicherweise auch, zivilisatorisch zurückzuschreiten vielleicht bis zu einem Recht des Stärkeren, wenn man es zu Ende denkt. Es bleibt also wohl eine Frage der Balance und des
Wies des Grenzensetzens: Liebevoll wäre hier natürlich besser als mit Gewalt.
Nun, wenn wir weiter zur zweiten Strophe deines Gedichtes schreiten, dann scheinen die gewalttätigen Methoden aus Strophe 1 nicht funktioniert zu haben: Das Schaf blieb schwarz, also wird es jetzt ignoriert. Das Blattwerk sozusagen, also das grüne, das Lebendige, das Sichtbare, wird von der Gruppe nicht akzeptiert. Die Blüte muss konform blühen, damit sie in die Vase passt. Und weil sie nicht passt, wird sie passend gemacht.
Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt...
Bis hierhin trägt das Gedicht das klassische Motiv der Freiheit in repressiven Erziehungskonstellationen in sich, ich muss auch an Filme denken wie natürlich den
Club der toten Dichter, aber auch andere oder Bücher wie Lenz'
Deutschstunde oder Hesses
Unterm Rad. Aber der Clou in deinem Gedicht liegt im Gegensatz zu diesen Werken darin, dass dein Text aus der Perspektive der Unterdrücker geschrieben wurde, nicht aus der des rebellischen Individuums. Und dabei oder besser gesagt genau dadurch gelingt es dem Gedicht sehr stark, dem geneigten Leser Sympathie empfinden zu lassen für das in seiner Lebendigkeit eingeschränkte Individuum, und gleichzeitig zeigt es auch die Verursacher dieses Leids, ja, es gibt der Gruppe eine Schuld.
Und diese Schuld wird in den letzten beiden Versen des Gedichtes ganz und gar deutlich. Denn hier schließt sich der Kreis. Das Kind, der Jugendliche, ausgestattet von Geburt an mit
Eigenem, wurde mit Gewalt dessen beraubt, wurde sozusagen zwangskultiviert, brav gemacht, zum Stillsein erzogen. Aber man kann dieses Eigene nicht töten, man kann es nur unterdrücken und es wird sich melden, verschiedenartig durch Krankheit, Gewalt vielleicht, Absonderung und es gibt ja so viele Spielarten davon. Und die Gruppe derer, die überhaupt dafür verantwortlich ist, fragt nun nicht nach, sie begreift nicht, dass sie es waren, vor der sich die unterdrückte Person schützen musste und macht ihr nun noch Vorwürfe ob ihres Verhaltens. Das schwarze Schaf, der Querulant, der Querdenker wird nun als solcher charakterisiert und ihm die Schuld für sein "schlechtes" Verhalten zugeschoben - dabei ist es nur Symptom, eine Reaktion auf systemimmanentes menschliches Versagen, ein Lebenszeichen des Eigenen, des Lebendigen. Und dass dein Gedicht dieses Verständnis deutlich macht, ist seine große Stärke, sein Verdienst.
In diesem Sinne finde ich dein Gedicht bemerkenswert und beitragend zum Verständnis menschlichen "Fehlverhaltens". Eingangs erwähnte ich aber auch, dass ich etwas im Zwiespalt bin, und zwar bezieht sich mein Unbehagen auf die Metaphorik des Gedichtes. Diese speist sich ja aus dem Bild des Menschen als Pflanze, und ich finde dies in der vorliegenden Form nicht vollständig stimmig. Zwar kann man die Metaphern sehr gut deuten und versteht auch ihren tieferliegenden Sinn, aber sie funktionieren meiner Ansicht nach nicht organisch. Wenn es also z.B. heißt:
Wir haben über dich gesprochen.
Aus deinem Blatt
Stacheln und Dornen entfernt,
dann muss ich mir sozusagen den Menschen als Pflanze vorstellen, damit ich dem Sinn des Gedichtes weiterfolgen kann. In diesem Sinne wäre statt der Metapher als Stilmittel für mich eigentlich der Vergleich angezeigter, also so:
Wir haben über dich gesprochen.
wie von einem Blatt
aus dem wir Stacheln und Dornen entfernt haben
Das ist aber ausdrücklich kein Änderungsvorschlag, denn obwohl deine Variante mir diesen Zwiespalt bescherte, ist sie doch tausendmal besser als dieser umständliche Vergleich. Aber wenn du mein Problem verstehst, taugt meine Erwähnung desselben vielleicht als Denkanstoß bei einem nächsten Gedicht.
Nun, insgesamt habe ich dein Gedicht sehr gern gelesen. Es hat mich berührt und trägt eine sehr menschliche und wichtige Botschaft mit sich.
Liebe Grüße
Frodomir